Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer

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Es ist kurz vor 15 Uhr und die Ladenöffnung steht unmittelbar bevor. Mit mir warten eine Gruppe Teenie-Jungs, eine freundlich wirkende Omi und ein Pärchen mittleren Alters, das mich immer wieder anlächelt. Während ich einkaufe, wartet Fidibus voll beladen vor der Tür, nur die Lenkertasche habe ich abgeknipst. Aus Sorge um mein Hab und Gut wollte ich eigentlich auch immer die komplette und fest verstaute Kameraausrüstung, vielleicht sogar das hochwertige Zelt mitnehmen, wenn ich das Rad zum Einkaufen abstellen muss, aber hier an diesem beschaulichen Ort habe ich eher das Gefühl, die Menschen würden auf mich aufpassen, als irgendetwas Böses im Schilde zu führen. So verhalte mich ausnahmsweise mal etwas lockerer.
Das Alleinreisen selbst funktioniert gut für mich, aber Dinge wie unbeschwert einkaufen, Sehenswürdigkeiten von innen anschauen, in freier Wildbahn zelten, mit vier statt mit zwei Augen auf Wegverlauf und Verkehr größerer Städte schauen – all das habe ich als Alleinreisende nicht. Mein Multitasking ist schon in mancher Stadt auf die Probe gestellt worden: Route finden beziehungsweise behalten, nicht umfahren lassen, selbst nicht umfahren, Sehenswürdigkeiten entdecken, filmen, fotografieren, dabei noch einen Seitenblick riskieren, ob nicht irgendwo ein Lebensmittelgeschäft zu finden ist … Aber es geht und wird mit jeder Stadtpassage auch etwas leichter.
Nach Verlassen des Ortes komme ich gut voran und freue mich aufs Erreichen meines Tageszieles Orléans. Der Regen pausiert sogar ein Weilchen und der Fahrtwind gibt meiner Kleidung die Chance, etwas trockener zu werden. Voller Vorfreude stelle ich mir vor, wie ich auf dem Campingplatz in meinem gemütlichen Zelt sitze, erst heiße Nudeln zu warmem Tee löffele, mir dann als Dessert einen süßen Tassenpudding zubereite. Ich werde nicht allzu spät ankommen, kann nach dem Tagebuchschreiben bestimmt noch viele Seiten meines Krimis lesen, vielleicht sogar besonders zeitig schlafen gehen … Meine Gedanken werden vom erneut einsetzenden Regen ertränkt. So kurz vorm Ziel! Gemein. Kurz vorm Ziel? Pustekuchen! Ich muss meine Karte wohl falsch gedeutet haben, denn ich biege am Stadtrand von Orléans zu früh ab und wundere mich über die kleine Nebenstraße, in der ich mich plötzlich befinde. Ein erneuter Blick auf den Plan lässt mich ernsthaft zweifeln, ob das stimmen kann. Ich sehe mich nach Fußgängern um, aber bei dem Mistwetter ist hier niemand unterwegs, nur ein Autofahrer rollt gerade los und hinterlässt eine Lücke, hinter der eine geöffnete Haustür sichtbar wird. Darin steht ein weißhaariger Mann und winkt seinem abreisenden Besucher hinterher. Ich stoppe und nutze die Gelegenheit, ihn nach dem Weg zum Campingplatz in Orléans zu fragen, dabei wische ich die Tropfen auf der transparenten Regenhülle meiner Lenkertasche beiseite und deute auf den anvisierten Punkt.
„Wollen Sie nicht erst einmal auf einen heißen Kaffee reinkommen, Sie sind ja ganz nass“, lautet seine Antwort. „Mein Name ist Jean“, fügt er dann noch lächelnd an.
Ich mustere den Mann, höre kurz auf mein Bauchgefühl, das grünes Licht gibt, und nicke dann. Er stößt die Tür auf und gibt mir zu verstehen, dass ich mein Fahrrad samt Gepäck einfach hineinschieben soll. Wir befinden uns in einem länglichen Schuppen, von dem aus wir scharf abzweigen und in einer urgemütlichen Essküche landen. Auf einem riesigen massiven Holztisch stehen ein Teller mit Käse, eine Schüssel Tomaten, eine Tüte mit Backwaren, benutzte Weingläser und Tassen sowie leere Weinflaschen – Zeugen des Essens, was hier gerade erst stattgefunden haben muss. Ich nehme die Einladung, Platz zu nehmen, dankbar an und erfahre von Jean, dass er Familienbesuch hatte, der gerade erst wieder abgereist ist. Ich lege meine Hände um die Tasse, die mir mein Gastgeber hingestellt hat. Jeans Französisch ist für mich sehr gut zu verstehen, sodass ich schnell einiges über ihn erfahre. Er deutet auf das Geschirr vor uns und erklärt mir, dass er Familie auf Korsika hat.
„Sie waren zu Besuch und haben Wein mitgebracht. Von dort kommen nämlich die besten Weine der Welt“, klärt er mich stolz auf und lächelt glücklich.
„Was macht Sie denn besonders glücklich?“, will ich wissen.
„Das ist einfach“, erwidert Jean prompt. „Hinter mir liegen Tage voller Glück. Ich habe für alle gekocht, wir haben zusammen gesessen, geplaudert und den besten Wein von der schönsten Insel getrunken. Ich liebe Korsika, die Landschaft, die Gerüche – alles an der Insel macht mich froh. In diesem Jahr war ich mit meinem 16-jährigen Sohn dort. Wir sind in unserem Oldtimer über die Insel gefahren. Das war pures Glück, wir zwei Männer in diesem Auto, auf einem zauberhaften Fleckchen Erde.“
Er bietet an, mir sein Auto nach dem Kaffeetrinken zu zeigen, es stehe hinter dem Haus, unter seinem Carport. Ich nicke begeistert und erfahre noch, dass er eine Frau hat, die um einiges jünger ist als er und aus Peru stammt. Der gemeinsame 16-jährige Sohn spreche aber kaum Spanisch, sondern nur die Sprache seines Wohnlandes Frankreich.
„Leider haben Sie meine Frau verpasst“, erklärt mir Jean, „Sie ist gerade in der alten Heimat, weil ihr Vater gestorben ist. Ansonsten leben wir hier gemeinsam und sie arbeitet im Krankenhaus.“
Er denkt nach und fügt an: „Natürlich war auch der Tag unserer Hochzeit ein sehr glücklicher, ja, das war ein bedeutender Höhepunkt in meinem Leben. Es ist normal, dass – und ich meine das keinesfalls negativ – irgendwann der Alltag einkehrt, und in diesen mischen sich dann immer wieder Highlights, zum Beispiel der Familienbesuch oder die Inselrundfahrt mit meinem Sohn.“
Wie auf ein Stichwort erscheint selbiger in der Küche und begrüßt mich mit Wangenküssen. Das schwarze Haar und die ebenso dunklen Augen verraten die Herkunft seiner Mutter.
Nachdem ich den besten Kaffee meines Lebens ausgetrunken habe, gehen Jean und ich nach draußen, wo er mir sein Liebhaberstück zeigen möchte. Sorgsam hebt er die Plane an, rollt sie zur Seite, bis ich das Prachtexemplar bewundern kann. Es ist ein Fahrzeug der Morgan Motor Company, britischer Sportwagenhersteller, der im Jahr 1909 von Harry Frederick Stanley Morgan gegründet worden ist. Vor mir glänzt der dunkle Lack des edlen Cabrios, an dessen Seite Jean gern fürs Foto posiert.
Auch wenn ich mich pudelwohl bei meinem sympathischen Gastgeber mit der runden Brille, den weißen Haaren und dem gestreiften Longsleeve fühle, so ist es an der Zeit weiterzuziehen, obwohl es leider immer noch regnet. Jean malt mir den kürzesten Weg zum Campingplatz auf ein Stück Papier und öffnet die Haustür. Ich drücke ihm noch eine Magdeburg-Postkarte, einen Gruß aus meiner Heimat, in die Hände und parke aus. Solche kleinen Souvenirs habe ich auf jeder Reise dabei, sie schaffen eine Verbindung zu meinem Wohnort und sind der visuelle Zugang, mit dem ich zeigen kann, woher ich komme und wie es dort aussieht.

Der glückliche Jean an seinem Morgan
Während ich Fidibus nehme, um ihn rückwärts aus dem Schuppen zu schieben, knackt es plötzlich und mein Fahrradständer, der schon erste Spuren eines Defekts gezeigt hatte, bricht vollends ab und liegt traurig zwischen meinem Rad und mir. Jean und ich nehmen es mit Humor, mein Gastgeber hebt das kaputte Teil auf und ich entgegne lachend: „Nun haben Sie noch ein Souvenir von mir.“
Als ich wieder auf der Straße bin und der Route folge, die mir Jean aufgezeichnet hat, freue ich mich über meinen Makel in puncto Orientierung, denn was entginge mir nur, wenn ich mich nicht verfahren würde … Manchmal haben eben auch Schwächen ihre Stärken.
Die selbstgemalte Karte ist jedenfalls großartig und ich erreiche schnell die Stelle, an der laut meiner Fahrradkarte der Zeltplatz sein müsste. Ich rolle am Loire-Ufer vor und zurück, einmal, zweimal, dreimal, kann jedoch partout keinen Campingplatz ausmachen. Das gibt es doch nicht! Ich frage Jogger, Fußgänger, biege sogar zur nächsten Straße ab, um mich bei einem Autofahrer zu erkundigen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon umherirre, als eine junge Frau, die Englisch mit mir spricht, ausführlich auf ihrem Smartphone recherchiert und dann eine Nummer anruft, von der wir beide der Meinung sind, sie gehöre zum Campingplatz, der nahezu vor unserer Nase sein müsste. Wir erfahren, dass er erst ab dem 22. Juni geöffnet hat, was erklärt, warum wir ihn nicht sehen, da das Areal noch komplett abgeriegelt und winterfest gemacht und damit nahezu versteckt ist. „Was mache ich denn jetzt?“, frage ich mich und fahre langsam Richtung Innenstadt, denn an eine Weiterreise bis zum nächsten Platz ist gar nicht zu denken, angesichts der abendlichen Tageszeit.
So viel zum Thema „Heute steht das Zelt mal zeitig“. Momentan fühlt sich der Grund, weshalb ich so gern individuell reise, also weil ich mich gern überraschen lasse, eher negativ als positiv an. Die Kehrseite der Medaille, die Seite, die mich mehr fordert als fördert, liegt oben. Allein unterwegs zu sein, ist aufregend, macht mir Spaß und hat bisher ja auch gut funktioniert, aber wenn es eben mal nicht so läuft, kippt die Stimmung doch ein wenig. Meine
Optionen sind zudem weniger, als sie es in Zweisamkeit wären, denn dann würde ich Wildniscamping in Erwägung ziehen. Aber allein begebe ich mich auf gar keinen Fall in ein nasses Gebüsch am Stadtrand, dafür fehlt mir der Schneid. Es bleibt also nur, irgendeine Form von touristischer Unterkunft zu finden.
Glücklicherweise entdecke ich bald ein Hotel, sehe aber keinen geeigneten Ort, an dem ich mein Rad, das ohne Ständer nun nicht mehr überall ausharren kann, sicher zu parken. So schiebe ich Fidibus in die Lobby, tropfe erst den Boden, dann den Tresen mit meinen Jackenärmeln voll, als ich mich zur Rezeptionistin hinüberbeuge und nach einem Zimmer frage. Nicht nur dieses Hotel ist restlos ausgebucht, sondern auch eine Handvoll anderer, welche die freundliche Frau für mich abtelefoniert. Ich schraube mein Maximalbudget zwangsläufig nach oben und sie findet ein freies Zimmer in der Nähe, was sie noch von 85 auf 80 Euro heruntergehandelt bekommt. Dank ihrer Wegbeschreibung finde ich es schnell und werde von einer jungen, perfekt geschminkten Mitarbeiterin freundlich begrüßt. Fidibus darf in den Haushaltsraum, in dem die Rezeptionistin ihn geduldig festhält, während ich alle Taschen entferne. Ich hinterlasse eine dicke Spur aus nassem Dreck, als ich am Fahrstuhl zum Stehen komme und den Knopf drücke. Zusammen mit all meinen Taschen, die ich mir an jedes erdenkliche Körperteil gehängt habe, quetsche ich mich hinein und fahre nach oben.
Es ist 20 Uhr, als ich die Taschenriemen, die sich trotz des nur kurzen Weges tief in meine Schultern geschnitten haben, von mir streifen kann. Ich lasse mich auf das Bett fallen, atme einige Male erleichtert durch und schäle mich dann aus den Klamotten, um mich auf den Weg unter die heiße Dusche zu machen. Anschließend möchte ich wenigstens einen meiner Pläne in die Tat umsetzen, erhitze Wasser und bereite mir den ersehnten Tassenpudding zu. Na bitte, geht doch!
Am nächsten Morgen bin ich schon um 7 Uhr wach, obwohl ich erst zur Geis-terstunde das Licht ausgeschaltet habe. Ich fühle mich noch müde, kann aber auch nicht mehr einschlafen. So schaut mir aus dem Badezimmerspiegel ein recht zerknautschtes Gesicht entgegen. „Dann wasche ich dich eben, wenn du nicht mehr schlafen willst“, grummele ich mein Abbild an und beschließe, die Zeit gut zu nutzen und mir Orléans anzuschauen.
Fidibus und mein Gepäck dürfen nach dem Auschecken im Hotel lagern, sodass ich unbeschwert und zu Fuß losziehen kann.
Die Stadt liegt am nördlichsten Punkt des Laufs der Loire und ist mir vor allem wegen Jeanne d`Arc, der Jungfrau von Orléans, bekannt. Unter Karl dem Großen erblühte die Stadt zu einem geistigen Zentrum, in dem im Jahr 1305 die erste Universität gegründet wurde. Im Laufe der Zeit erlangte Orléans so große Bekanntheit, dass man diesen Ort sogar als Hauptstadt Frankreichs betrachtete. Die Jungfrau von Orléans kam ins Spiel, als die Engländer die Stadt in den Jahren 1428/29 für fünf Monate belagert hatten, denn Jeanne d`Arc bekämpfte mit ihren Mannen die Eindringlinge erfolgreich und zog am 8. Mai 1429 als Nationalheldin in die befreite Stadt ein.
Nahe ihrer Statue, die sie auf einem hohen Sockel zu Pferd zeigt, lerne ich einen jungen Mann kennen, der hochkonzentriert über eine Sandskulptur gebeugt kniet und sorgfältig mit Küchenmesser und Pinsel ein Kunstwerk schafft, das ich jetzt schon als zwei schlafende Hunde erkennen kann. Offensichtlich sitzt er hier bereits seit einigen Stunden.

Besuch bei Jeanne d`Arc

Die wilde Loire
Neugierig zu erfahren, wer er ist, spreche ich ihn auf Französisch an, woraufhin er nur mit wenigen Worten gebrochen reagiert. Mit Englisch geht es auch nicht besser, wohl aber auf Spanisch, das sei seine beste Fremdsprache, erfahre ich von dem Rumänen. Er arbeite in seinem Heimatland als Lkw-Fahrer und mache gern Urlaub in Frankreich, um jeweils fünf Stunden pro Tag Sandfiguren zu erschaffen – etwas, was ihn erfülle. Dass hinter dem Mann, der hier so vertieft in seine Kunst am Boden hockt, ein rumänischer Brummifahrer steckt, welcher seine Ferien als Hobbykünstler in einem Land Tausende Kilometer entfernt verbringt, hätte ich wohl kaum vermuten können. Längst hat er sich wieder seiner Arbeit gewidmet und besprüht den Sand mit Wasser, um präziser modellieren zu können.
Mal zu Fuß unterwegs zu sein, noch langsamer als mit Fidibus, empfinde ich, auch angesichts dieser unerwarteten Begegnung, als sehr wertvoll. Außerdem macht mich die pure Leichtigkeit glücklich, die ich beim Flanieren ohne Gepäck fühle. Ich verliere mich in kleinen Gassen mit alten Fachwerkhäusern, sitze in der Sonne am Loire-Ufer, werfe einen Blick in die Kathedrale Sainte-Croix d’Orléans, religiöses Zentrum des Bistums Orléans. Der fünfschiffige Bau wurde vielfach zerstört und im Jahr 1601 im gotischen Stil wiederaufgebaut. Mein Blick schweift besonders gern über die Buntglasfenster, die das Tageslicht zum Leuchten bringen.
Überraschenderweise darf ich ein weiteres Treffen mit meinem Vater und Franka erleben. Die beiden haben die Gelegenheit genutzt, noch einige Tage Urlaub zu machen. Dieser neigt sich nun aber so langsam seinem Ende zu – allerdings nicht ohne ein Wiedersehen, wie sie mir per WhatsApp vorschlagen. Ihre Rückfahrtroute haben sie nämlich extra so gelegt, dass wir uns heute auf dem Campingplatz in Sully, gut 50 Kilometer von Orléans entfernt, sehen können. Ich freue mich auf einen finalen Abend im familiären Nest, in dem es für mich ganz sicher bestes Essen und für Fidibus ein wenig Pflege geben wird.
Meine Tagesetappe ist damit kurz und ich lasse es langsam angehen, pausiere auf einer Bank am Loire-Ufer und schaue mir die Wolken an, die sich im Wasser spiegeln, und erfreue mich am üppigen Grün an der Uferlinie, an Sandstränden in der Ferne und der endlich wiedererwachten Sonne, welche ihre Strahlen auf mein Gesicht schickt. Die Inseln, die ich immer wieder in diesem Fluss sehe, gefallen mir besonders, sind sie doch Kennzeichen eines Gewässers, das vom lauten vereinnahmenden Schiffsverkehr glücklicherweise verschont bleibt.

Pause hinter Orléans
Der Radweg führt unter anderem auf hervorragendem Asphalt auf dem Deich entlang und kurz vor meinem Ziel verläuft er dann abgegrenzt neben einer Landstraße, über die mein kleines familiäres Begleitteam und ich nahezu zeitgleich den Campingplatz erreichen. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, wir tauschen unsere Erlebnisse aus, schlemmen gemeinsam, zeigen einander Reisefotos und spielen Boules – ein Hobby, dem meine beiden gern in ihren Campingurlauben nachgehen, vor allem in Frankreich, wo es an jeder Ecke entsprechende Plätze dafür gibt. Vor Einbruch der Dunkelheit baut mein Vater noch einen neuen Fahrradständer an meinen Fidibus. Ein passendes Geschenk, denn mein treuer Drahtesel und ich feiern heute Jubiläum: Eine ganze Woche schon fahren wir an Frankreichs wildem Fluss entlang und haben um die 550 Kilometer zurückgelegt. Es rollt …

Die Loire von oben in der Nähe von Sully
In meiner ersten Woche bin ich so freundlich in diesem Land aufgenommen worden, dass ich meine persönliche „Tour de France“ jeden Tag aufs Neue genieße. Immer wieder sprechen mich Menschen an, auch wenn ich sie gar nicht nach dem Weg frage. Wenn sie dann erfahren, wohin meine Reise noch geht, sind sie aus dem Häuschen und bewundern meinen großen Plan, bis nach Rumänien zu radeln. „Sie sind sehr mutig“, ist der meistgehörte Satz bisher, gefolgt von den Top drei Fragen: „Wo kommen Sie her?“, „Wohin wollen Sie?“ und „Haben Sie sich verfahren?“ Offensichtlich wirke ich manchmal etwas verloren, wenn ich – vor allem in Städten und in deren Vororten – nach Wegweisern Ausschau halte. An mancher Schlüsselstelle fehlt mir ein Schild beziehungsweise taucht es erst ein paar Meter später auf, was mich hin und wieder suchen lässt. Aber alles in allem gelingt es mir, die grobe Richtung nach Rumänien zu halten.
Ja, ich sagte die „grobe Richtung“. Gut eine Woche nach meinem Start verfahre ich mich so gründlich, dass ich mich ziemlich fernab des Weges befinde, aber auch hier gilt: „Schwächen haben ihr Gutes“, denn ich lerne zwei sympathische Frauen kennen. Die Häuser des Dorfes, in dem ich gelandet bin, wirken eher schlicht, manche sogar etwas ärmlich. Die ältere der beiden Frauen hat dünnes Haar und der mangelnde Wohlstand ist ihr an den Zähnen abzulesen. Die jüngere ist kräftiger, trägt ihr blondes Haar kurz, aber modisch und hat zwei Kinder im Schlepptau. Dank der häufigen Herumfragerei ist mein Französisch in der kurzen Reisezeit viel besser geworden, sodass wir ins Plaudern kommen. Die beiden Nachbarinnen sind restlos beeindruckt von meiner Tour und wollen mir beinahe nicht glauben, dass es aus eigener Kraft noch bis nach Rumänien gehen soll. Allein schon die zurückgelegte Distanz vom Startpunkt am Atlantik wirkt auf sie wie eine Unmöglichkeit und das mit so viel Gepäck. Dass ich allabendlich auf Campingplätzen mein Lager aufschlage und mir mein Essen selbst koche, lässt sie dann fast an meiner realen Existenz zweifeln. Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Gesprächspartner mein Abenteuer wahrnehmen. Für die radelnde Kollegin aus der Reisebranche bin ich diejenige, mit der es sich austauschen lässt. Im Vergleich zum weltreisenden Totalaussteiger erscheint mein Vorhaben vielleicht als – zugegeben etwas überspitzt formuliert – Sonntagsspaziergang. Aber für die Frauen vor meiner Nase vollbringe ich eine wahre Meisterleistung. Ja, es ist alles Ansichtssache und verändert sich mit der Perspektive und dem Erfahrungsschatz des Gegenübers. Alles in allem zählt natürlich, wie ich selbst auf mich blicke. Weil ich mit Outdoorurlauben groß wurde, bin ich an diese Art des Reisens zwar gewöhnt, empfinde trotzdem Stolz über meine Umsetzung. Es ist meine bisher längste Radlerdistanz und das auch noch allein, zumindest die erste Streckenhälfte betreffend. Dass die Frauen vor meiner Nase mich so loben, steigert diese Empfindung.

Die Loire in Nevers
Ich will mich später besser an sie erinnern und packe meine Kamera aus. Währenddessen erzählen sie mir von der Wichtigkeit des Familienzusammenhalts. Die Angehörigen der älteren Frau leben zwar verstreut an unterschiedlichen Orten, aber sie sehen einander regelmäßig, essen dann zusammen und tauschen sich aus. „Das macht mich glücklich“, erzählt mir meine Gesprächspartnerin. Ihre Nachbarin hat sich in der Zwischenzeit umgezogen und nun posieren sie zusammen mit den beiden Kindern vor einem der Häuser für mein Foto. Sie lachen und winken in die Kamera und ich nehme ihnen ab, dass die regelmäßige Aussicht auf Familienbesuch in diesem kleinen abgelegenen Dorf sie immer wieder erfreut.
Am Abend erreiche ich – ohne weitere Extrarunden – die Stadt Nevers, am Zusammenfluss von Loire und Nièvre rund 260 Kilometer südlich von Paris gelegen. In dieser 36.500-Einwohner-Stadt, deren Altstadtbild von engen Gassen und Bürgerhäusern aus dem 14. bis 17. Jahrhundert geprägt ist, ist heute richtig etwas los. Ich gerate mit meiner Kameraausrüstung mitten in eine Wohltätigkeitssportveranstaltung, bei der Menschen für einen guten Zweck einen Laufwettkampf absolvieren. Ihre Strecke führt sie am „Espace Bernadette Soubirous“, dem Kloster, in dem der Leichnam der heiligen Bernadette Soubirous zu finden ist, vorbei. Die Heilige hatte einst als Mädchen mehrere Marienerscheinungen.
Bevor ich mich in das Reich der Träume verabschiede, kann ich heute noch mein erstes Radtourenbuch verstauen, denn die Karte „Loire-Radweg“ endet hier in Nevers und wird von „EuroVelo 6 – Frankreich Ost“ abgelöst. Stolz über meine bisher erbrachte Leistung schließe ich die Augen und träume schon von der Region Burgund, dem südlichen Elsass und den Tälern sowie Kanälen, die mich erwarten.
FRANKREICH OST Von Nevers nach Basel rund 600 Kilometer
Ich verlasse Nevers und folge einem unbefestigten, aber sehr gut zu fahrenden Kanalradweg in südöstliche Richtung. Weil ich so zügig vorankomme, rolle ich bis zur Mittagspause durch und bestelle mir beim Universum einen Supermarkt, der am heutigen Sonntag lange genug geöffnet hat und in dem ich mich mit Keksen eindecken kann. Seit einigen Tagen vermute ich verwandtschaftliche Beziehungen zum Krümelmonster, so groß ist mein Heißhunger auf das Gebäck geworden.

Mein neues Grundnahrungsmittel
Ziemlich exakt 12:30 Uhr stehe ich vor einem riesigen Markt am Ortseingang von Decize und überfliege schnell die Öffnungszeiten an der Tür: sonntags bis 12:30 Uhr. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich gerade die Pforten dicht machen will, mustert mich freundlich. Mein Blick scheint Bände zu sprechen, denn plötzlich unterbricht sie ihre Tätigkeit und bietet an: „Na, los, fünf Minuten! Ihr Radler müsst doch essen …“
Dankbar schlüpfe ich hinein, kaufe in Windeseile Kekse, einen Joghurtdrink und ein paar frische Sachen aus der Obst- und Gemüsetheke. An der Kasse danke ich ihr und dem Universum und reiße vor der Tür hungrig die Packung meiner Krümelmonsternahrung auf.
Es geht noch ein Weilchen am Kanal entlang, bis der Weg dann über eine asphaltierte Straße führt, die nahezu verkehrsfrei ist, allerdings habe ich das Gefühl, dass es deutlich häufiger auf als ab geht. Kaum komme ich mal ein kleines Stück zügig rollend voran, tritt schon die nächste Steigung in mein Blickfeld und meine Hand muss in den ersten Gang drehen. Hoffentlich reicht die Keksenergie, denn ich stecke mitten in einer Einhundert-Kilometer-Etappe, die nötig ist, um meinen anvisierten Campingplatz zu erreichen. Ich schalte auf den Meditationsmodus um, statt auf meinen Atem konzentriere ich mich nun auf nichts anderes mehr als „fahren, fahren, fahren“, Gefühle der Anstrengung blende ich bewusst aus, was wirklich gut funktioniert. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, frage ich eine Frau, die in an ihrem Haus werkelt, nach frischem Wasser. Bereitwillig füllt sie meine Trinkflaschen auf, bietet mir sogar den Besuch ihres WCs an. Wenig später wechsele ich ein, zwei Worte mit einem belgischen Pärchen, das nach Frankreich ausgewandert ist, sonst begegne ich keiner Menschenseele, auch andere Radler sind nirgendwo auszumachen.

Wegweiser
Ich ziehe durch und erreiche nach 104 Kilometern Diou, einen kleinen Ort, der alles hat, was ich heute noch brauche: einen Campingplatz. Erneut meint es das Universum gut mit mir, als es erst, nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, einen starken Schauer auf die Erde schickt. Wo könnten die Kekse und der heiße Tee besser schmecken als hier in meinem Zelt, auf dessen Dach die Wassertropfen ein Konzert geben …?! Auch das ist Glück für mich.





