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„Es wundert mich, dass sie dort meine Romane anbieten.“
„Das hast du mir zu verdanken. Ich kenne den Inhaber ganz gut. Er war ein Freund von Jan-Erik.“ Jules verschmitztes Grinsen verschwand und machte einem traurigen Ausdruck Platz. Noch immer schien sie nicht über Jan-Eriks Tod hinweg zu sein. Pauline legte ihre Hand auf Jules Arm. „Tut mir leid, wenn ich gewusst hätte …“
„Papperlapapp.“ Jule wischte sich mit einer fahrigen Bewegung übers Gesicht und nahm eine rosafarbene Dahlie.
„Jedenfalls habe ich ihm vor einiger Zeit deine Bücher empfohlen und gebeten, er möge ein paar Exemplare ordern.“
„Jule, du bist ein Schatz. Du kurbelst auch noch meinen Buchumsatz an.“
„Da du’s gerade ansprichst. Wir könnten noch einiges mehr in die Wege leiten.“
„Was denn?“
„Willst du nicht mal eine Lesung veranstalten? In der Hochsaison sind bestimmt eine Menge interessierte Frauen auf der Insel.“
„So was habe ich noch nie gemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich das kann.“ Bei dem Gedanken, vor Publikum aufzutreten, wurde Pauline ganz mulmig.
„Mit ein bisschen Übung geht das schon. Soll ich mal meine Kontakte spielen lassen?“
„Du Jule, sei mir nicht böse. Natürlich bin ich dir sehr dankbar, aber das geht mir viel zu schnell. Ich muss erst mal in Ruhe darüber nachdenken.“
„Denk dran, dass du nicht ewig hier sein wirst.“ Pauline nickte nur. „Wann kommen eigentlich neue Gäste?“ Sie versuchte, dem Gespräch eine neue Richtung zu geben.
„Übermorgen. Morgen hast du frei. Das Ehepaar musste heute überstürzt abreisen.“
„Oh, das ist aber schade. Wie regelst du das eigentlich, wenn so kurzfristige Buchungsänderungen vorkommen?“
„In dem Fall habe ich ein Auge zugedrückt. Die Herrschaften haben eine Todesnachricht aus der Verwandtschaft bekommen. Ansonsten stelle ich achtzig Prozent des Übernachtungspreises in Rechnung, wenn ich das Zimmer nicht anderweitig vermieten kann.“
„Kommt das häufiger vor?“
„Nein, zum Glück nicht. Einige Gäste fangen an zu feilschen und das kann ich überhaupt nicht leiden.“ Jule rollte mit den Augen. Sie stellte die Vase mit dem hübschen Strauß auf den Küchentisch. „Hast du Hunger?“
„Ein bisschen.“
„Wir könnten in den Ort gehen und uns mal verwöhnen lassen.“
Pauline stöhnte auf. „Nee. Ich geh keinen Schritt mehr.“ Jule lachte. „Oh, ich vergaß. Ich mach uns ein paar Schnittchen. In Ordnung?“
„Klar, ich helfe dir.“ Pauline humpelte zum Kühlschrank. Kurze Zeit später ließen es sich die beiden Frauen am Küchentisch schmecken und schmiedeten Pläne für den nächsten Tag.
„Hast du Lust auf eine Radtour?“, fragte Jule, während sie eine Scheibe Graubrot mit Butter bestrich. „Es soll morgen trocken bleiben, hab ich im Radio gehört.“
„Mmh“, machte Pauline mit vollem Mund und schluckte. „Das ist eine hervorragende Idee. Hast du ein Rad für mich, oder muss ich mir eins im Ort ausleihen?“
„Es stehen ein paar im Schuppen neben der Garage.
Die können meine Gäste benutzen.“
„Hervorragend. Ich probiere sie nachher gleich mal aus. Wohin willst du?“
„Wie wäre es mit einer Tour nach Nebel?“ Jule lächelte Pauline an. „Ich weiß doch, dass dir der Ort von allen am besten gefällt.“
„Stimmt. Ich liebe dieses Flair, und wenn du nicht hier wohnen würdest, würde ich garantiert nur dort Urlaub machen.“
„Allerdings hättest du es weiter zum Strand.“
„Ich hätte kein Problem damit, jeden Tag durch das Kiefernwäldchen zum Strand zu radeln. Täte meiner Figur ganz gut.“ Pauline lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte ihre Hände auf den Bauch. „Hab schon wieder viel zu viel gegessen. Du solltest mich nicht so verwöhnen.“
„Ich muss doch gut für meine Angestellte sorgen.“ Jule zwinkerte Pauline zu.
„Bisher hatte ich bei dir eher ein laues Arbeitsleben.“
„Warte ab, das ändert sich sehr bald.“
„So schlimm wird es schon nicht werden.“
Das Klingeln des Telefons unterbrach die Freundinnen. Jule erhob sich und eilte ins Büro. Währenddessen räumte Pauline den Tisch ab und spülte auch gleich das Geschirr.
„Wir kriegen Gäste. Heut Abend noch“, rief Jule vom Flur her. „Sie kommen mit der letzten Fähre an.“
„Wann ist das?“
„Um zweiundzwanzig Uhr.“ Jule kam in die Küche, nahm ein Geschirrtuch und trocknete die Teile ab, die Pauline eben abgewaschen hatte.
„So spät? Dann noch die Fahrt hierher. Das heißt für dich ja fast Nachtschicht.“
Jule zuckte mit den Schultern. „Das Los der Vermieter. Die meisten Urlauber kommen nachmittags an, allerdings sind die Fähren im Sommer schnell ausgebucht. Außerdem wechseln die Ankunftszeiten je nach Tide. Wer sich kurzfristig entscheidet, muss halt nehmen, was übrig bleibt.“
„Musst du noch was vorbereiten?“
Jule nickte. „Ich gebe ihnen Zimmer drei, das ist das größte. Es kommt ein Paar mit einem Kleinkind an. Wir müssen ein Kinderbett aufstellen und die Betten beziehen.“
Gemeinsam bauten sie das Kinderbett auf. Während Jule bunt gemusterte Bettwäsche auf die Bettdecke zog, kümmerte sich Pauline um die Elternbetten.
„Ich zieh immer erst auf, wenn ich weiß, dass ich Gäste bekomme“, erklärte Jule. „Sonst staubt alles voll, bevor die Betten benutzt werden.“
„Apropos vollstauben.“ Pauline malte ein Smiley auf die Platte des Nachtschranks, das deutlich sichtbar war. „Ich hol einen Lappen und wisch überall noch mal drüber.“
Nach getaner Arbeit machten sie es sich im Wintergarten gemütlich. Im Hintergrund lief leise Musik. Pauline ließ sich eine Weißweinschorle schmecken und Jule begnügte sich mit einem Mineralwasser. Zum ersten Mal hatte Pauline einen Hauch von Jules Alltag erlebt und erkannte, dass Jule in der Hochsaison wohl eher selten einen geregelten Achtstundenarbeitstag hatte.
Pauline hatte sich bald von Jule verabschiedet und war auf ihr Zimmer gegangen. Mit dem Notizbuch machte sie es sich auf ihrem Bett gemütlich. Sofort schob sich das Bild eines Mannes mit blonden Locken vor ihr inneres Auge. Alles, was Pauline an ihm auffiel, notierte sie. Anschließend führte sie in Gedanken ein Interview mit ihm. Sie staunte, was sie dabei alles über ihn herausbekam. Natürlich notierte sie jede noch so winzige Information. Als Pauline später ihre Aufzeichnungen beiseitelegte und sich unter ihre Bettdecke kuschelte, grübelte sie darüber nach, welche humorvolle Geschichte sie um ihn herum weben sollte. Bei der Überlegung, wie sie die weibliche Hauptrolle besetzen sollte, sah sie sich in Gedanken selbst.
Die neuen Urlauber lernte Pauline am nächsten Morgen kennen. Ein junges Paar, Mitte zwanzig, wie Pauline schätzte. Beide waren an den Augenbrauen und Lippen gepierct und sehr leger gekleidet. Sie wirkten ein bisschen ungepflegt. Irgendwie passten sie gar nicht in eine beschauliche Pension an der Nordsee, Pauline hätte sie eher in einer Jugendherberge oder auf einem Campingplatz vermutet. Aber so kann man sich täuschen. Ihre kleine Tochter saß in einem Hochstuhl, kaute mit Hingabe an einem Stück Brötchen und sah Pauline mit großen dunklen Kulleraugen an. Wirklich goldig, die Kleine.
Die junge Frau reichte Pauline die Hand. „Das ist unsere kleine Lilli und wir sind Andy und Sarah Busch.“
„Hallo und herzlich willkommen.“
„Sie sind kein Gast?“
„Ich bin eine Freundin des Hauses und helfe im Moment ein wenig aus.“ Pauline nickte den jungen Leuten noch einmal zu und machte sich auf den Weg in die Küche.
„Morgen Jule!“ Ihre Freundin kam ihr im Flur mit einer Karaffe Orangensaft entgegen.
„Hallo, Pauline. Alles klar? Was macht der Muskelkater?“
„Alles klar. Der Muskelkater fühlt sich in meinen Beinen recht wohl.“ Pauline zwinkerte Jule zu.
„Na dann.“ Jule verschwand kichernd im Frühstücksraum und Pauline betrat die Küche. Dort stand für sie schon alles für ein ausgiebiges Frühstück bereit. Jule war echt ein Schatz, aber es war unangenehm, so verwöhnt zu werden. Sie würden darüber reden müssen.
Jule kam erst in die Küche zurück, als Pauline fast fertig war mit frühstücken. „Echt süß, die Kleine. Ich könnte sie die ganze Zeit knuddeln.“ Sie schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu Pauline an den Tisch. „Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll.“
„Nix mit Fahrradtour?“
„Leider nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es kommen heute noch Gäste an. Sie haben kurzfristig über den Reservierungsdienst in Wittdün gebucht. Sorry Süße.“ Jule wirkte zerknirscht.
„Ist doch super. Die Einnahmen kannst du sicher gut gebrauchen.“ Pauline biss in ihr Marmeladenbrötchen.
„Verschieben wir unseren Ausflug“, murmelte sie mit vollem Mund.
„Fahr du ruhig. Du hast dich doch bestimmt schon darauf gefreut. Ich komme ein anderes Mal mit.“
„Okay, aber erst, wenn die Zimmer fertig sind.“ Pauline schob den letzten Happen vom Brötchen in den Mund und stand auf. „Ich fang schon mal an. Welches Zimmer soll ich herrichten?“
„Die Eins. Danke Pauline. Ich komme nach, wenn ich im Frühstücksraum abgeräumt habe.“
4. Kapitel
„Es ist wirklich okay, wenn ich dich allein lasse?“, fragte Pauline zum wiederholten Mal und schwang sich auf eines der Leihfahrräder, die Jule aus dem Schuppen geschoben hatte. Sie drehte eine Proberunde auf dem Parkplatz und hielt vor Jule an.
Jule nickte und tätschelte Paulines Arm. „Natürlich. Mach dir einen schönen Tag.“
Nachdem sie den Sattel tiefer gestellt hatte, hängte sich Pauline ihre Tasche über die Schulter. „Bis nachher. Wenn es brenzlig wird, kannst du mich übers Handy erreichen. Ich komm dann sofort zurück.“
„Nun fahr schon. Ich komme klar.“
Nach den ersten Metern drehte sich Pauline noch einmal um und winkte. „Ich bin bald zurück. Versprochen!“ Sie atmete tief durch und freute sich darauf, durch die Straßen von Nebel zu spazieren, die Windmühle und die Kirche zu sehen. Später würde sie es sich in einem der Cafés ausruhen. Pauline genoss die Fahrt auf dem Radweg, der am Kiefernwäldchen hinter den Dünen entlangführte, und nach einer Viertelstunde kam sie in Nebel an. Sie radelte über den Strunwai bis zur Windmühle, wo das Heimatmuseum untergebracht war. Sie zückte ihren Fotoapparat und machte ein Erinnerungsfoto. Ins Museum ging sie nicht, es zog sie weiter zum Öömrang Hüs, für sie das interessanteste Gebäude der Insel. Schon bei ihrem ersten Amrumaufenthalt hatte sie gemeinsam mit Jule und Jan-Erik dieses historische Friesenhaus bewundert. Wenn sie sich recht erinnerte, standen Küche und Wohnstube zur Besichtigung offen. Ach ja, da gab es auch noch eine Stube, die früher nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Die musste sie sich unbedingt noch einmal ansehen. Am Eingang stellte Pauline fest, dass das Haus nur nachmittags geöffnet war. Also würde sie später noch einmal zurückkommen müssen. Sie ließ ihr Rad hier stehen und schloss es ab. Zu Fuß würde sie die besondere Atmosphäre des Ortes mit seinen blumengeschmückten Friesenhäusern viel besser aufnehmen können.
Pauline fand es noch genauso schön, wie sie es in Erinnerung hatte. Zuerst steuerte sie einen kleinen Laden an, der eine Vielzahl an hübschen Accessoires und allerlei Kleinigkeiten anbot. Stundenlang konnte sie in solchen Geschäften stöbern und schon oft hatte sie ein Heidengeld für schöne, aber eigentlich unnütze Dinge ausgegeben. Tatsächlich musste sie sich auch dieses Mal zusammenreißen, um nicht schon das Geld auszugeben, das sie erst noch bei Jule verdienen musste. Aber bevor sie wieder nach Hause fuhr, würde sie sich hier ein Andenken aussuchen. Vielleicht, nein, ganz bestimmt, würde sie ein Dankeschöngeschenk für Jule kaufen. Bevor sie ihrem Vorsatz untreu wurde, verließ Pauline das Geschäft. Was nun? Zur Kirche und über den alten Friedhof spazieren? Oder sich in eines der gemütlichen Lokale setzen? Noch während sie grübelte, sah sie einige Meter entfernt einen blonden Lockenkopf. War das etwa …? Er war es und er kam in ihre Richtung. Er schien Pauline auch erkannt zu haben, denn seine Miene hellte sich auf, als er näher kam und er lächelte sie an. Paulines Herz pochte plötzlich heftiger. Sollte sie warten, ob er sie ansprach, oder sollte sie ihn ansprechen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen.
„Hallo. Schön, Sie wiederzusehen.“ Er reichte Pauline die Hand.
Graublau. Seine Augen sind graublau, bemerkte Pauline in dem Augenblick, als sie seine Hand ergriff. „Guten Tag. Schöner Tag heute, nicht? Was machen Sie denn hier?“
Ach du Schande, was für einen Blödsinn man manchmal von sich gibt.
„Vielen Dank noch mal für Ihren Büchertipp. Sie haben mich damit aus einer blöden Situation gerettet.“
Ach ja, er hatte ja eine Frau. So was Doofes aber auch.
Paulines Laune sank. „Ah ja?“
„Ich hätte vermutlich noch bis Ladenschluss vor dem Regal gestanden und nicht gewusst, was ich kaufen soll. Dank Ihrer Hilfe konnte ich die Bücher noch am gleichen Tag zu meiner Schwester schicken.“
„Ihre Schwester?“
„Ja, meine Schwester hat heute Geburtstag und ich brauchte unbedingt ein Geschenk, das ich ohne Weiteres per Post verschicken konnte.“
Pauline fiel ein Stein vom Herzen und fast wäre sie ihrem Gegenüber vor Freude um den Hals gefallen. Die Bücher waren für seine Schwester, jubelte sie im Innern. Aber halt! Das hieß noch lange nicht, dass er ungebunden war. Das Leben war aber auch kompliziert.
„Darf ich Sie zum Dank in ein Café einladen?“ Er strahlte Pauline an.
„Ähm, ja, also … ich weiß nicht.“ Ihr schoss die Hitze ins Gesicht.
„Wartet jemand auf Sie? Ihr Mann vielleicht?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Es wartet niemand. Ich bin allein hier.“ Allein, weil mich ein Idiot betrogen hat, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie gab sich einen Ruck. Warum nicht? Selbst, wenn er eine Frau hatte, konnte sie sich von ihm einladen lassen. Da war doch nichts dabei. „Geht auch ein Eis?“
Er lachte. „Na klar. Nichts dagegen. Ich bin übrigens Paul.“ Pauline stutzte, prustete los und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen kullerten. Paul! Das war doch wohl ein Witz.
Paul starrte sie irritiert an. „Was ist?“
„Sie … Sie heißen wirklich Paul?“
„Ja. Was ist so lächerlich daran?“
„Pauline. Ich heiße Pauline.“ Pauline kicherte immer noch.
„Ernsthaft?“ Paul stimmte in ihr Lachen ein. „Wenn das kein Grund ist. Darauf müssen wir anstoßen. Wir könnten da drüben hingehen.“ Er zeigte über die Straße auf ein Reetdachhaus mit kleinem Garten davor. Rosencafé stand in schwungvoller Schrift über dem Eingang. Über einem Holzzaun rankten sich rote und gelbe Rosenbüsche. Das sah sehr romantisch aus. „Da gibt es auch leckeres Eis.“
Das war natürlich ein Grund mehr, auf Pauls Einladung einzugehen, wenn auch nicht der Hauptgrund. Der war nämlich, dass er ihr Herz zum Rasen brachte, wenn er sie so anlächelte.
Paul fasste unter Paulines Arm und führte sie hinüber in den Rosengarten. Kleine Holztische und Klappstühle mit bunten Sitzkissen luden zum Verweilen ein. Auf jedem Tisch stand eine Vase mit einer roten und einer gelben Rose. Die stammten sicherlich von den Büschen, die den Zaun überwucherten. Sie nahmen am hinteren Tisch Platz.
„Es ist sehr nett hier.“
„Ich bin gern hier“, sagte Paul. „Ich mag dieses familiäre Ambiente. Außerdem backen sie den Kuchen selbst.“ Mit erhobener Hand winkte er die Bedienung heran.
„Das ist natürlich ein Grund.“ Pauline zog die Eiskarte heran. Sie entschied sich für einen großen Früchtebecher mit Sahne. Paul bestellte einen Pott Kaffee und ein Stück Brombeersahnetorte.
Er legte seine Arme auf dem Tisch ab und neigte seinen Kopf in Paulines Richtung. „Es freut mich, dass wir uns getroffen haben.“
Pauline überlegte, ob sie zugeben sollte, dass sie sich ebenso freute. Da trat die Bedienung schon mit dem Eis an ihren Tisch und so nickte Pauline nur.
„Essen Sie, bevor es schmilzt.“ Paul wartete noch auf Kaffee und Kuchen.
Das ließ sich Pauline nicht zweimal sagen. Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seit sie am Ankunftstag ein Eis gegessen hatte. Es gab für sie in diesem Moment nichts Schöneres, als hier neben diesem Mann zu sitzen, den sie kaum kannte, und ihr Eis zu genießen.
Paul bekam seinen Kaffee und ein großes Stück Torte, garniert mit zwei dicken Brombeeren.
„Sieht sehr lecker aus“, sagte Pauline.
„Sieht nicht nur so aus.“ Er pikste mit der kleinen Gabel in die Spitze der Torte.
Zu Paulines Erstaunen hielt er ihr den ersten Happen hin. Pauline konnte nicht widerstehen und beugte sich mit leicht geöffnetem Mund dem Leckerbissen entgegen. Sie schloss die Augen, als sie die süße, cremige Masse auf der Zunge spürte. Es kam noch ein wenig die leichte Säure der Brombeere durch. „Mmh … herrlich.“
„Finde ich auch“, murmelte Paul mit belegter Stimme. Pauline öffnete die Augen. Den unergründlichen und leicht irritierten Gesichtsausdruck von Paul vermochte sie nicht wirklich zu deuten. Aber in ihrem Bauch flatterte es plötzlich ganz doll. Was geschah hier gerade? Paul probierte die Torte. Ganz langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden, ließ er seine Lippen über die Kuchengabel gleiten. Fast so, als wollte er auskosten, dass Pauline sie zuvor mit ihren Lippen berührt hatte. Diese Version überkam jedenfalls Pauline. Einen winzigen Moment noch blickten sie sich an.
„Alles in Ordnung?“, fragte in dem Moment die junge Frau, die sie bedient hatte. Einen unpassenderen Augenblick hätte sie nicht erwischen können. Pauline fühlte sich unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt. Paul schien ebenso zu denken, denn er warf der Frau einen verärgerten Blick zu. Pauline lehnte sich zurück und konzentrierte sich wieder auf ihren Eisbecher. Zwischenzeitlich hatte ihre Lieblingsspeise eine leicht flüssige Konsistenz angenommen. Aber egal. Es schmeckte trotzdem. Sie schwiegen, während sie aßen, warfen sich nur ab und an verstohlene Blicke zu. Pauline überlegte fieberhaft, was sie Unverfängliches sagen konnte. Doch blöderweise fiel ihr überhaupt nichts ein.
„Wir müssen noch auf unsere tollen Namen anstoßen.“ Paul holte sie abrupt aus ihren Überlegungen zurück, als er plötzlich mit dem Stuhl zurückrückte und sich erhob.
„Ich hol uns rasch was.“
Pauline blickte ihm nach, bis er im Café verschwand. Sie konnte noch immer nicht fassen, was da eben zwischen ihnen passiert war.
Kurze Zeit später kam er mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. Eines reichte er ihr, bevor er sich setzte. „Das einzig richtige Getränk zum Anstoßen“, sagte er mit einem Lächeln.
Pauline warf einen Blick auf die aufsteigenden Perlen im Glas. „Nicht, dass ich nachher vom Fahrrad falle.“ Sie blickte auf. Paul hielt ihr sein Glas entgegen. Mit einem leichten Klingen stießen sie an.
„Auf uns und auf unsere besonderen Vornamen.“ Paul zwinkerte. „Ich heiße Paul – und du?“
Pauline konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Hallo, Paul, schön, dich kennenzulernen. Ich bin Pauline.“
„Hallo, Pauline.“ Ehe sich Pauline versah, beugte sich Paul vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich freue mich auch“, murmelte er, lehnte er sich zurück, schlug lässig ein Bein über das andere und nahm einen ersten Schluck aus seinem Glas.
Das Blut kochte in ihren Adern, so kam es Pauline jedenfalls vor. Das Herz hämmerte, als wollte es aus ihrer Brust springen. Die Gefühle, die Paul gerade in ihr auslöste, verwirrten Pauline. Schließlich kannte sie ihn kaum. Eigentlich gar nicht. Obwohl sie ihn schon von der ersten Begegnung an attraktiv gefunden hatte. Nervös drehte sie das Sektglas in ihrer Hand, nahm einen Schluck und drehte es weiter. Sie spürte Pauls Blick, der auf ihr ruhte und der sie völlig durcheinanderbrachte.
„Bist du schon länger auf der Insel?“, fragte Paul nach einer Weile. „Von hier scheinst du nicht zu stammen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du sprichst reines Hochdeutsch.“
„Ich besuche eine Freundin und bin zum dritten Mal hier. Ganz besonders mag ich Nebel. Hach, diese Reetdachhäuser sind einfach hinreißend. Der Ort hat ein ganz besonderes Flair. Trotz der Touristen. Ich hab nirgendwo einen schöneren Strand gesehen. Ich liebe diese Unendlichkeit, die der Kniepsand ausstrahlt. Außerdem wandere ich gern über die Bohlenwege durch die Dünen.“
Paul lachte. „Deine Begeisterung für die Insel kann ich dir an der Nasenspitze ansehen. Du solltest in die Werbung gehen oder dich von der Touristeninformation anstellen lassen.“ Er beugte sich interessiert vor. „Oder bist du in der Werbebranche?“
„Ähm, nee.“ Stimmte ja auch. Was gewesen ist, zählt nicht mehr.
„Wie lange wirst du bleiben?“
Pauline zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Es hängt von gewissen Dingen ab.“ Glücklicherweise fragte Paul nicht weiter. Er trank sein Glas leer und Pauline ebenfalls. Sie seufzte leise. „Ich muss dann auch weiter. Meine Freundin wartet sicher schon. Ich habe versprochen, bald zurück zu sein.“
„Schade. Ich wäre gern noch ein bisschen länger mit dir hier geblieben.“ Pauls Gesicht drückte Enttäuschung aus.
„Vielleicht … vielleicht laufen wir uns noch einmal über den Weg. Ich komme bestimmt bald wieder nach Nebel.“ Pauline erhob sich, Paul ebenfalls. „Ich werde hier auf dich warten“, versprach er. „Jeden Tag.“
Pauline wagte nicht, ihn zu fragen, ob er das ernst meinte. Wenn das Schicksal es wollte, würde es dafür sorgen, dass sie sich wieder über den Weg liefen. Wo auch immer das sein würde. „Vielen Dank für die Einladung, das Eis, den Sekt …“
„Den Kuss?“
„Ja. Auch den.“ Meine Güte, war der direkt. Ehe sich Pauline versah, zog Paul sie in seine Arme. Der intensive Blick aus seinen graublauen Augen bescherte ihr eine Gänsehaut. Sie entdeckte ein paar winzige grüne Punkte in seiner Iris. Welch ungewöhnliche Kombination. Schon spürte sie Pauls Lippen auf ihren. Die Berührung war kurz und fest, und viel zu schnell vorüber.
„Für den danke ich dir“, raunte Paul an ihrem Ohr und ließ sie so plötzlich los, dass sie beinahe ins Schwanken geraten wäre. Er wandte sich von ihr ab und winkte die Bedienung heran. „Zahlen bitte“, rief er. Kurze Zeit später hatte er die Rechnung beglichen.
„Wo steht dein Fahrrad?“, fragte Paul, als sie auf der Straße standen.
„Gleich in der Nähe. Also dann. Machs gut, Paul.“
„Machs gut, Pauline. Wir sehen uns.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Ganz bestimmt.“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und schlenderte davon. Pauline blickte ihm nachdenklich hinterher. Würden sie sich noch einmal über den Weg laufen? War sein Versprechen, täglich im Café auf sie zu warten, ernst gemeint? Vermutlich nicht. Sie wusste nichts über ihn, außer dass er eine Schwester hatte, die Liebesromane las. Er hatte ihr nicht einmal erzählt, ob und wie lange er auf Urlaub hier war. Vermutlich würde er ihre Begegnung in die Kategorie „flüchtige Urlaubsbekanntschaft“ stecken. Was war mit ihr? Worunter würde sie dieses kurze, intensive Intermezzo ablegen? Darüber sollte sie besser mit ein bisschen Abstand – vielleicht am Abend im Bett – nachdenken. Inzwischen war Paul nicht mehr zu sehen. Dummerweise war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, wohin er verschwunden war.
Pauline gab sich einen Ruck und machte sich auf den Weg zum Öömrang Hüs. Die Besichtigung des Hauses ließ sie sausen, ihre Gedanken kreisten immer noch um Paul. Sie schwang sich auf ihren Drahtesel. Für ihren Rückweg nach Norddorf schlug sie einen anderen Weg ein. Erst außerhalb des Ortes bemerkte sie, wo der Weg sie entlangführte. Sie bremste scharf ab, als sie das Areal rechter Hand erkannte, und kam ein wenig ins Schlingern. Rasch stieg sie vom Rad und stellte es an einem Baum ab. Auch wenn sie den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte, gab es für sie nur einen Weg. Nach wenigen Minuten hatte sie die gesuchte Stelle gefunden.
„Hallo, Jan-Erik.“ Ein einfaches Holzkreuz nur mit dem Namen und ohne Daten zeigte Besuchern, wer hier begraben war. Auf dem Grab blühten die verschiedensten Blumen, die sicher Jule auf liebevolle Weise gepflanzt hatte. Eine Weile blieb sie stehen und dachte an die wenigen Augenblicke, die sie vor Jahren zu dritt verbracht hatten. So richtig hatte sie Jan-Erik damals nicht kennenlernen können, er war viel beschäftigt gewesen. Nun war es zu spät. Im Stillen versprach Pauline, beim nächsten Besuch einen Blumenstrauß mitzubringen. Sie wandte sich ab und eilte zum Ausgang.


