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Wir waren fremd, aber wir wollten alles versuchen, um anzukommen. Ich lernte Menschen kennen, die mir dabei halfen, mich besser zurechtzufinden. Da war der nette Deutschlehrer, der nie seine Geduld verlor. Da waren die Betreuer im Hamerlingpark, bei denen wir uns Bälle und Spielzeug ausleihen konnten, und wo wir etwas zu Mittagessen bekamen. Es war die glücklichste Zeit, an die ich mich zurückerinnern kann. Es war eine Zeit ohne Gefahr, dieser zweite Teil meiner Kindheit.
Im Gazastreifen, noch einen Monat vorher, war es nie einfach nur draußen sein, einfach nur Fußball spielen. Es war immer alles begleitet von diesem Gefühl, dass jederzeit alles passieren konnte. Die wenigen Fußballplätze, die es in Gaza-Stadt gibt, sind umgeben von großen Parks, Gärten, in denen Orangen- und Apfelbäume stehen. Während des Krieges verstecken sich dort die Kämpfer, schießen von diesem Punkt aus ihre Raketen ab, und werden dadurch selbst zur Zielscheibe. Wir wussten das, aber wir spielten trotzdem weiter, so wie wir immer gelernt hatten, weiterzumachen.
Eines Tages liefen meine Freunde durch unsere Straße. Sie riefen mich ans Fenster: »Komm, Osama, wir gehen Fußball spielen.«
Ich wollte schon schnell meine Schuhe anziehen, als mich jemand aufhielt. Ich weiß heute nicht mehr, wer es war, meine Mutter, meine Großmutter, aber jemand hielt mich auf. Ich sollte erst noch etwas erledigen, bevor ich spielen gehen durfte. An die Gesichter meiner Freunde unter dem Fenster, erinnere ich mich dafür umso genauer. Manche von ihnen sah ich da zum letzten Mal. Mein Bruder Mansor und ich waren etwa hundert Meter von dem Fußballplatz entfernt, als die Bomben kamen. Eine Bombe landete in der Mitte des Fußballplatzes, wie in das Herz unserer Kindheit. Sie waren gerade mitten im Match, als sie starben. Wir sammelten später die Leichenteile ein und wussten nicht einmal, zu wem sie gehörten.
Ich war also dankbar dafür, wo ich jetzt war. Was hätte ich auch anderes sein können? Verschloss ich deshalb die Augen für alles andere, was um mich herum passierte? Ich glaube nicht. Ich war ein Kind, und ich wollte nur noch nach vorne sehen. Die meisten von uns, die als Flüchtlinge kamen, wollen das. Ich wollte nur nach vorne sehen, mit offenem Herzen.
Natürlich hatten uns nicht alle so herzlich willkommen geheißen. Es gab die, die mit dem Kopf schüttelten, sobald sie uns sahen, die, die fanden, wir wären zu laut und die, die der Meinung waren, solche wie wir, was auch immer das heißen sollte, hätten in den Parks nichts verloren. Ich verstand damals noch nicht alles, was sie sagten. Vielleicht war das besser so. Es gab Kinder unter uns, die die Worte, die sie uns zuriefen, schon besser verstanden. Dann ballten sie ihre kleinen Fäuste und bekamen wütende Augen. Manchmal schrien sie etwas zurück. Aber wir sprachen nie darüber. Es war, als hätten wir keine Worte dafür. Nicht auf Deutsch und nicht in unserer Sprache. Ich tat es einfach als die üblichen Kämpfe ab, die es zwischen Kindern und Erwachsenen wohl überall auf der Welt gab. Ich lachte in ihre Gesichter und natürlich ließ ich mich nicht aus dem Park werfen. Wenn ich eines gelernt hatte, dann war es neben der Dankbarkeit das: Nur nichts gefallen lassen.
Heute weiß ich, dass es für diese Dinge, die ich damals noch nicht verstanden habe, Worte gibt. Dass es eine Ungerechtigkeit ist, wenn man beschimpft und angeschrien wird, weil man dunkle Haare, dunkle Augen hat, eine andere Sprache spricht. Menschen, die nicht davon betroffen sind, denken immer, dass die erste Erfahrung mit Rassismus ein großes, einschneidendes Erlebnis ist. Oft sind es aber einfach die Erlebnisse, die man nicht zuordnen kann. Man kann spüren, dass etwas falsch läuft, aber es ist wie in Nebel getaucht. Man findet keine Worte dafür und dann wird das, was vorgefallen ist, weggewischt, von einem selbst und anderen, so als hätte es diese Vorkommnisse nie gegeben. Es fällt zu schwer, sie zu benennen. Auch heute als erwachsener Mann fällt es mir schwer. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind überall. Gleichzeitig klingen diese Worte oft selbst fremd in meinen Ohren. Sie schaffen eine Distanz, die es für uns Betroffene so nicht gibt. Denn wir benennen es ja nicht nur, wir erleben es. Tagtäglich, immer wieder. Und es muss aufhören. Als ich hier ankam, hatte ich nur ein Ziel. Hierbleiben, arbeiten, eine Familie gründen, ein Haus finden, eines Tages die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Das waren meine Träume. Ich wollte mich nicht ablenken lassen.
Ich bin geblieben.
2. November 2020, 05.45 Uhr
Es ist noch dunkel im Zimmer, als mein Wecker klingelt. Ich bin sofort wach. Habe ich überhaupt geschlafen? Aber immerhin hatte ich mal keine Albträume. Die ganze Nacht war ich in diesem seltsamen Zustand, nicht wach aber auch nicht im Schlaf. Meine Augen brennen. Ich hasse diese Frühdienste. Neben mir schläft Nada noch, wie immer. Ihr Atem ist ganz ruhig. In meinem Kopf kreisen die Gedanken, wie in einem Fiebertraum. Ein paar Tage ist meine Verlobung jetzt her und ich sollte der glücklichste Mann der Welt sein. Aber in dieses Glücksgefühl, in das Glucksen in der Magengegend mischt sich etwas anderes. Eine hohe, grelle Stimme, die fragt: Weißt du, was diese Entscheidung für dein Leben bedeutet? Glaubst du, du wirst es schaffen, dieser Verantwortung, Nada gerecht zu werden? Es ist doch seltsam. Monatelang hatte ich auf diesen einen Tag gewartet, und jetzt fühlt es sich so an, als würde ich Jahre brauchen, bis ich wirklich verstanden habe, dass wir für immer zusammen sein werden. Ich drehe mich noch einmal im Bett um und sehe in Nadas schönes Gesicht. Wie ihre Wimpern flattern, das leichte Lächeln um ihre Lippen. Ich frage mich, ob Nada sich wohl dieselben Gedanken macht. Wahrscheinlich nicht. Bei ihr wirkt alles immer so leicht, so sicher. Ich fahre mit den Händen über mein Gesicht, reibe mir Leben ein.
14.30 Uhr
Während der Arbeit kann ich an nichts anderes denken, als an mein Bett zuhause. Die Müdigkeit löst alle Gedanken an Verantwortung, an Liebe auf. Sie wickelt alle Zweifel in nur einen großen, dumpfen Wunsch ein: endlich schlafen zu können. Als ich mit allem fertig bin und am Karlsplatz gerade in die U-Bahn steigen möchte, ruft mich Rashid an. Rashid ist ein guter Freund von mir.
»Osama«, sagt er zu mir, »kannst du mir helfen? Ich schaue mir heute noch eine Wohnung an, in der Kettenbrückengasse«. Ich kann nicht aufhören zu gähnen. Rashid hört es. »Wenn du zu müde bist, dann macht es nichts, ich schaffe es auch so«, sagt er schnell, aber ich verspreche ihm, dass ich da sein werde. »Um wieviel Uhr?«
Bis halb sechs ist noch etwas Zeit. Ich sitze in der U-Bahn und die Fahrt kommt mir heute unendlich lang vor, länger als sonst. Ich stelle mir vor, wie ich einschlafe, wegdöse und mit der Bahn so lange hin und herfahre, bis die Sonne untergeht. Nicht, dass das möglich wäre. Die Menschen sind heute besonders laut, als wären sie verrückt geworden. Auf den Bildschirmen in der U-Bahn geht es um nichts anderes, als den nächsten harten Lockdown, der morgen beginnen soll. Warum liegt dann so eine Aufbruchsstimmung in der Luft? Weil niemand weiß, wann das nächste Mal wieder ein normales Leben möglich sein wird? Oder weil es so aussieht, als würde gerade heute der Frühling beginnen? Als hätte der Kalender nicht gerade den November eingeläutet, die dunkelste Zeit im Jahr für mich, dieser Monat, der sich in die Länge zieht, wie Kaugummi. Ich schwitze in dem warmen U-Bahn-Waggon und sehe aus dem Fenster, als wir wieder nach draußen fahren. Nein, wirklich nichts sieht nach Herbst aus. Die Sonne strahlt in mein Gesicht, und es liegt eine Stimmung in der Luft, so als wolle jeder diesen Tag noch einmal richtig ausnutzen. Alle wollen noch einmal nach draußen gehen, sich verabreden, Freunde sehen, ins Kino, was trinken gehen. Es wird laut telefoniert und lachend werden Verabredungen für den Abend getroffen. Für mich gilt das nicht. Nur noch Rashid helfen heute und dann wieder ab nach Hause, denke ich mir. Nada und ich haben schon lange keinen freien Abend mehr zusammen verbracht. Ich muss die Augen schließen, so grell treffen mich die Sonnenstrahlen im Gesicht. Das kleine Mädchen, das mir gegenübersitzt, lacht mich an. Mit ihren Fingern klopft es gegen die Scheibe, wie der Sekundenzeiger einer Uhr.
Ich steige an der Station aus und gehe eilig durch die Unterführung. Wie immer um die Mittagszeit staut es sich an den Rolltreppen, und ich nehme die Treppe trotz meiner schweren Beine. Ich rieche den Duft von Gebäck, Falafel und Döner und erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin. Heimlich hoffe ich, Nada hat gekocht, vielleicht das, was ich am liebsten esse, Spaghetti mit Shrimps oder eine Lasagne. Aber als ich in die Wohnung komme, ihren Namen rufe, fällt mir ein, dass sie selbst heute länger arbeiten muss. Trotzdem, Nada ist immer in der Wohnung, auch wenn sie gerade nicht da ist. Ihr Geruch ist überall. Man spürt sie in der sauberen Küche, in den Kipferln, die mit Schokoladencreme gefüllt auf dem Wohnzimmertisch stehen, auf den kleinen Zetteln, die sie mir hinterlässt.
»Im Kühlschrank ist ein Hühnchen, das darauf wartet gekocht zu werden«, lese ich auf einem gelben Post-it, das an der Garderobe klebt. Ich muss lachen, wasche mir die Hände und fange an. Es gibt nicht viel, das ich kochen kann, aber mein Hühnchen wird immer gut. Ich nehme es aus dem Kühlschrank und mache es sorgfältig sauber, schneide Zwiebeln und Kartoffeln und gebe alles in einen Plastiksack. Während das Hühnchen im Ofen schmort, bereite ich den Reis zu.
Nada kommt genau rechtzeitig zum Essen. »Du siehst müde aus«, sagt sie, nachdem sie das Hühnchen gelobt hat und ein Löffel Reis in ihrem Mund verschwindet. »Hast du schlecht geschlafen?«.
Ich traue es mich nicht, ihr zu sagen, dass ich seit Tagen schlecht schlafe, seit wir uns vor einer knappen Woche verlobt haben. Wie soll ich ihr das sagen? Dass da ein Knoten in meinem Kopf entsteht, wenn ich darüber nachdenke, wie Liebe auf Verantwortung trifft. Sie wartet auf meine Antwort und sieht mich lange an, während ich mir schnell meinen Mund mit Hühnchen und Reis fülle, um nicht antworten zu müssen.
»Ich bin nur müde«, sage ich, nachdem ich fertiggekaut habe, »nur müde, ich lege mich etwas hin.«
17.45 Uhr
Rashid hat Glück. Wir gehen durch die kleine Wohnung und seine lachenden Augen verraten mir, wie froh er ist. Die Wohnung hat ein kleines Schlafzimmer, das Wohnzimmer ist etwas größer, Bad und Klo sind getrennt, alles ist sauber. Ich helfe Rashid mit Worten aus, wenn er mit dem Vermieter spricht, und nicht die richtigen Sätze findet. Der Vermieter ist ein freundlicher Mann. Er erklärt geduldig, was Rashid ihm noch schicken muss, damit die Wohnung sein neues Zuhause werden kann. »Danke«, sagt Rashid danach zu mir. Wir verabschieden uns gerade an der U-Bahnstation Kettenbrückengasse, als mein Handy klingelt. Ich sehe auf das Display. Es ist mein Chef. Am liebsten würde ich nicht abheben. Die Müdigkeit sitzt mir so schwer in den Knochen. Ich spüre meinen Körper in den harten U-Bahnsitz sinken. Als ob ich nie wieder aufstehen könnte.
»Kannst du kommen, nachher?«, fragt mein Chef. »Es muss noch so viel vorbereitet werden. Du weißt ja, morgen fängt der zweite Lockdown an.«
»Wann?«, frage ich etwas träge nach.
»Um 19 Uhr am Karlsplatz.«
Ich bin so müde, dass ich vergesse, dass man ein Nicken nicht durchs Telefon sehen kann.
»Ich komme.«
Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass es keinen Sinn mehr macht, nachhause zu fahren. Schnell schreibe ich noch eine Nachricht an Nada.
»Muss doch noch auf die Arbeit jetzt leider.«
»Schade«, schreibt sie zurück und »Wir reden ein anderes Mal.«
»Wird sicher nicht so spät heute.«
Weil es aber zu früh ist, um direkt hinzufahren, beschließe ich einen Teil des Weges zu Fuß zu gehen. Ich fahre ein paar Stationen, steige aus und spaziere dann langsam Richtung Karlsplatz. Eigentlich komme ich immer zu spät, nicht viel, aber immer ein paar Minuten zu spät. Diesmal nicht. Diesmal bin ich viel zu früh dran. Ich setze mich in die Lounge in der Filiale am Karlsplatz, rede mit den Mitarbeitern und hole mir etwas zu trinken. Ich muss an Rashid denken, an sein fröhliches Gesicht, daran, was es heißt ein Zuhause zu haben, in dem man sich wohlfühlt. Meinen eigenen Traum, von einem Haus für die ganze Familie, habe ich auch noch nicht aufgegeben. Irgendwann, das weiß ich, werden wir es schaffen. Nachdenklich reiße ich eine Serviette in Streifen, als mein Handy wieder klingelt.
»Bist du schon da, Osama? Heute doch nicht Karlsplatz, du müsstest bitte zur Filiale am Schwedenplatz kommen.«
Einen kurzen Moment bleibe ich noch sitzen und strecke meinen müden Körper.
Dann gehe ich los.
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