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„Jan-Erik wollte unbedingt einen Wintergarten bauen“, nahm Jule das Gespräch auf. „Davon träumte er, seit wir die Pension eröffnet hatten. Er hatte die Zeichnung angefertigt und Angebote verschiedener Firmen eingeholt.“ Jule seufzte tief. „Leider kam er nicht mehr dazu, seine Pläne zu verwirklichen.“
Pauline spürte, wie schwer es Jule fiel, über dieses Thema zu sprechen, und bedauerte, davon angefangen zu haben. Wieso hatte Jule nie am Telefon von diesen Plänen gesprochen?
„Ich wollte – ich musste Jan-Eriks Traum verwirklichen.“ Eindringlich sah Jule zu Pauline. „Verstehst du das?“ Pauline beugte sich zu Jule hinüber und tätschelte deren Arm. „Natürlich verstehe ich das.“
Jule wandte ihren Blick von Pauline ab und sah hinaus in den Garten. Nein, sie blickte eher in die Ferne, fand Pauline. Irgendwohin, ganz weit weg. Vielleicht dorthin, wo sie Jan-Erik vermutete.
„Die Finanzierung ist mir nicht leichtgefallen. Damals, bei der Beerdigung habe ich ihm aber geschworen, dass ich ihm seinen Traum erfüllen werde. Da konnte ich doch nicht einfach aufgeben, oder? Nur, weil nicht so viel Geld in die Kasse kam, wie ich mir erhofft hatte …“
„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“
Jule zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht wollte ich dich damit nicht belasten. Hab mir über die Gründe nie Gedanken gemacht.“
Pauline konnte Jules Haltung nicht fassen. „Wozu sind wir gute Freundinnen, wenn wir uns unsere Probleme und Sorgen nicht anvertrauen?“
Jule war über Paulines Tonfall sichtlich erschrocken.
„Bitte schimpf nicht mit mir. Das hatte keinen besonderen Grund. Ich stand ziemlich neben mir, als ich so plötzlich alles allein managen musste. Der Sörens, der Mann meiner erkrankten Mitarbeiterin, übernahm die Verhandlungen mit den Firmen. Er ist handwerklich sehr begabt, im Gegensatz zu mir. Ich war sehr froh darüber, dass er mir in der Zeit zur Seite stand, und bin es noch heute. Alle paar Tage ruft er an oder kommt vorbei und fragt nach, ob es etwas auszubessern gibt. Du wirst ihn sicher noch kennenlernen. Er taucht bestimmt in den nächsten Tagen hier auf. Er ist Rentner und ich schätze, ihm ist ziemlich langweilig. Jetzt, wo seine Frau im Krankenhaus liegt, glaubt er sicherlich, dass hier noch mehr zu tun ist. Dabei hatte ich ihm erzählt, dass meine beste Freundin einspringt, solange seine Frau krankgeschrieben ist.“
Obwohl Pauline versuchte, sich in Jule hineinzuversetzen, und darüber nachdachte, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten hätte, verletzte sie Jules Vorgehensweise. Dabei wusste sie, wie schlimm es für Jule gewesen war, als Jan-Erik so plötzlich tot war. Reagierte sie selbst so empfindlich, weil in ihrem Leben momentan alles drunter und drüber ging? Irgendwie befand sie sich gerade in einer ähnlichen Ausnahmesituation wie Jule damals. Ihr Leben war ebenfalls gerade Knall auf Fall zusammengebrochen. Allerdings weilte Ralf noch unter den Lebenden – irgendwie. Für sie war er jedenfalls gestorben. Für immer und ewig. Wenn sich dieser Mistkerl bloß nicht immer in ihre Gedanken schleichen würde. Warum tat er das? Es schien ihm eine geradezu diebische Freude zu bereiten. Pauline verfluchte ihn und wünschte ihn dahin, wo der Pfeffer wächst, und sie wünschte ihm, dass er irgendwann in seinem Leben die gleichen Qualen durchlitt, die er ihr zugefügt hatte.
„Pauline?“
„Ähm … was?“ Pauline schrak aus ihren Gedanken auf.
„Alles in Ordnung? Ich hatte den Eindruck, dass du mit deinen Gedanken weit weg warst.“
„War ich auch. In meinem Kopf herrscht gerade ein ziemliches Durcheinander.“ Sie rümpfte die Nase. „Du kennst den Grund. Mir fiel auf, dass in unser beider Leben von einer auf die andere Sekunde alles zusammengebrochen ist – wenn es bei dir auch bedeutend schlimmer war.“ Pauline nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Jule ihr, ohne dass sie es bemerkt hatte, eingeschenkt haben musste.
„Ich brauche vermutlich noch einige Zeit, bis ich das Thema Ralf innerlich abgearbeitet habe. Mal ehrlich, wie konnte ich auch noch so dämlich sein und meinen Job hinschmeißen?“
„Ja, das war wirklich selten dämlich.“ Jule nahm die Thermoskanne und schenkte ihnen beiden Kaffee nach.
„Warst du noch mal bei deinem Chef?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Nee, das wäre mir zu peinlich gewesen. Es war schon schlimm genug, dass ich dem Typ vom Arbeitsamt erklären musste, wieso ich das gemacht habe. Ich hab auch noch angefangen zu heulen.“
„Ach du Schande. Wie geht’s weiter?“
„Erst einmal bearbeiten sie die Akte. Dann bekomme ich Bescheid, ab wann ich Arbeitslosengeld zu erwarten habe. Vermutlich bekomme ich zwei Monate nichts, hat er gesagt. So was Blödes aber auch.“ Pauline atmete tief durch. „Ich habe übrigens angegeben, dass ich eine Zeit lang hier wohne und sie die Post hierher schicken sollen. Jobangebote bekomme ich natürlich auch. Allerdings muss ich auch selbst auf Arbeitssuche gehen. Aber das ist kein Problem. Meinen Laptop habe ich sowieso dabei.“
„Hoffentlich finden die nicht so schnell eine neue Stelle für dich“, sagte Jule und schlug sich gleich darauf mit der Hand vor die Stirn. „Ich meine, damit ich dich nicht so schnell wieder ziehen lassen muss.“
Pauline grinste. „Ich hab’s schon richtig verstanden. Du willst, dass ich die Saison über hier schufte und du dir nicht noch eine andere Aushilfskraft suchen musst.“
„Genau!“ Jule grinste ebenfalls. „Du hast mich durchschaut. Aber mal ehrlich. Das wäre doch wirklich blöd, wenn du gleich wieder wegmüsstest.“
„Ja, stimmt. Ich habe mich schon darauf eingestellt, für längere Zeit hierzubleiben. Zu Hause würde mir sowieso die Decke auf den Kopf fallen. Hier lerne ich neue Leute kennen, und verdiene ein bisschen Geld. Vielleicht kommt mir hier auch eine Idee für meinen neuen Roman. Meine Lektorin drängelt schon.“
„Das wird schon. Magst du noch Kaffee?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Viel lieber würde ich mit dir einen Spaziergang durch den Ort oder zum Strand machen.“
„Das ist eine gute Idee. Sieh dich um, erneuere deine Eindrücke von der Insel. Aber ich muss passen. Hab noch dringende Büroarbeiten zu erledigen.“
„Schade. Kannst du das nicht verschieben?“
Jule zuckte mit den Schultern, stand auf und räumte das Geschirr auf das Tablett. „Leider nicht. Weil ich Frau Sörens Arbeit mit übernehmen musste, habe ich den Bürokram bis zu deiner Ankunft aufgeschoben. Ich muss ran, bevor sich noch mehr anhäuft. Wir holen den Spaziergang nach, versprochen.“
„Ich nehme dich beim Wort.“ Pauline streckte ihre Glieder und erhob sich ebenfalls. „Sehen wir uns später noch?“
„Na klar, wir essen natürlich zusammen.“ Gemeinsam verließen die Freundinnen den Wintergarten. Jule verschwand mit dem Tablett in der Küche.
Pauline holte ihre Windjacke und die Sonnenbrille aus ihrem Zimmer. Kurz darauf verließ sie das Haus. Vor dem Grundstück blieb sie stehen, unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollte. Zum Strand! Der Ort konnte warten, entschied sie. Gleich am Ende des Dünemwai begann einer der Wege, die durch die Dünen hinunter zum weiten Strand führten. Pauline fühlte sich, als würde der Strand sie wie ein Magnet anziehen. Sie schob ihre Sonnenbrille auf die Nase, fuhr sich durch die Haare und hielt überrascht inne. Mit einem Mal war die Erinnerung an die vergangenen Tage wieder real und damit auch der Schmerz. Sie hätte wissen müssen, dass sie mit einem Haarschnitt und einem Ortswechsel nicht automatisch alles vergessen würde. Pauline kniff ihre Augen zusammen, atmete tief durch und versuchte mit all ihrer Kraft, die Gedanken an Ralf beiseitezuschieben. Das war jedoch nicht so einfach. Immer wieder schlich sich Ralf in ihre Gedanken. Wann würde das endlich aufhören?
Sie konzentrierte sich auf die Umgebung, auf die Dünen aus feinstem Sand, übersät mit Büscheln von Strandhafer. Dieses Naturwunder hatte sie schon bei ihrem ersten Amrumbesuch bestaunt. Auf einmal war sie voller Vorfreude auf den unendlichen Strand und beeilte sich, ihr Ziel zu erreichen. Die Spaziergänger und Radfahrer, die sie auf dem Weg traf, nahm sie kaum wahr. Sie passierte das Naturzentrum, zwei Restaurants und erreichte einen Holzsteg, an dessen Ende eine Treppe zum Strand hinunterführte. Diesen Strandzugang kannte Pauline nicht, er war vermutlich erst nach ihrem vergangenen Aufenthalt gebaut worden. Damals führte ein einfacher Pfad auf den Strand. Auch an die Strandbar, an der sie eben vorbeigegangen war, konnte sie sich nicht erinnern.
Am Ende des Stegs blieb Pauline stehen und schob die Sonnenbrille auf die Stirn. Endlich! Sie ließ den Blick über den in der Sonne gleißenden Sand streifen. Möwen zogen ihre Kreise über dem Strand oder stritten sich mit Austernfischern um appetitliche Happen. Wie bunte Farbkleckse nahm Pauline Strandkörbe, andere Strandbesucher und im Sand buddelnde Kinder wahr. Zwischen Himmel und Strand glitzerte die Nordsee. Segelboote kreuzten am Horizont. Eine Aussicht wie auf Postkarten und viel schöner, als sie es in Erinnerung hatte. Hastig zog sie Schuhe und Strümpfe von den Füßen und krempelte sich die Jeans bis zu den Knien hoch. Sie eilte die Stufen hinunter und stand endlich im Sand. Sie wackelte mit den Zehen und spürte dieses leichte Kitzeln, wenn Sand zwischen den Zehen emporquillt. Hach, das hatte sie vermisst. Nach einem tiefen Atemzug schnappte sich Pauline die Strümpfe und stopfte sie in die Schuhe. Die Schnürbänder knotete sie an der Gürtelschlaufe ihrer Hose fest und rannte laut lachend und mit ausgebreiteten Armen dem Meer entgegen. Erst, als sie bis zu den Waden im Wasser stand, blieb sie stehen. Huch, war das kalt. Dennoch planschte sie mit den Füßen gut gelaunt im Wasser umher. Jules Vorschlag war eindeutig das Beste, was ihr in vergangener Zeit passiert war und Pauline war froh, dass sie sich hatte überreden lassen, hierher zu kommen. Es war einfach traumhaft hier. Langsam watete sie durch die leichte Brandung und allmählich gewöhnten sich ihre Füße an die Wassertemperatur. Ab und an hob sie eine besonders schöne Muschel auf und legte sie in die Schuhe. Es dauerte nicht lange, da quollen die Schuhe fast über mit Herz- und Miesmuscheln. Sogar eine Austernschale hatte sie gefunden. Halt! Schon am ersten Tag war sie prompt ihrer Sammelleidenschaft verfallen. Wenn sie so weitermachte, würde sie für ihre Heimreise ein zusätzliches Gepäckstück für gesammeltes Strandgut einplanen müssen.
Ein paar Hundert Meter weiter ließ sie sich im Sand nieder. Kaum zu glauben, dass sie heute erst angekommen war. Die Anreise schien ewig her zu sein. Dazu der Wetterumschwung. Während es auf der Fähre noch reichlich kühl gewesen war und die Sonne nur ab und an zwischen den Wolken hervorgelugt hatte, hatte sich der Nachmittag zu einem herrlichen Sonnentag entwickelt. Pauline zog die Windjacke aus, breitete sie auf dem Sand aus und legte sich darauf. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Haut heißer wurde und ihr fiel ein, dass sie keine Sonnencreme benutzt hatte. Daran würde sie in Zukunft denken müssen. Um die Haut nicht unnötig zu strapazieren, entschied sich Pauline schweren Herzens, zurückzugehen. Aber sie würde jeden Tag, wenigstens für einen kurzen Moment, den Strand aufsuchen, nahm sie sich vor. Vor dem Strand setzte sie sich auf eine Bank. Die Muscheln füllte Pauline vorsichtig in die Socken, rieb sich den Sand von den Füßen und schlüpfte barfuß in die Schuhe. Der Spaziergang hatte ihr gutgetan und sie fühlte sich fast wie im Urlaub. Was sich in den nächsten Tagen allerdings ändern würde, wie sie vermutete. Denn schließlich war sie nicht zum Faulenzen hergekommen.
Spontan entschied sich Pauline für einen kurzen Bummel durch den Ort. Ein Eis wäre genau das Richtige. Während sie den Strunwai entlang der Ortsmitte zustrebte, kam auch die Erinnerung an ihre vorherigen Aufenthalte zurück. Sie passierte das Kurmittelhaus und die Kurheime, erste Geschäfte und Lokalitäten. Durch die Geschäfte wollte sie ein anderes Mal schlendern und hielt nur am nächstgelegenen Eiscafé an. Genüsslich die Eiskugeln schleckend machte sie sich auf den Weg zu Jule. Die würde sicher schon warten.
3. Kapitel
Pauline wachte am frühen Morgen vom Gekreisch der Möwen auf. Erst halb sechs, stellte sie nach einem Blick auf ihren Wecker fest. Sie konnte also durchaus noch ein paar Minuten liegen bleiben. Jule hatte gesagt, dass sie beim Frühstück vorbereiten nicht helfen brauchte, da an diesem Morgen nur ein Ehepaar im Hause wäre. Allerdings würde sich das in den nächsten Tagen ändern, wenn die Pension für einige Wochen voll belegt war. Pauline lauschte dem Lärm der Möwen. Da kam ihr eine Idee. Eine supergute Idee. Sie stand auf und öffnete beide Fensterflügel ganz weit. Kühle Luft wehte ihr entgegen. Aber das machte nichts. Schnell putzte sie ihre Zähne, zog sich eine Sporthose und ein Sweatshirt an und schlüpfte in Socken und Sportschuhe. Eine Runde zu joggen vor dem Frühstück, das wäre doch mal ein sportlicher Start in den Tag, der außerdem ihrer Figur guttun würde. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen Blick in die Küche. Niemand zu sehen. Auch gut. Die Gäste standen vermutlich nicht so früh auf.
Erstaunt registrierte Pauline, dass sie nicht die Einzige war, die so früh schon ihre Runde drehte. Mit einem mürrischem „Moin“ grüßte ein älterer Mann, der ihr schweißüberströmt auf dem Dünenweg entgegenkam. Fröhlich erwiderte Pauline den Gruß. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie um diese Uhrzeit, zu der sie sich sonst noch einmal umdrehte und eine Runde weiterschlief, so blendender Laune war. Ob es an der Luftveränderung lag?
Eine halbe Stunde später schleppte sich Pauline verschwitzt und nach Luft schnappend in die Küche und schreckte damit Jule auf, die gerade Kaffeepulver in die Maschine häufte.
„Huch, hast du mich erschreckt! Wer hat dich denn so früh aus dem Bett geschmissen?“ Jule musterte Pauline und zog mit erstauntem Blick eine Augenbraue empor.
„Du joggst?“
„Kann ich … was trinken?“ Pauline japste immer noch.
„Ein Wasser vielleicht?“
„Klar, nimm dir ein Glas aus dem Schrank über der Spüle. Das Mineralwasser steht neben dem Kühlschrank.“ Erst, nachdem sie zwei Gläser auf ex geleert hatte, konnte Pauline Jule Rede und Antwort stehen. „Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich meine Sportschuhe ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt habe.“ Sie verzog das Gesicht und wischte sich mit einem Zipfel ihres Ärmels den Schweiß von der Stirn. „Weiß auch nicht, wie ich dieser wahnwitzigen Idee verfallen konnte. Ich hasse Sport.“
Jule lachte. „So kenne ich dich. Ich hab mir grad schon Sorgen gemacht.“
„Ich werde meinen inneren Schweinehund überwinden und regelmäßig joggen gehen. Hab ich mir fest vorgenommen.“
„Wart mal bis morgen. Wenn der Muskelkater kommt, überlegst du es dir bestimmt noch mal.“ Jules Gesicht drückte Zweifel aus.
Pauline stellte ihr Glas ins Spülbecken. „Ich tu es! Wirst schon sehen. Ich geh mal fix duschen.“
„Tu das. Hast du dir verdient.“
Jules Lachen klang noch in Paulines Ohren, als sie sich schon die Hälfte der Treppe empor geschleppt hatte. Schon jetzt taten die Beine so weh, als würden schwere Gewichte an ihnen hängen. Vielleicht hatte sie es ein bisschen übertrieben. Aber es hatte so viel Spaß gemacht über den Dünenweg zu traben, dass sie gar nicht über mögliche Konsequenzen nachgedacht hatte.
Bis zum Mittag hatte Pauline das einzige belegte Gästezimmer ausgiebig und mehr als gründlich geputzt und den Rest des Tages frei. Den wollte sie für ihre andere Arbeit nutzen. So weit die Theorie. Sie saß in ihrem Zimmer vor dem Laptop und hatte immerhin schon einen Ordner mit dem Namen „Neuer Roman“ angelegt und entschieden, dass Amrum der Haupthandlungsort sein sollte. Die Insel erschien ihr perfekt für einen Liebesroman. Damit endete ihre Kreativität auch schon. Pauline seufzte. Warum fiel es ihr dieses Mal so verdammt schwer, sich eine gute Geschichte auszudenken? Nach einigen Minuten, in denen sie den Bildschirm ihres Laptops angestarrt hatte, fuhr sie ihn herunter. Es hatte keinen Zweck, hier sitzen zu bleiben. Sie musste einen anderen Weg finden. Vielleicht sollte sie in den Ort gehen, sich irgendwo hinsetzen und die Leute beobachten. Ja, das war eine gute Idee. Pauline schnappte sich ihre Handtasche und die Jacke, die an einem Garderobenhaken neben der Tür hing, und verließ ihr Zimmer. Ganz behutsam schlich sie die Treppe hinunter. Der blöde Muskelkater machte sich jetzt schon bemerkbar.
Bloß gut, dass Jule nicht sehen konnte, wie sie die Strecke bis zur Ortsmitte entlang schlich. Sie hätte sich bestimmt darüber lustig gemacht. Unterwegs kam Pauline die Idee, sich einen Reiseführer von Amrum zu kaufen. Den konnte sie nutzen, wenn sie wieder in Hameln war und die Orte des Geschehens nicht mal eben persönlich aufsuchen konnte. Wenig später betrat Pauline die Norddorfer Buchhandlung und spürte sofort wieder dieses sonderbare Gefühl, das sie immer überkam, wenn sich unzählige Bücher um sie herum stapelten. Bücher zogen sie magisch an und sie liebte es, stundenlang in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern. Einen Inselführer hatte Pauline schnell gefunden. Bevor sie zur Kasse ging, schlenderte sie von einem Buchregal zum nächsten und sah sich um. Vor dem Regal mit Frauenunterhaltungsromanen blieb sie besonders lange stehen und studierte sämtliche Titel. Ob es hier auch Bücher von Lynn Berger gab? Tatsächlich, da standen sie. Paulines Herz flatterte plötzlich aufgeregt.
Sie bemerkte flüchtig eine Bewegung links neben sich.
„Entschuldigung. Darf ich Sie kurz stören?“, hörte sie im gleichen Augenblick eine männliche Stimme. Sie blickte sich um. Der Mann neben ihr machte einen ziemlich hilflosen Eindruck.
„Ja, bitte?“ Meine Güte, sah der gut aus. Groß, schlank, braun gebrannt, blonde Lockenmähne. Irgendwie verkörperte er das Image eines Surfers, fand Pauline.
„Ähm … ich suche einen Frauenroman. Nicht für mich …“, er zwinkerte Pauline zu, „… sondern für eine junge Dame, Mitte zwanzig.“
„Aha.“ Für seine Frau oder Freundin vermutlich. Wieso waren die süßesten Typen eigentlich entweder gebunden oder schwul? Na ja, egal. Sie hatte sowieso die Nase voll von Männern.
„Ich habe keine Ahnung, was ich nehmen soll“, sagte er entschuldigend.
„Liest die Dame eher moderne Romane oder historische? Vielleicht was Leidenschaftliches?“
Der Blondgelockte zuckte wieder hilflos mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste.“
Na, vielleicht hätte er mal in das Bücherregal besagter Dame sehen sollen. Sollte sie ihm vielleicht … Nee, doch … Das wäre die Chance. Nach kurzem Zögern ergriff Pauline die Gelegenheit. „Nächte voller Leidenschaft und Chris und die Liebe von Lynn Berger kann ich Ihnen sehr empfehlen.“
„Kennen Sie die?“
„Ja. Ich kenne sie in- und auswendig.“ Pauline versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. Was gar nicht so einfach war, denn das Herz hämmerte in ihrer Brust und ihre Wangen brannten. Sicherlich hatte sie wieder diese hektischen roten Flecke am Hals, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Aber das konnte sie nicht ändern. Wann hatte man schon die Gelegenheit, die eigenen Bücher zu empfehlen, ohne dass die Person gegenüber ahnte, vor der Autorin höchstpersönlich zu stehen. Pauline zog beide Romane aus dem Regal und hielt sie ihrem Gegenüber hin.
Er griff sich die Bücher, warf einen Blick auf die Klappentexte und nickte Pauline zu. „Danke für Ihren Tipp. Ich nehme beide.“
„Gute Wahl.“ Na, wenn das kein erfolgreicher Tag war. Verwundert sah Pauline dem Mann nach, der mit ihren Büchern der Kasse zustrebte. Von dort aus winkte er ihr noch einmal mit einem strahlenden Lächeln zu. Pauline musste ein paar Mal tief durchatmen, bevor ihr Puls wieder in einem normalen Rhythmus pochte. Erst dann war sie in der Lage, sich auf das Bücherangebot vor ihr zu konzentrieren.
Eine halbe Stunde später verließ Pauline, bepackt mit drei Frauenromanen, dem Amrumführer und einem neuen Notizbuch, die Buchhandlung. In das Notizbuch würde sie hoffentlich bald neue Schreibideen eintragen können, denn genau dafür hatte sie es gekauft. Das konnte sie, im Gegensatz zum Laptop, immer und überall bequem bei sich tragen, damit sie ihre Einfälle sofort aufschreiben konnte. So, erst mal einen Cappuccino. Den hatte sie sich redlich verdient. Pauline betrat das nächstgelegene Café und suchte sich einen Platz am Fenster. Von hier aus konnte sie die vorbeiflanierenden Menschen, aber auch diejenigen, die drinnen an den Tischen saßen, hervorragend beobachten und vielleicht gleich das Notizbuch einweihen. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Kugelschreiber und legte ihn sorgsam neben den Bücherstapel auf den Tisch. Sie wartete. Auf eine Idee, darauf, dass ein interessanter Mensch in ihr Blickfeld geriet. Doch es schienen nur unscheinbare Menschen unterwegs zu sein. Die passten einfach nicht in so einen amüsanten Roman, wie ihre Lektorin ihn haben wollte. Oder doch? Wenn doch bloß nicht diese gähnende Leere in ihrem Kopf wäre. Es war zum Verzweifeln. Plötzlich stutzte Pauline. Das war doch … Ja richtig. Der Typ aus der Buchhandlung blieb draußen vor dem Café an einem der Tische stehen und begrüßte einen älteren Herrn. In der Papiertüte mit dem Schriftzug der Norddorfer Buchhandlung, die er in der Hand hielt, befanden sich sicherlich ihre Bücher. Er setzte sich dem anderen Herrn gegenüber, legte die Tüte – vorsichtig bitte! – auf den Stuhl neben sich und winkte der Bedienung zu, die zwei Tische weiter kassierte.
„Darf’s noch was sein?“
Pauline hatte gar nicht bemerkt, dass eine Kellnerin an ihren Tisch getreten war. „Noch ’n Cappu, bitte.“ Sie wandte ihren Blick wieder nach draußen. Inzwischen schienen die beiden Männer in ein intensives Gespräch versunken zu sein. Zu gern würde sie mithören. Nicht, dass sie neugierig war. Keinesfalls. Aber es interessierte sie brennend, was der Mann, der dem Surferimage alle Ehre machte, zu erzählen hatte. Ob sie sich nach draußen an den frei gewordenen Nachbartisch setzen sollte? Lieber nicht, das wäre vermutlich zu auffällig. Pauline nagte an ihrer Unterlippe. Konnte der ein Kandidat für ihr Manuskript sein? Pauline beobachtete ihn weiter und schlürfte ihren Cappuccino. Schade, dass sie nicht Lippenlesen konnte. Denn die meiste Zeit redete er. Der alte Herr warf nur ab und zu ein paar Worte ein. Warum hatte sie in der Buchhandlung nicht auf seine Augenfarbe geachtet? Zu dumm. Sicherlich waren sie blau – himmelblau! Voll das Surferklischeeblau. Pauline seufzte und zog das rote Notizbuch mit den weißen Punkten zu sich heran. Fast ehrfurchtsvoll öffnete sie es und schrieb in schwungvoller Schrift Amrumroman auf die erste Seite. Darunter Charaktere. Welchen Namen ihm seine Eltern wohl gegeben hatten? Ein ausgefallener, englischer Name würde gut zu seinem Aussehen passen. Sie stützte die Arme auf dem Tisch ab, ihr Kinn in die Hände und versank in ihren Betrachtungen. Auf einmal registrierte sie, dass der Blondschopf seinen Blick in ihre Richtung lenkte und einen Moment verharrte. Ob er bemerkt hatte, dass sie ihn seit geraumer Zeit anstarrte? Rasch beugte sie sich über ihr Notizbuch und tat so, als würde sie etwas aufschreiben. Als sie nach einiger Zeit ihren Kopf hob, war er verschwunden – der alte Herr ebenfalls. Enttäuscht klappte Pauline ihre Kladde zu und rief der Bedienung zu, dass sie zahlen wolle.
Als sie aus der Tür stürmte, um wenigstens noch einen letzten Zipfel von ihm zu erhaschen, prallte sie voller Wucht gegen die Brust eines Menschen, der eben im Begriff war, das Café zu betreten.
„Ups, sorry“, murmelte Pauline und rieb sich ihre Nase. Die hatte beim Aufprall am meisten gelitten. Sie blickte auf – in zwei surferklischeeblaue Augen. Hach … leider war ihr Gegenüber nicht der Mann, den sie am liebsten vor sich gehabt hätte. Dieser hier trug ein Kleinkind auf dem Arm, wie sie enttäuscht feststellte. Außerdem hatte er eine Glatze und sah bei Weitem nicht so gut aus.
„Haben Sie sich wehgetan?“
„Nö, geht schon.“ Pauline drückte sich an dem Mann vorbei und stürmte nach draußen. Sie sah rechts und links die Straße entlang. Nichts. Der Surfertyp war verschwunden. Wäre ja auch zu schön gewesen. Vermutlich würde sie ihm sowieso nie wieder begegnen. Außerdem gab es da diese Frau, für die er die Bücher gekauft hatte, rief sie sich ins Gedächtnis.
„Ist ja krass.“ Jule schien beeindruckt, als Pauline von ihrem Besuch in der Buchhandlung erzählte. Die beiden standen in der Küche, wo Jule gerade verschiedene Blumen in eine Vase arrangierte. Sie blickte auf. „Vielleicht sollten wir ein bisschen die Werbetrommel für deine Bücher rühren.“


