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Während sie zurück nach Norddorf radelte, hatte Pauline wieder Pauls Antlitz vor dem inneren Auge. Sein Lächeln, beim Essen der Torte und wie er sich über sie beugte. Plötzlich riss sie das wilde Hupen eines Autos aus ihren Gedanken. Bremsen quietschten. Erschrocken starrte Pauline auf das schwarze Auto, das kurz vor ihr zum Stehen kam. Der Fahrer fuchtelte wild mit den Armen. Mit klopfendem Herzen stieg sie vom Rad. Mannomann, das war knapp gewesen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie, ohne nach rechts und links zu sehen, auf die Hauptstraße gefahren war. Ihre Knie schlotterten, als sie das Rad auf den gegenüberliegenden Bürgersteig schob.
„Sind Sie lebensmüde?“, rief der Fahrer aus dem geöffneten Seitenfenster.
„Entschuldigung! Ich war in Gedanken.“
„Das habe ich gemerkt. In Zukunft sollten Sie die Augen offen halten!“ Kopfschüttelnd fuhr er weiter.
Das wäre wirklich besser. Pauline atmete tief durch. Sie hatte gerade verdammt viel Glück gehabt.
Als Pauline ihr Fahrrad ausrollen ließ, herrschte vor der Pension reges Treiben. Jule dirigierte gerade einen grünen Kleinwagen in eine enge Parklücke. Ein älterer Herr schleppte zwei Reisetaschen in Richtung Haustür. Aus dem Haus kamen Sarah mit Lilli auf dem Arm und Andy, der einen Buggy schob. Pauline winkte ihnen zu, stieg vom Rad und schob es eilig zum Schuppen. Anschließend gesellte sie sich zu Jule. Die junge Familie spazierte inzwischen die Straße in Richtung Ortskern entlang.
„Hallo, Jule.“
„Da bist du ja schon wieder. War’s schön?“
Pauline nickte. Zu mehr blieb keine Zeit, denn der Herr, der eben die Taschen ins Haus getragen hatte, tauchte neben ihnen auf. „Haben Sie uns das gewünschte Zimmer fertig gemacht?“
„Natürlich, Herr Krämer.“ Jule lächelte ihren Gast an.
„Das Gleiche wie im vergangenen Jahr.“
„Dann ist es ja gut.“ Er wandte sich seiner Partnerin zu, die sich eben durch den schmalen Türspalt zwängte.
„Trude, pass auf, dass du die Tür nicht ans Nachbarauto rammst. Wieso parkst du ausgerechnet in so einer schmalen Lücke?“
Trude quittierte die Bemerkungen lediglich mit einem Augenrollen und kam schnellen Schrittes auf Pauline und Jule zu. „Frau Petersen, schön, wieder bei Ihnen zu sein. Sie haben ja keine Ahnung, wie lange ich schon nach der Seeluft lechze.“
„Herzlich willkommen, Frau Liebig. Hatten Sie eine gute Reise?“
„Ging so.“ Sie beugte sich zu Jule und warf einen raschen Seitenblick auf ihren Partner, der gerade eine Kühltasche aus dem Fond seines Wagens hob. „Seine Kommentare über die Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer gehen mir ziemlich auf den Geist“, raunte sie. „Aber ich kann ihm das einfach nicht abgewöhnen.“ Sie streckte sich und zuckte mit den Schultern. „Herbert, komm jetzt! Ich will endlich auf das Zimmer.“
Pauline sah dem Paar kopfschüttelnd nach. „Ich dachte, die beiden seien ein altes Ehepaar, so, wie sie miteinander reden.“
Jule lachte. „Ich kenne sie nicht anders. Frau Liebig erzählte mir im vorigen Jahr, dass sie bald Silberhochzeit feiern könnten, wenn sie verheiratet wären. Die beiden sind übrigens schon zum fünften Mal hier. Eigentlich sind sie ganz nett und ich bin froh, Stammgäste zu haben.“
Jule hakte sich bei Pauline ein und sie folgten dem resoluten Paar ins Haus. „Ich hatte schon die Befürchtung, dass die beiden dir Ärger bereiten könnten.“
„Glaub ich nicht. Bisher hatten wir ein gutes Verhältnis und sie haben noch nie gemeckert.“
„Hach, das beruhigt mich. Ich hoffe, dass es so bleibt.“
„Hast du Durst? Oder lieber ein Eis?“ Pauline grinste. „Beides.“
„Dann komm.“
Nachdem Jule die Neuankömmlinge versorgt hatte, machten es sich die Frauen am Küchentisch gemütlich. Pauline füllte zwei Glasschälchen mit je einer Kugel Vanille- und Walnusseis. „Eigentlich hatte ich schon eins“, gestand sie.
Jule lachte erneut. „Was dich aber nicht abhält.“
„Nö. Außerdem bin ich vorhin eingeladen worden. Na ja, eigentlich zu Kaffee und Kuchen. Aber ich hab gefragt, ob es auch ein Eis sein darf.“
Jule riss die Augen auf. „Im Ernst?“
Pauline berichtete von ihrer Begegnung mit Paul, wobei sie Jule das Gefühlschaos verschwieg, das Paul in ihr auslöste.
„Find ich ja nett von ihm. Du hast wohl mächtig Eindruck auf ihn gemacht.“
„Er wollte sich nur bedanken, weil ich ihm aus der Patsche geholfen habe.“
„Und? Werdet ihr euch wiedersehen?“ Jule knuffte Pauline in die Seite. „Vielleicht findest du hier eine neue Liebe.“
„Du spinnst wohl. Ich hab den letzten Kerl noch nicht verdaut.“ Pauline starrte konzentriert auf ihren Eisbecher. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten. Sollte sie Jule gestehen, wie sehr ihr Paul gefiel? Aber was hätte das für einen Sinn? Vermutlich würde sie ihn nie wiedersehen. Egal, sie konnte es nicht für sich behalten. Sie hob den Kopf und sah Jule an. „Ich fand ihn nett. Sehr nett sogar. Außerdem sieht er gut aus.“
„Aha. Wusste ich es doch.“ Jule grinste. „Mir kannst du nichts vormachen. Ich hab es dir an deiner Nasenspitze angesehen. Erzähl, wie er aussieht. Groß, schlank, sportlich …?“
Ein Klopfen am Küchenfenster unterbrach die Frauen. Pauline sah einen mit einer Schiffermütze bedeckten Kopf hinter der Scheibe.
Jule erhob sich und ging zum Fenster. „Das ist Herr Sörens. Der meint bestimmt, er müsse mal wieder nach dem Rechten sehen.“ Sie öffnete einen Fensterflügel. „Moin, Herr Sörens.“
„Moin, men Deern.“ Der Besucher tippte sich an die Mütze. „Was zu tun? Ich könnte den Rasen mähen.“
„Es eilt nicht. Wie geht es Ihrer Frau?“
„Hat noch Schmerzen. Aber rumkommandieren kann se schon wieder.“
Jule lachte. „Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß. Ich komme sie bald besuchen.“
Erst jetzt schien Herr Sörens Pauline wahrgenommen zu haben. „Besuch?“
„Kommen Sie rum. Ich stelle Ihnen meine Freundin vor. Ich hab auch ’nen Lütten für Sie.“ Jule schloss das Fenster. Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche mit einer gelbgoldenen Flüssigkeit und stellte sie auf den Tisch.
Aquavit las Pauline. Brrr, grässlich. So was würde sie nie runterkriegen. Hinter ihr hörte sie eine Tür zuschlagen. Kurz darauf kam ein Mann, sie schätzte ihn auf mindestens siebzig Jahre, in die Küche gepoltert. Pauline stand auf und streckte dem Besucher die Hand entgegen.
„Guten Tag. Ich bin Pauline Weber.“
„Moin. Sörens, Hinrich.“ Er tippte sich wieder an seine Mütze.
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Jule erzählte, dass Sie ihr oft helfen.“
Sörens nickte und schielte an Pauline vorbei in Richtung Jule, die eben einen Aquavit in ein langstieliges Schnapsglas schenkte. Pauline verkniff sich ein Grinsen.
„Prost, Herr Sörens. Schön, dass Sie vorbeigekommen sind.“
Sörens griff sich das Glas und setzte es an die Lippen.
„Na denn, prost“, murmelte er und ließ die goldgelbe Flüssigkeit in seinen Rachen laufen. Er verzog nicht mal sein Gesicht, wie Pauline staunend feststellte.
Jule zwinkerte. „Noch einen?“
„Nee, lass mal, Deern. Erst die Arbeit.“ Sörens tippte sich wieder an die Mütze. Das schien eine Marotte von ihm zu sein. Er machte kehrt, nickte Pauline zum Abschied zu und stiefelte aus der Küche.
„Ist der immer so durstig?“
„So ’n Lütter muss meistens sein. Das scheint seinen Motor in Gang zu bringen. Der Mann ist ganz in Ordnung.“ Jule blickte aus dem Fenster. „Wenn ich ihn nicht gehabt hätte … was ist da schon ein Schnaps?“
Pauline stellte die beiden Eisschälchen zusammen und ging damit zur Spüle. Unter fließendem Wasser spülte sie das Geschirr sofort ab. „Ich war bei Jan-Erik“, sagte sie und nahm das Geschirrtuch.
„Danke, dass du daran gedacht hast.“ Jule kam näher und drückte Paulines Arm. In ihrem Gesicht spiegelten sich Dankbarkeit und Trauer gleichzeitig.
„Nächstes Mal nehme ich Blumen mit.“
5. Kapitel
Die erste Woche war um. Obwohl die Pension inzwischen voll belegt war, konnte sich Pauline täglich Zeit für sich nehmen. Die nutzte sie für Spaziergänge, die sie meistens durch die Dünen zum Strand führten. Sie war ein zweites Mal joggen gewesen und hatte sich fest vorgenommen, ihre sportliche Aktivität beizubehalten. Es tat ihr gut und sie war stolz auf ihre Leistung, obwohl sie hinterher total ausgelaugt war.
Die Arbeit machte ihr Spaß, obwohl sie hauptsächlich aus Putzen und Aufräumen bestand. Wenn nur nicht das schlechte Gewissen ihrer Lektorin gegenüber gewesen wäre. Bislang hatte Pauline vermieden, sich bei Frau Mölder zu melden. Was hätte sie denn sagen können – außer, dass sie immer noch keinen blassen Schimmer hatte, was für eine Geschichte sie schreiben könnte? Trotz der vielen neuen Eindrücke, die sie in den vergangenen Tagen gesammelt hatte, blieb es in ihrem Kopf gähnend leer. Taugte sie nicht mehr zur Autorin? Sollte sie das Schreiben aufgeben?
Nein, das würde sie nicht tun. Sicher lag die Flaute nur an den Ereignissen, die so plötzlich auf sie eingestürmt waren. Auch Jules tröstende und aufmunternde Worte konnten den Schalter hinter Paulines Stirn nicht umlegen. Die wenigen Notizen in dem roten Buch mit den weißen Tupfen brachten sie auch nicht weiter. Es war zum Verrücktwerden.
Vielleicht half es, einen langen, wirklich langen Marsch über den Kniepsand zu machen. Vielleicht würde der Wind ihre Gehirnwindungen durchpusten.
Nach dem Mittagessen setzte sich Pauline in den Linienbus, der nach Wittdün fuhr. Jule hatte ihr für den Nachmittag freigegeben, weil keine neuen Gäste erwartet wurden. Sie selbst nahm einen Termin bei ihrem Steuerberater wahr und wollte anschließend kurz Frau Sörens besuchen. Für eventuelle Buchungsanfragen nutzte sie eine Anrufweiterleitung auf ihr Handy und hatte vorsichtshalber für die Hausgäste eine Notiz an der Pinnwand im Hausflur hinterlassen.
Schon nach zehn Minuten Fahrzeit stieg Pauline an der Haltestelle Leuchtturm aus. Rot-weiß gestreift und stolz ragte der Leuchtturm in den Himmel und lockte sie regelrecht an. Mehrere Touristen umrundeten das Amrumer Wahrzeichen.
Der Wind blies stärker und zerrte an Paulines Jacke und an ihren Haaren, je näher sie dem Leuchtturm kam. Bald stand er vor ihr: vierundsechzig Meter hoch, einschließlich der Düne, auf der er stand, und im Jahre 1875 in Betrieb genommen. Das las Pauline auf dem Hinweisschild. Ebenso erfuhr sie, dass man den Leuchtturm nur vormittags besteigen konnte. In puncto Besichtigungen hatte sie wirklich Pech. Sie hielt ihre Hand über die Augen und blickte rechts und links über die endlos erscheinenden Dünen. Die See war noch mindestens eineinhalb Kilometer von ihrem Standpunkt entfernt, schätzte sie. Vielleicht sogar mehr. Aber das machte nichts, sie würde trotzdem bis ganz nach vorn an die Brandung wandern und weiter bis nach Wittdün. Von dort aus würde sie den Bus zurück nach Norddorf nehmen.
Pauline zückte ihren Fotoapparat und knipste den Leuchtturm, die Dünen, den Strand, das ferne Wasser. Einfach alles, was sie von ihrem Aussichtspunkt aus vor die Linse bekam. Schließlich schob sie den Apparat in ihre Umhängetasche zurück und trank einen Schluck Apfelschorle aus der mitgenommenen Flasche. So, es konnte losgehen. Tief atmete sie die herrlich salzhaltige Seeluft ein und zog den Reißverschluss ihrer Windjacke zu. Fröhlich marschierte sie die Dünen hinab. Sie sank fast bis zu den Knöcheln in den Sand ein. Unten, am Fuß der Großdüne, war es relativ windstill. Doch sobald sie den Dünengürtel hinter sich ließ, blies ein heftiger Wind, der den losen Sand vor sich her in Richtung Wittdün trieb. Pauline setzte die Sonnenbrille auf, um ihre Augen vor umherfliegenden Sandkörnern zu schützen. Sie stapfte quer über den Kniepsand in Richtung Meer, wo die Wellen weiße Schaumkronen trugen und mächtig an Land rollten. Sie liebte dieses Bild, es bedeutete für sie so etwas wie Ungestümtheit und Freiheit. Je näher sie dem Wasser kam, umso heftiger zerrte der Wind an ihr. Sie zog die Kapuze über die Ohren, beugte sich nach vorn und kämpfte sich weiter voran. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so stürmisch sein würde. Aber egal, sie würde nicht aufgeben und wandte sich ein bisschen nach links, um auf ihrem Weg zum Wasser schon ein bisschen die Richtung nach Wittdün einzuschlagen. Ab und an bückte sie sich, hob eine Muschel auf und steckte sie in ihre Jackentasche. Sie keuchte vor Anstrengung, als sie endlich vor der stürmischen See stand. Schwer und laut tosend rollten graublaue Wellen an den Strand. Durch die getönten Brillengläser wirkten sie bedrohlich, fand Pauline. Sie schob die Brille auf die Stirn. Immer noch bedrohlich. Nicht nur die Wellen, sondern auch der Himmel. Blauschwarze Wolken hatten sich aufgetürmt. Wegen der Sonnenbrille und ihrer vornübergebeugten Haltung hatte sie das gar nicht bemerkt. Pauline fuhr zusammen, als plötzlich ein Blitz vom Himmel zuckte. Auweia! Sie hätte auf den Wetterbericht achten sollen. Hoffentlich näherte sich das Gewitter nicht so schnell. In welche Richtung wäre sie am schnellsten in Sicherheit? Eindeutig Wittdün. Die Häuserzeile der Promenade konnte sie deutlich erkennen, aber es würde trotzdem noch eine Weile dauern, bis sie den Ort erreichte. Erste Regentropfen fielen. Pauline zurrte die Kapuze enger und begann zu laufen. Sie musste so schnell wie möglich fort vom aufkommenden Gewitter. Wieder blitzte es aus dem blauschwarz verfärbten Wolkenturm. Trotz der lauten Brandung hörte sie den Donner grollen. So schnell sie konnte, rannte sie über den Strand. Doch an manchen Stellen sank sie knöcheltief ein und kam nur schwer vorwärts. Die Häuserzeile schien nicht näher zu kommen. Was sie noch mehr ängstigte, war die Tatsache, dass sie keinen Menschen entdeckte. Sie schien der einzige Mensch weit und breit zu sein, der sich bei diesem Wetter am Strand herumtrieb. Verdammt! Der Regen wurde stärker und peitschte gegen ihren Rücken. Nach einer Weile war die Jeans durchnässt und klebte an ihren Beinen. Die Jacke hielt auch nicht das, was der Verkäufer ihr versprochen hatte und nach kurzer Zeit spürte Pauline die Nässe auf ihrer Haut. Sie zitterte vor Kälte – und vor Angst. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ein schützendes Dach erreichte? Noch ein paar Hundert Meter schätzte sie, dann hatte sie es geschafft. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei. Den Blick auf den Boden gerichtet stolperte Pauline vorwärts.
Als sie nach einiger Zeit den Kopf hob, sah sie eine Person, die ihr entgegen kam. Noch so ein Wahnsinniger.
„Sind Sie verrückt geworden, bei dem Wetter am Strand herumzulaufen?“, rief die Gestalt, noch bevor sie Pauline erreichte, gegen den Sturm an.
„Es kam so plötzlich.“ Pauline versuchte zu erklären, froh, einen Menschen getroffen zu haben.
„Verdammte Touristen. Nichts als Ärger hat man mit denen!“
Warum musste er derart schimpfen? Pauline konnte von dem Mann außer einer schmalen Nase und einem energischen Kinn nichts erkennen, denn er trug die Kapuze seiner gelben Öljacke tief ins Gesicht gezogen.
„Kommen Sie! Ich bringe Sie in Sicherheit.“ Er griff nach Paulines Hand und zog sie hinter sich her. „Wir müssen uns beeilen.“
Mühsam versuchte Pauline, mit ihrem Retter Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war, denn er war ein ganzes Stück größer als sie. Während sie hinter ihm herstolperte, starrte sie auf seine gelbe Rückseite. Mit so einer Jacke wäre sie sicherlich nicht so durchnässt, schoss ihr durch den Kopf. Aber nein, die hatte sie ja so unmodisch gefunden. Das hatte sie nun davon. Es donnerte wieder und Pauline zuckte zusammen. Hoffentlich waren sie bald in Sicherheit. Endlich hatten sie den Aufgang zur Promenade erreicht.
„Hier entlang! Ich wohne in der Nähe.“ Der Mann zog Pauline die Promenade entlang. Kurz darauf blieb er stehen und zeigte auf ein kleines, geducktes Haus mit großen Panoramafenstern. „Hier ist es. Kommen Sie schnell rein.“
Pauline fiel ein Stein vom Herzen, als sie nach Atem ringend endlich im Trockenen stand. „Danke.“ Sie japste und lehnte sich erschöpft gegen die Haustür.
Ihr Retter schnaubte nur und begutachtete sie von oben bis unten. „Ziehen Sie das besser aus.“
„Wie bitte?“ Pauline starrte ihn entgeistert an.
„Wollen Sie etwa eine saftige Erkältung riskieren? Ich gebe Ihnen ein paar Sachen von mir. Werden zwar nicht passen, sind aber wenigstens trocken.“ Er drehte sich um und verschwand im Nebenzimmer. Auf dem Boden hinterließ er eine nasse Spur, die von der Haustür bis in das Zimmer reichte, in dem er eben verschwunden war.
Pauline wusste, dass er recht hatte. Sie zitterte vor Kälte und wäre froh, endlich aus dem klatschnassen Zeug herauszukommen. Wenn es bloß nicht so unheimlich wäre, dass er immer noch seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Hatte er etwas zu verbergen? Pauline hörte eine Schranktür knarren. Zeit, zu verschwinden! Lieber wollte sie in einem anderen Hauseingang Schutz suchen. Vorsichtig drückte sie die Türklinke nach unten und zog die Tür einen Spalt auf. Gerade zuckte ein Blitz vom Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Ängstlich ließ Pauline die Tür wieder ins Schloss fallen.
„Wo wollen Sie denn hin?“, hörte sie in dem Moment die Stimme des Hausbewohners hinter sich. Zitternd drehte sich Pauline um und starrte ihr Gegenüber ungläubig an. „Paul? Du?“ Erst jetzt, wo er sich seiner triefenden Regenjacke entledigt hatte, erkannte sie ihn. Paul stand mit einem Stapel Kleidung vor ihr und machte ein ziemlich dummes Gesicht. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, während sie mit eiskalten Fingern versuchte, den Knoten des Kapuzenbandes zu lösen.
„Pauline! Ich glaub es nicht!“ Paul ließ den Stapel Klamotten fallen und war in zwei Schritten bei ihr. „Warte, ich helfe dir.“ Kopfschüttelnd löste er den Knoten und schob ihr die Kapuze vom Kopf. „Was machst du nur für Sachen?“, murmelte er und zog sie an sich.
Pauline war nicht fähig zu antworten. In dem Moment, als Paul sie an sich zog, lösten sich Ängste und Anspannung. Tränen der Erleichterung drängten sich in ihre Augen und sie hatte nicht die Kraft, sie zurückzuhalten. Ein heftiges Schluchzen übermannte sie.
„Pst, ist schon gut. Ich bin ja hier.“ Paul strich ihr beruhigend über den Rücken.
Es wirkte. Nach einer Weile hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie den Kopf heben konnte. „Moment, ich muss mal die Nase putzen.“ In den Jackentaschen wühlte sie nach einem Taschentuch. Sie fand zwar ein Papiertuch zwischen den Muscheln, das aber sandig und nass war. Energisch zurrte sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf. Die Tasche schien dem Wetter getrotzt zu haben, wie sie erleichtert feststellte. Die Packung Taschentücher war trocken, der Fotoapparat ebenso. Die Tasche landete auf dem Boden, nachdem sich Pauline die Nase geputzt hatte. Die Jacke ließ sie ebenfalls fallen und blickte Paul an. „Danke. Du hast mich gerettet.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Paul auf den Mund. „Ich hatte fürchterliche Angst“, murmelte sie an seinen Lippen.
„Wieso warst du eigentlich am Strand?“
Paul hob seine Augenbrauen und zog sie Millisekunden später drohend zusammen. Pauline interpretierte seine Mimik als eine Mischung aus Überraschung und Ärger.
„Es war eine verdammt blöde Idee, heute Nachmittag so einen Ausflug zu unternehmen.“ Er schimpfte auch schon los. „Hast du denn keinen Wetterbericht gehört?“
„Nö.“
„Das hätte böse enden können. Gewitter an der See sollte man nicht unterschätzen.“
Pauline wusste, dass Paul recht hatte. Sie atmete tief durch. „Ich weiß. Wenn ich vorher Radio gehört hätte, wäre ich bestimmt nicht aufgebrochen. Aber als ich los bin, schien die Sonne. Ich hatte mich so sehr auf die Strandwanderung gefreut.“
Pauls Blick wanderte von ihrem Gesicht an ihrem Körper entlang. „Du bist völlig durchnässt“, murmelte er. „Du musst unbedingt aus deinen Sachen raus, und zwar schnell.“ Er bückte sich, sammelte die Kleidungsstücke ein und drückte sie ihr in die Hand. Mit dem Kopf wies er den Flur entlang.
„Da hinten rechts ist das Bad. Du kannst auch duschen.“
Als Pauline zögerte, schob Paul sie in Richtung Badezimmer. „Nun mach schon, bevor du dir eine saftige Erkältung holst.“
Schnell schlüpfte Pauline ins Bad und schloss ab. Sie war so froh, dass Paul sie aufgesammelt hatte. Allerdings hatte er ihr nicht verraten, warum er am Strand gewesen war – wo es doch bei Gewitter angeblich so gefährlich war. Pauline zitterte. Sie fror erbärmlich. In Windeseile zog sie sich die nassen Sachen vom Körper und legte sie auf dem Waschbecken ab. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Schwarze Spuren von verlaufener Wimperntusche unter ihren Augen und auf den Wangen ließen sie aussehen, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen. So hatte sie vor Paul gestanden. Wie peinlich. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht, aber es nützte nichts. Da würde nur ordentlich Seife helfen. Sie wandte sich ab und ging unter die Dusche. Minutenlang ließ sie das Wasser, so heiß sie es ertragen konnte, über Kopf und Körper rieseln. Doch warm wurde ihr davon nicht. Vermutlich war die Erkältung schon im Anmarsch. Das hatte sie nun davon.
Pauline beeilte sich. Nach dem Abtrocknen schlang sie sich ein Handtuch um die nassen Haare. Der Jogginganzug, den ihr Paul in die Hand gedrückt hatte, war viel zu groß. Die Ärmel musste sie umkrempeln und den Gürtel aus ihrer Jeans um den Hosenbund binden, damit ihr die Hose nicht über den Hintern rutschte. Aber die Sachen waren warm und vor allen Dingen trocken. Die nassen Teile legte sie zusammen. Vielleicht hatte Paul eine Plastiktüte übrig. Als sie aus dem Bad trat, kam Paul gerade mit zwei dampfenden Tassen aus einem der vorderen Zimmer.
„Komm ins Wohnzimmer. Ich hab uns einen Tee aufgebrüht.“ Er hielt ihr eine Tasse entgegen.
Dankend nahm ihm Pauline die Tasse aus der Hand. Eine heiße Wolke aus undefinierbaren Gerüchen stieg ihr in die Nase. „Was ist das für ein Tee?“
„Geheimrezept meiner Großmutter. Keine Ahnung, was da alles drin ist. Sehr gesund.“
Schmeckte vermutlich grässlich. Sie folgte Paul in einen Raum, der von einer riesigen Fensterfront dominiert wurde. An den Seitenwänden rechts und links des Fensters standen Regale, vollgestopft mit Büchern. Paul schien ein Bücherfreund zu sein. Das gefiel ihr. Eine Sitzecke aus grobem, schwarz-weiß meliertem Stoff lud zum Verweilen ein. Vor der Fensterfront stand ein altmodischer blaurot karierter Ohrensessel. Er passte so gar nicht zur übrigen Einrichtung, war aber dennoch ein schöner Platz zum Lesen oder Faulenzen. Auf dem kleinen dunklen Tisch mit geschnörkelten Beinen lag ein Fernglas.
„Trink, bevor der Tee kalt wird. Dann schmeckt er nämlich nicht mehr“, holte Paul sie aus ihren Betrachtungen in die Gegenwart zurück.
Vorsichtig trank Pauline einen Schluck. Gar nicht mal übel. Sie staunte und nahm noch einen Schluck. Im Nu war die Tasse leer und Pauline stellte sie auf dem Tisch ab.
„Geht es dir besser?“
„Danke, es geht schon wieder. Allerdings ist mir immer noch kalt.“
„Das können wir ändern.“ Paul beugte sich über die Lehne des Sofas und beförderte eine kuschlig aussehende Decke zutage. Die legte er Pauline über die Schultern.
„Wird gleich besser.“
Pauline hielt die Decke vor ihrem Brustkorb zusammen. Pauls Fürsorge rührte sie. „Danke.“
„Setz dich doch, ich hole noch einen Tee.“ Er wies lächelnd in Richtung Couch, nahm Paulines Tasse und schlenderte aus dem Zimmer.
Pauline entschied sich für den Sessel am Fenster. Immer noch regnete es stark und ab und an zuckten Blitze aus dunkelgrauen Wolken, worauf bedrohliches Donnergrollen folgte. Aber hier bei Paul fühlte sie sich sicher und geborgen. Von ihrem gemütlichen Platz am Fenster aus konnte sie das Geschehen am Himmel beobachten, ohne sich fürchten zu müssen.
Paul stutzte, als er zurückkam. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. „Du hast dir meinen Lieblingsplatz ausgesucht.“
Rasch sprang Pauline auf. „Oh, das wusste ich nicht.“
„Ist in Ordnung, bleib sitzen. Hauptsache, du hast es bequem.“ Er stellte Paulines Teetasse auf den kleinen Beistelltisch und blieb neben dem Sessel stehen. „Ich sehe oft hinaus aufs Meer“, gestand er. „Dabei habe ich dich, beziehungsweise eine verrückte Person, die sich am Strand herumtrieb, durchs Fernglas entdeckt. Diese Unvernunft hat mich wütend gemacht, aber ich musste einfach helfen. Schließlich konnte ich nicht zusehen und abwarten, ob es diesem Menschen gelingen würde, heil in den Ort zu kommen.“ Schon wieder umwölkte sich Pauls Stirn, schon wieder schien er sich über ihre Unvernunft zu ärgern.


