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Bei Mr. und Mrs. Mason bekommt die abgemagerte Josephine ausreichend zu essen, ein Bett und wird neu eingekleidet, sie bekommt sogar freie Zeit zum Spielen und Lernen – dieses Mal scheint Josephine Glück gehabt zu haben. Sie erholt sich, ihre Schulnoten werden besser, sie nimmt auch wieder etwas zu, doch sobald sie bei Kräften ist, zerbricht auch dieses Glück: Mr. Mason beginnt nachts in ihr Zimmer zu kommen und wird übergriffig. Thumpie ist verwirrt und fragt Mrs. Mason in kindlicher Naivität, ob ihr Mann krank sei, er würde nachts stöhnend bei ihr am Bett stehen. In anderen Versionen der Geschichte hält sie ihn für ein Gespenst. Josephine wird nach Hause zurückgeschickt, doch weder Carrie noch ihr Stiefvater Arthur zeigen Verständnis, vielmehr werfen sie ihr vor, unfähig zu sein, eine so gute Chance zu nutzen: „Meine Mutter ist wütend: ‚Na da hört sich doch alles auf! Du kannst nirgends bleiben, wo du es gut hast!‘ Ich erkläre die Sache mit dem Gespenst, und Arthur lacht, bis ihm die Tränen kommen. ‚Mein Gott ist das Kind dumm! Mein Gott, was ist sie dumm!‘ Ich wundere mich, weil Mrs. Manson gesagt hat, ich sei intelligent, und weil die Weißen den Schwarzen nicht oft Komplimente machen, aber er wird wohl recht haben: es gibt so vieles, was ich an den großen Leuten nicht verstehe.“14
Als Anführerin ihrer Straßengang, als Mutterersatz für die kleinen Geschwister und als Santa Claus – manche Rollen verklärt Josephine noch Jahre später, doch der Existenzkampf in bitterarmen und schwierigen Lebensverhältnissen ist hart. Es gibt keine stabile Größe in ihrem Leben: Die Mutter schickt sie immer wieder weg, wenn sie eine Stelle in Aussicht hat, der Stiefvater ist kein verlässlicher Ernährer, der eigene Vater ist abwesend, ihr Spielplatz ist die Straße und positive Vorbilder außerhalb der Familie fehlen. Die Gesellschaft ist nicht durchlässig, für ungelernte Arbeiter gibt es kaum Chancen auf eine Besserung der Lebensverhältnisse, für schwarze ungelernte Arbeiter kommt die strikte Rassentrennung erschwerend hinzu, die meisten Familienbiografien werden von Generation zu Generation weitergegeben.
Auch Josephine wählt den traditionell naheliegenden Weg für junge Frauen: Mit 13 beschließt sie, den nur wenig älteren Willie Wells zu heiraten.15 Doch der Versuch, sich von den Konflikten mit ihrer Familie zu befreien und ihrem Leben durch (vermeintliche) Selbstbestimmung eine andere Richtung zu geben, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Josephine spielt Hausfrau, Ehefrau und werdende Mutter. Sie dekoriert das kleine Zimmer, das sie mit Willie bewohnt, sie putzt, sie kocht, beginnt Babykleidung zu stricken und organisiert sogar ein Babybett – alles, ohne schwanger zu sein. Nach nur wenigen Monaten endet die Ehe in einem Streit, als Willie ihre Lüge aufdeckt. 1921 folgt eine zweite Ehe mit dem Zugbegleiter William Baker. Ihre Ehe wird wegen Lizenzproblemen in Camden, New Jersey, geschlossen. Josephine macht falsche Angaben zu ihrem Alter, verheimlicht ihre erste Ehe und gibt ihren Eltern falsche Namen, wie aus dem Hochzeitsregister hervorgeht. Dort ist festgehalten: William Howard Baker (23 Jahre alt; unverheiratet; farbig; Geburtsort: Gallatin, Tennessee; Vater: Warren Baker; Geburtsname Mutter: Mattie Wilson) schließt die Ehe mit Josephine Wells (19 Jahre alt; unverheiratet; farbig; Geburtsort: St. Louis, Missouri; Vater: Arthur Wells; Mädchenname der Mutter: Carrie Martin).16 Auch diese Ehe hält nicht lange, aber mittlerweile hat Josephine Baker ohnehin einen anderen Fluchtweg gefunden: Die Bühne.
Die „Kleine mit den Schielaugen“ betritt die Bühne
„Ich wurde Tänzerin, weil ich in einer kalten Stadt geboren bin und während meiner ganzen Kindheit entsetzlich gefroren habe.“
Ihre ersten Shows inszeniert Josephine schon mit knapp sechs Jahren im Keller des Hauses ihrer Mutter in St. Louis, wie eine Schulfreundin, Joyce McDuffy, berichtet: „Thumpie konnte ziemlich nerven. Ständig machte sie sich über andere Kinder lustig und streckte ihnen die Zunge heraus. Sie war immer schmutzig, aber das bekümmerte sie nicht. In der Schule spielte sie uns ständig kleine Streiche, schielte und machte Grimassen, die uns Schüler zwar zum Lachen brachten, aber eben auch den Unterricht störten.“17 Von ihren Lehrern lässt Josephine sich nicht bändigen, und ihr Mitschüler-Publikum liebt sie dafür.
Gemeinsam mit Joyces älterem Bruder, Robert, bringt sie eine Show für die Nachbarskinder auf die Bühne. Im Keller improvisieren sie die McDuffy’s Pin and Penny Poppy Show. Für eine Nadel oder einen Penny darf man ihnen beim Tanzen zusehen. Die Nadeln werden gebraucht, um die Bühnendekoration und die Kostüme zu drapieren, Pennys sind eher selten. Josephines Version, dass sie immer getanzt hat, um nicht zu frieren, ist eine typisch wirkungsvolle Verkürzung ihrer Lebensgeschichte. Joyces Erinnerung ist differenzierter: „Robert war der große Produzent, der die Aufführungen plante und am Eingang kassierte. Thumpie und ich bekamen nichts für unsere Auftritte, aber wir liebten sie. Wir beide stellten uns vor, später einmal Tänzerinnen zu werden.“18

Im Wachsfigurenkabinett auf Schloss Les Milandes, das ein Josephine-Baker-Museum beherbergt, sind Szenen aus Josephines Leben nachgestellt. Hier eine Szene, wie sie im Keller in St. Louis für Nachbarskinder tanzt.

Josephine mit schwarz geschminktem Gesicht in der Broadway-Show „The Chocolate Dandies“, 1924.
Exkurs: Vaudeville
Zwischen 1880 und dem Aufkommen des Tonfilms in den 1920er-Jahren blüht in den USA die Unterhaltungsindustrie des Vaudeville – eines bunten Theatermix’ aus Musik, Tanz, Komik und Akrobatik –, das sich seit dem Ende des Bürgerkriegs auch von Schwarzen für Schwarze etablieren kann. Hinzu kommt ein Entwicklungssprung der populären Musik, die etwas später Jazz heißen wird und aus den schwarzen Musiktraditionen des Spirituals, Gospels, Blues und der Straßenmusik der New Orleans Marching Bands hervorgeht und von den Südstaaten auf die Musik in ganz Amerika ausstrahlt.
Bereits 1893 publiziert Antonín Dvořák darüber eine interessante Beobachtung während seines dreijährigen USA-Aufenthalts: „Ich bin inzwischen überzeugt, dass die zukünftige Musik dieses Landes auf den sogenannten Negermelodien gründen muss. Hier muss das wahre Fundament jeder ernsthaften und eigenständigen Kompositionsschule liegen, die in den Vereinigten Staaten entwickelt werden soll. (…) Alle großen Musiker haben Anleihen bei der Musik der einfachen Leute gemacht. (…) In den Negermelodien Amerikas entdecke ich alles, was für eine große und edle Schule der Musik von Nöten ist. Sie ist pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, ernst, religiös, kühn, heiter, fröhlich, was immer man will. Es handelt sich um eine Musik, die sich jeder Stimmung, jedem Zwecke anpassen kann. Im gesamten Bereich der Komposition gibt es nichts, was sich nicht aus den Themen dieser Quelle schöpfen ließe.“19
Eine ähnliche Analyse formuliert Leonard Bernstein 1939 als Harvard-Absolvent in seinem Essay „The Absorption of Race Elements into American Music“,20 wobei er neben der fruchtbaren Kombination musikalischer Quellen und Traditionen vor allem auch die positive Wirkung der schwarzen Musik auf die afroamerikanische Bevölkerung betont, deren Selbstbewusstsein durch die Akzeptanz ihres kulturellen Erbes des weißen Amerikas gestärkt wird. Doch Bernstein stellt auch die Frage, wie die Kultur eines Zehntels der Bevölkerung, noch dazu einer rassistisch unterdrückten und verfolgten Minderheit, einen solchen Einfluss gewinnen konnte, und geht über Dvořák Analyse hinaus: Er erkennt zwar auch an, dass analog zur europäischen Tradition der Klassik, die organisch aus nationalen Wurzeln gewachsen ist, indem Volkslieder als Kompositionsquellen dienten, in Amerika die spirituell aufgeladene Musik der Schwarzen Eingang in „das allgemeine, gemeinsame amerikanische Musikmaterial“ findet. Er geht aber über diese, auf das Material konzentrierte Sichtweise hinaus, weil er in dem freien Umgang mit diatonischen Tonleitern, dem Verzerren von Klangfarben und den sich überlagernden Rhythmen des Jazz den Erneuerungswillen der amerikanischen Gesellschaft entdeckt. Daraus resultiert eine gesamtgesellschaftliche Relevanz der Jazzmusik für Amerika.21
In St. Louis setzt der Einfluss durch Musiker aus New Orleans – der Wiege des Jazz – um 1900 ein. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 sind die Mississippidampfer das Transportmittel von Gütern und für Reisende – für Besitzer und Betreiber der River Boats eine wahre Goldgrube. Doch während der fünf Kriegsjahre stagniert der Verkehr und danach verlagert sich das Transportgeschäft auf die Schienen der neuen Bahntrassen. Findige Unternehmer aus St. Louis, wie etwa die Brüder Strekfus, ändern darum ihr Geschäftsmodell und wandeln ihre Transportschiffe in Ausflugsdampfer um, jeder mit einer festen Band an Bord, um die Reisenden zu unterhalten. Zu Beginn setzen die Strekfus auf Musiker aus ihrer Heimatstadt, doch mit wachsendem Erfolg engagieren sie einen ihrer Bandleader, Fate Marable, als Talentscout. Die Strekfus Line bringt über die Jahre die Pioniere der Jazzmusik von New Orleans nach St. Louis: Warren „Baby“ Dodds, der erste bedeutende Schlagzeuger des Jazz, sein Bruder Johnny Dodds, Klarinettist, Pops Foster, einer der ersten bedeutenden Jazz-Bassisten, und schließlich 1919 Louis Armstrong.
In St. Louis ist der Old Chauffeur’s Club einer der Hotspots für schwarze Entertainer. Etwa ab 1920 hört Josephine dort, während sie kellnert, die besten Musiker spielen, das Programm der Hausband, der Powell’s Jazz Monarchs, und die Improvisationen der Gäste, die spontan zu ihren Instrumenten greifen und singen. An ihren freien Sonntagen besucht sie das Booker T. Washington Theatre, ein Vaudeville für Schwarze. Hier treten die Dixie Steppers auf und viele der Shows, die durch das Land tingeln, geben ihre Gastspiele. Seit 1920 organisiert vor allem die Theatre Owners‘ Booking Association Auftritte von schwarzen Künstlern im Süden und Mittelwesten und prägt das Entertainment mit so großem Erfolg, dass bald weiße Künstler die Unterhaltungsform des Vaudevilles übernehmen und salonfähig machen. Die Zeit für ein schwarzes Mädchen, als Showgirl Erfolg zu haben, ist Anfang des 20. Jahrhunderts nicht die schlechteste, und St. Louis ist ein idealer Ort, eine Karriere zu starten.
Im Old Chauffeur’s Club gewöhnt sich Josephine an, die Gäste mit kleinen Showeinlagen zu unterhalten, die sie den Profis abschaut und auf ihre Weise interpretiert. Die knapp Vierzehnjährige entdeckt die Wirkung der Koketterie. Sie singt Liedzeilen nach, tanzt dazu ein paar Schritte und schneidet Grimassen – sehr zum Amüsement des Publikums und sehr zum Gefallen von Old Jones. Old Jones ist der Saxofonist eines Trios, das unter dem Namen The Jones Family Band durch die Straßen tingelt, ohne festes Engagement, aber mit einem recht gut funktionierenden Erfolgsrezept: Die Jones Family positioniert sich vor den Eingängen zu den Theatern der Stadt und unterhält die Wartenden, solange sie vor dem Einlass Schlange stehen. Old Jones sieht in Josephine eine Bereicherung seiner Show und sie akzeptiert ohne zu zögern sein Angebot, kündigt ihren Job im Old Chauffeur’s Club und wird Teil der Jones Family.
Die Zwischenschritte in der sich von nun an rasch entwickelnden Karriere von Josephine sind von zahlreichen Legenden überlagert, denn nahezu jeder, der in den Anfängen mit ihr gearbeitet hat, beansprucht im Nachhinein seinen Anteil an ihrem Erfolg. Fakt ist, dass Josephine als Vierzehnjährige 1920 ihre ersten Auftritte im Booker T. Washington Theatre hat, weil dessen Manager, Red Bernett, sich in einer Notsituation befindet: Er hat die Dixie Steppers engagiert, deren Komikerpaar sich beim letzten Gastspiel allerdings zerstritten hat und die nun mit einer Nummer zu wenig in St. Louis ankommen. Die Jones Family, die er kennt, weil sie regelmäßig vor seinem Haus spielt, soll diese Lücke füllen. Jahre später beschreibt er Josephines Auftritte überzeichnet: „Sie wirkte so winzig, wenn sie vor der Menge stand und sang. Ihre Stimme war schön, ähnlich der von Diana Ross. Sie war genauso ergreifend. Man konnte sehen, dass sie arm war. Und ehrlich gesagt, hatte ich darum meine Bedenken, sie auf die Bühne zu holen.“22
Wie auch immer, Josephine hat es auf die Bühne des Theaters geschafft, in dem sie bis dahin an ihren freien Tagen im Publikum stand. Mit Begeisterung performt sie alle Schritte, Gesten und Grimassen, die sie sich in den Jahren zuvor als Zuschauerin hier abgeschaut und angeeignet hat. Ihre erste Rolle ist der Cupido in einem Melodrama mit dem Titel Twenty Minutes in Hell. In der Szene im Himmel ist vorgesehen, dass Josephine an einem Seil vom Schnürboden herabgelassen wird und anmutig durch die Kulisse „fliegt“. Doch die Flügel ihres Kostüms verheddern sich mit dem Seil und ihr Auftritt ist ein einziges hilfloses Gezappel. Die Menge ist begeistert von der unbeabsichtigten Komik, und der Produzent der Dixie Steppers, Bob Russell, erkennt ihr Potenzial. Er nimmt die Jones Family als festen Bestandteil in die Show der Dixie Steppers auf, und Josephine amüsiert von da an jeden Abend das Publikum als Liebesgott – für einen Wochenlohn von bis dahin unvorstellbaren neun Dollar.
Auf Tour
„Ich bin davongekommen. Mit geschlossenen Augen träumte ich von Städten im Sonnenlicht, von wunder vollen Theatern, von mir im Scheinwerferlicht.“
Als das Gastspiel in St. Louis endet, reisen die Dixie Steppers weiter zur nächsten Station ihrer Tournee. Niemand hält Josephine zurück, niemand kommt zum Bahnhof, um sie zu verabschieden, tatsächlich weiß auch niemand, dass sie St. Louis als Mitglied der Jones Family verlässt. Nur Margaret ist eingeweiht, doch sie behält die Pläne ihrer großen Schwester so lange für sich, bis der Zug mit Josephine schon lange abgefahren ist. Carries Kommentar verbirgt nicht die Erleichterung, eine Verantwortung los zu sein: „Sie hat ihren Weg gewählt. Lassen wir sie.“23
Die Tour geht in den Süden bis New Orleans und von dort nach Norden bis Philadelphia – von einem Theater zum nächsten, meist über Nacht im Zug, um Kosten zu sparen oder weil es vor allem im Süden für Schwarze in manchen Städten fast unmöglich ist, ein Zimmer zu bekommen. Die Schilder an Restaurants, Toiletten und Kinos sprechen die eindeutige Sprache der Rassentrennung – „whites only“ –, und da sich überhaupt nur sehr wenige Schwarze ein Hotelzimmer leisten können, ist das Angebot an Hotels entsprechend dünn. In Memphis etwa leben 40 Prozent Schwarze und es gibt vier Vaudevilletheater, aber die Dixie Steppers, die hier für sieben Wochen gastieren, müssen in eine Privatpension für Schwarze ausweichen.
Doch auch wenn das Reisen anstrengend ist, die Zimmer schmutzig und die Theater schäbig – Josephine darf tanzen, verdient Geld und bekommt Applaus, vor allem aber ist sie Teil einer Theatertruppe: „Ich gehöre zur Familie. Alle schwatzen jetzt, lachen, erzählen Geschichten, die samt und sonders auf der Bühne oder hinter den Kulissen spielen und deren Pointen ich nicht immer mitbekomme. Aber eines bekomme ich mit: die jungen Männer und Mädchen sprechen eine freie, höchst witzige Sprache; alle rauchen blonde Zigaretten und schlagen die Beine weit übereinander, ohne Rücksicht darauf, was dabei alles zu sehen sein mag.“24 Für Josephine ist der Auf- und Ausbruch aus dem bisherigen Leben vor allem ein Abenteuer, dessen tatsächliches Risiko sie noch nicht einschätzen kann, denn neben Rassentrennung, Ku-Klux-Klan und den grundsätzlichen Unstetigkeiten und Gefahren eines reisenden Künstlerlebens gilt ein „Showgirl“ als „leichtes Mädchen“. Wie viel Josephine davon mitbekommt, ob die Gruppe sie schützt, darüber lässt sich nur spekulieren. Sie selbst berichtet jedenfalls nicht über die Schwierigkeiten der Anfänge, darüber, ob sie einsam ist oder Angst hat. Wenn sie dazu befragt wird, dann resümiert sie: „Ah, wie lustig ist doch das Künstlerleben.“25
Die Tour der Dixie Steppers wird von der TOBA (Theater Owner’s Booking Association) organisiert, eine der großen Agenturen, die das Vaudevilletheater professionalisieren und durch die um 1920 weibliche schwarze Sängerinnen wie Bessie Smith („Kaiserin des Blues“), Ethel Waters (erste afroamerikanische Sängerin mit eigener TV-Show) und die Blues-Sängerin Clara Smith (die „Königin der Wehklage“) reüssieren. Als Josephine Baker bei den Dixie Steppers aufgenommen wird, ist Clara Smith der unangefochtene Star der Truppe. In einem seiner legendären Musik-Essays beschreibt sie der Fotograf und Autor Carl van Vechten: „Ihre Stimme, die beim Schluchzen der Viertelnoten fast zu ersticken droht, ist herzerweichend. Ihre expressiven und zugleich zurückhaltenden Gesten sind unvergleichlich. Was für eine Künstlerin!“26
Clara Smith sieht etwas in Josephine und nimmt sich des jungen Mädchens an. Clara ist ein Star mit den entsprechenden Allüren. Ein Star muss kompliziert und anspruchsvoll sein, sonst wird er nicht ernsgenommen, ist eine ihrer Lektionen. Aufwändige Kostüme, hohe Schuhe, Seidenstrümpfe, Schmuck und Make-up sind eine unerlässliche Ausstattung, durch die man das männliche Publikum verführt. „Sie trug sehr kurze, enganliegende, durchsichtige Kleidchen über einem zarten rosa Höschen, hauchdünne Strümpfe und Schuhe mit Absätzen.“27 Und eine Sängerin muss penibel darauf achten, den besten Pianisten als Begleiter zu haben, dadurch wertet man sich auf.
In jungen Jahren haben diese Grundsätze Josephine beeindruckt, als sie selbst ein Star ist, greift sie wie selbstverständlich auf einige von Claras Tipps zurück – und erweitert ihr Repertoire um ausgefallene Details. Doch Josephine lernt in diesen frühen Tagen auch, dass ein Star sich durch sein Verhältnis zum Publikum auszeichnet, dass ein Star die Aufmerksamkeit des Publikums so sehr liebt, dass die Bühne Suchtcharakter hat. Wem das nicht gegeben ist, den erreicht die Magie der Show nicht, der entwickelt keine Magie, um das Publikum zu verzaubern. Für die Revuetänzerinnen, entdeckt sie, schien „der Applaus, die Gier des männlichen Publikums, die Pfiffe, das Lachen, das Weinen, (…) nie hinter die Bühnenbeleuchtung zu ihnen durchzudringen. Sie tanzten nur, um nicht hungern zu müssen.“28 Für sie selbst ist jeder Auftritt ein Rausch. „Die Blicke des Publikums, das mich anschaute, elektrisierten mich.“29
Nach sieben Wochen in Memphis ziehen die Dixie Steppers weiter nach New Orleans. Im New Orleans Item werden sie wie folgt angekündigt: „Ab nächsten Montag: BOB RUSSELL und seine 25 schärfsten Dixie-Nigger“.30 Dass „Nigger“ eine abfällige, diskriminierende Bezeichnung für Schwarze ist, darüber regt sich zu dieser Zeit niemand auf. Die Probleme der Rassendiskriminierung sind in so vielen Bereichen vorhanden, dass Sprache noch zu den „Luxusproblemen“ gezählt wird, mit denen keine Zeit zu verschwenden ist.
Josephine ist von New Orleans begeistert, hier steht sie zum ersten Mal in einem gut ausgestatteten Theater auf der Bühne. Bei Zwischenstationen in kleinen Theatern auf dem Weg dorthin werden ihre Auftritte als Cupido häufig gestrichen, weil die Theater zu klein und so schäbig sind, dass kein Deckenboden vorhanden ist, um ein Seil festzubinden. In New Orleans spielen die Dixie Steppers im The Lyric, einem großen, gut ausgestatteten Haus mit einem Marmorfoyer, einer fast zwölf Meter tiefen hydraulischen Hebebühne und einem großen Orchester. Doch Josephines anfängliche Begeisterung schwindet, als sie erfährt, dass die Balkonszene mit ihr als Liebesgott endgültig aus dem Programm gestrichen ist. Sie ist in der Zwischenzeit gewachsen, sozusagen aus ihrer Rolle herausgewachsen, und Bob Russell, der Manager, hat auch keinen Ersatz vorgesehen. Da die Jones Family nach Ende des Engagements in New Orleans bleiben wird, schlägt er ihr vor, doch bei ihrer ursprünglichen Truppe zu bleiben – doch da hat er nicht mit Josephines Eigensinn gerechnet: Nachdem weder Bitten noch Tränen ihn erweichen, schlüpft sie in einem unbeobachteten Moment in eine der Transportkisten der Dixie Steppers, deren Deckel noch nicht vernagelt ist. Per „Cargo“ verlässt sie New Orleans in Richtung Philadelphia. Als sie beim nächsten Halt entdeckt wird, ist Bob Russell außer sich vor Wut, doch Josephine alleine nach New Orleans zurückzuschicken, kommt auch nicht in Frage. Was tun?31
Darüber wie es weitergeht, gibt es die eine Version, dass Josephine sich hinter der Bühne in Arbeit stürzt und nützlich macht, wo sie kann: „Ich nähte, bürstete Kostüme, polierte Schuhe, bügelte, kämmte Haare, hängte Kleider auf, hängte Kleider ab, schnürte, knöpfte … hing auf, legte aus, packte ein, packte aus.“32 In einer anderen Version verletzt sich eine Tänzerin und Josephine darf als Showgirl am Ende der sogenannten Chorus Line, in der die oft sehr jungen Frauen synchron eine einfache Choreografie darbieten, einspringen. Sie trägt ein viel zu großes Paillettenkleid und obwohl sie die Schritte genau kennt, geht ihre Tanzlust mit ihr durch. Sie wirbelt über die Bühne, wirft Arme und Beine in die Luft, macht wilde Grimassen und improvisiert nicht das Showgirl, sondern den Clown am Ende der Chorus Line. Das Publikum rast vor Begeisterung und Bob Russell lässt sie von nun an jeden Abend ihre Nummer „tanzen“.
Als die Dixie Steppers 1921 die Stadt verlassen, bleibt Josephine in Philadelphia. Josephine darf ihre Clown-Rolle bei der Sandy Burn’s Company, der festen Truppe des Standard Theatre, weitertanzen – sie macht einen weiteren Versuch sesshaft zu werden und heiratet im September Billy Baker. Alles scheint zunächst gut zu laufen: Das Paar wohnt bei Billys Familie, die ein gut gehendes Restaurant betreibt, und Josephine baut ihre Performance aus.
Josephines Tanz ist von Anfang an vielschichtig: Zu allererst hat sie einen sehr intuitiven Zugang zu Musik und versteht ihren Körper als weiteres „Instrument“: „Ich höre der Musik zu und tu, was sie mir sagt.“33 Hinzukommt die Tradition der schwarzen Tänze wie Shimmy, Shake, Quiver, Grind und Mess Around, die Josephine (später) mit Charlston-Elementen mischt. Sie tanzt alles „cool“, also mit schnellen und wilden Bewegungen aller Körperteile, im Gegensatz zu „hot“, mit schnellen Schritten. Ein Zuschauer beschreibt das so: „Sie streckt ihren Bauch raus, sie schwingt ihre Hüften, verdreht ihre Arme und Beine und wackelt mit dem Po.“34 Zu all dem zieht sie Grimassen, sie schielt und immer wieder lacht sie über sich selbst. Damit folgt sie einer Tradition, die vor ihr die Tänzerin Mama Dinks geprägt hat. Bereits Jahre vor Josephine hat diese als unangefochtener Star der Chorus Line gezeigt, wie man erfolgreich aus der Reihe tanzt: Wild kostümiert, mit goldenem Lippenstift mischt sie effektvoll selbstironische Komik mit erotischen Parodien, tanzt den Bellydance und den Chicken Walk mit schlenkernden Armen, schielend und grimassierend, um schließlich einen Bühnenabgang mit gebeugten Knien zu machen, mit dem rausgestreckten Po wackelnd.35
Shuffle Along!
„Wenn du ein ganz normales Mädchen ohne Geld warst, gab es nur drei Möglichkeiten der Armut zu entkommen: als Dienstmädchen, Prostituierte oder als Tänzerin.“
Die Bühne, ganz gleich in welcher größeren Stadt, ist zu dieser Zeit das Ziel aufstrebender schwarzer Kunstschaffender. Noch immer herrscht bei Vorführungen die Segregation: Weiße spielen für Weiße. Schwarze spielen für Schwarze. Eine Ausnahme bilden schwarze Musizierende, die als Band in Restaurants und Bars auftreten. Als Weißer eine schwarze Show zu besuchen, ist noch immer ein Tabu.36
Doch ein Ausweg aus dem Dilemma, dass bis 1920 kein Weißer sich nach „unten“ ins Parket setzt, während „oben“ auf der Bühne ein schwarzer Künstler steht, das Interesse an Jazz und dem dazugehörigen Bühnenspektakel allerdings auch außerhalb der schwarzen Community vorhanden ist, sind die sogenannten Minstrel Shows: Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts adaptieren (zumindest im Norden der USA) weiße Künstler die Tänze und Showeinlagen von Schwarzen, sie spielen Jazzmusik und sie malen sich schwarz an. Dieses aus heutiger Sicht ausgesprochen fragwürdige „Blackfacing“ zeigt über die Jahre Wirkung – die Kultur der Schwarzen wird durch weiße Darstellende, die das Klischee eines Schwarzen auf die Bühne bringen, salonfähig. Beschleunigt wird der Prozess von der sich wandelnden Musikindustrie, die Jazzmusiker populär macht. Jazzplatten werden zu Bestsellern, und am Broadway hält Jazz Eingang in die neuen Musical-Produktionen. Komponisten und Musiker wie Irving Berlin, Jerome Kern, Cole Porter, Richard Rodgers und Paul Whiteman machen Karriere – und alle sind weiß.