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In ähnlicher Weise analysierte eine britische Studie 18 Jugendliche, die zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Hier zeigte sich klar, dass es die elektronischen Medien waren, die das Gewissen und die Geistigkeit der späteren Straftäter prägten: Sie hatten keinerlei Sensibilität für das Wohl anderer Menschen. Und das sei kein Wunder, resümierte vor kurzem ein angesehenes wissenschaftliches Journal: Wenn der Leitfilm für aggressives Verhalten Natural Born Killers, der strengen Jugendschutzbedingungen unterliegt, von jungen Menschen gesehen wurde, die zu 45 Prozent unter 18 Jahren waren, darf es nicht wundern, dass Friedenstauben aussterben. Selbst wenn uns vorgegaukelt wird, soziale Medien brächten die Menschen zusammen. In Wahrheit begibt man sich in eine hübsch animierte Isolation, in eine selbst gewählte Matrix.
Ich meine: Für viele Dinge im Leben braucht man eine Lizenz. Für das Spritzen eines Weingartens mit Pestiziden, für das Fischen, für das Handeln mit Gütern, für das Lehren. Eigentlich wäre auch eine Qualifikation notwendig, Kinder und vor allem Pubertierende erziehen zu dürfen. Die Bedürfnisse von Jugendlichen sind mannigfaltig, man kann so viel falsch und nur so wenig richtig machen.
Die Plastizität des pubertierenden Gehirns – und damit auch seine Beeinflussbarkeit – lässt sich sogar bildgebend verfolgen. Ungefähr im Alter von zwölf Jahren hat das kindliche Gehirn von der Größe, dem Faltungsmuster, dem Gewicht und der regionalen Spezialisierung den Status eines Erwachsenen erreicht.
Kognitiv allerdings sind sie noch nicht auf dem Niveau. In einer groß angelegten Arbeit überprüfte das National Institute of Mental Health in Bethesda, es gehört zum US-Gesundheitsministerium, 2.000 Jugendliche vom 3. bis zum 25. Lebensjahr. Alle zwei Jahre wurde an ihnen ein Gehirnscan vorgenommen. Die Arbeit verwendete eine Magnetresonanzmethodik (MRI), um den Wasser-Fett-Gehalt im Gehirn zu dokumentieren. Im Gehirn besteht die graue Substanz vor allem aus wasserreichen Nervenzellen, während die weiße Substanz Fette beinhaltet, die die einzelnen Nerven voneinander isolieren, das Myelin. Myelin ist das griechische Wort für Gehirn. Im Hirn eine Biomembran, reich an Nervenfasern.
Die Untersuchung brachte überraschende Erfolge. Sie zeigte, dass die graue Substanz zunächst in der Kindheit stark zunimmt, dann sich wieder zu verdünnen beginnt. Wobei diese Welle im Hinterhirn beginnt und bis zum frühen Erwachsenenalter anhält. Dieser Prozess läuft bei Mädchen schneller ab als bei Buben und wird mit dem »Waking-up«-Schritt in Zusammenhang gebracht; Mädchen erreichen wesentlich früher die Reife des Erwachsenenalters. Je schneller diese Welle vorangeht – und das scheint ein interessantes Nebenprodukt dieser Untersuchung zu sein –, umso höher ist die Intelligenz.
Diese Zeit der frühen Adoleszenz, die mit dem dritten epigenetischen Prägefenster zusammenfällt, entscheidet über Wichtiges im weiteren Leben: die synaptische Vernetzung und die Auswahl der Nerven. Welche gebrauchten verwendet und welche nicht gebrauchten man eliminiert. Die Stimulierung von außen scheint so an der Gehirnentwicklung entscheidend beteiligt zu sein.
Der Spruch »Use it or lose it« gilt in besonderer Weise für das Oberstübchen. Wird in dieser Lebensphase das heranreifende Gehirn angehalten, schwierige Situationen zu meistern und Konflikte zu lösen, bleibt ihm diese Begabung für das spätere Leben.
Der US-Neurowissenschaftler Jay Giedd, der diese Untersuchung leitete, schließt daraus, dass in dieser Lebensphase die Begegnung des Kindes mit Musik, Eindrücke durch Reisen, fremde Sprachen, aber auch die sportliche Balance von enormer Wichtigkeit sind. Das Gleiche gilt für Konfliktlösungsmodelle, die das Kind in diesen Lebensphasen erlernt und sich dabei an Prägedarstellungen in elektronischen Medien orientiert. Im Alter scheint wiederum eine zunehmende Myelinisierung wichtig zu sein. Sie ermöglicht, dass Nervensignale schneller weitergegeben werden und die Zeit zwischen zwei neuronalen Impulsen kürzer wird. Deswegen verlangt Weisheit ein Maximum an Myelinisierung. Das ist jener Prozess, bei dem Axome mit einer Myelinschicht umhüllt werden. Gewissermaßen das Motoröl für den Denksport.
Die molekulare Neurologie hat demnach eindrucksvolle Beispiele geliefert, wie plastisch und formbar unser Gehirn ist. Und wie nachhaltig Prägung sein kann.
Was die großen Fragen aufwirft: Gibt es den freien Willen? Ist er vorbestimmt? Und wenn ja, gibt es in einem determinierten freien Willen Freiräume? Das wären dann Nischen des Glaubens.
Gibt es einen genetischen Auftrag von Gott?
Alles eine Frage der Bestimmung. Glaube und Unglaube hängen weder von Intelligenz noch von Argumenten ab, sondern sind – und das ist ebenfalls meine Hypothese – epigenetisch determiniert.
Vor allem in den drei biologischen Fenstern wird das spätere Leben vorentschieden: In diesen Perioden gibt es Freiheiten, zu formen: unsere hormonellen und sensitiven Reaktionen, unsere Neurotransmitter und damit das, was wir Charakter und Einstellung nennen. Hier fällt auch die epigenetische Entscheidung darüber, ob man einen Weltenbaumeister akzeptiert oder nicht.
Nachher ändert sich das kaum mehr. Deshalb ist es nahezu sinnlos, epigenetisch entschiedene Menschen missionieren zu wollen, in die eine oder andere Richtung; da tut sich nichts mehr.
Die religiöse Prägung muss nicht von den Eltern kommen: Es gibt gläubige Eltern mit nichtglaubenden Kindern und umgekehrt. In den Prägemomenten können völlig unterschiedliche Variablen auftreten. Dafür gibt es jede Menge Beispiele, wie etwa eine bekannte Molekularbiologin aus Wien, die sich – auch öffentlich – an den Zeitpunkt erinnert, ab dem sie sich gegen einen Weltenbaumeister entschied. Ihre bornierten Religionslehrer verstörten sie derart, dass sie sich gegen Gott aussprach und diesen Moment heute noch weiß. Argumente oder wissenschaftliche Erkenntnisse waren nicht ausschlaggebend. Natürlich hinterfragt die europäische Geistesgeschichte diese epigenetische Determinierung und versucht Erklärungsmodelle zu finden, warum sich der eine für und der andere gegen Gott entscheidet. Warum in den Prägemomenten gerade dieser oder jener Würfel so oder anders fiel.
Der Kirchenvater Augustinus wählte dafür das Wort gratia, Geschenk, Gnade: Man hat es, oder man hat es nicht. Was für den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz das Pfeifen oder Berühren war, mit denen die eben geschlüpften Küken auf ihn und für ihn geprägt wurden, das ist bei der weltanschaulichen Prägung zweifellos komplizierter. Menschen vermitteln Argumente für oder gegen Gott. Die oft bemühte Blutspur der Religionen ist ein Prägedetail, das offene junge Menschen epigenetisch imprägnieren kann. Dieser Gott ist grausam, denken sie, herzlos und blutrünstig. Entsetzt vom Mittelalter, wenden sie sich ab vom Glauben.
Ethik und Epigenetik
Wissenschaftler meinen, wir kämen mit einem angeborenen ethischen Kompass zur Welt. Meine Frage geht weiter: Gibt es so etwas wie eine epigenetische Codierung ethischen Verhaltens?
Eine Erbmoral?
Die gängige Meinung: Das Ethische hat sich evolutionär nur deshalb behauptet, weil es sich für die Genprogramme auszahlte, ethisch zu handeln. Die Moral hatte weniger Verlierer. In der allgemeinen Konkurrenz waren jene Gruppen im Vorteil, die über eine effiziente Binnenmoral verfügten. Das ermöglichte ihre Stärkung nach außen. Demnach würden Überlebensdeterminanten – epigenetisch – bestimmen, was ethisch wäre.
Dieser soziobiologische Standpunkt wurde durch das Christentum überhöht. Die Vertreter der epigenetisch Glaubenden verweisen darauf, dass mit dem Christentum, vor allem auch zur Zeit der Aufklärung, ein weiteres Erklärungsmodell für die Wurzeln der Ethik in die geistige Landschaft Europas kam. Etwas, das von den Soziobiologen völlig ausgeblendet wird: Die Brüderlichkeit sei deswegen zu akzeptieren, weil alle Menschen ihre Existenz einem gemeinsamen Weltenbaumeister verdanken und deshalb Brüder im wörtlichsten Sinn des Wortes seien.
Nicht nur Brüder im Geiste, sondern tatsächlich.
Damit begann ein zusätzliches Argument, unabhängig von theologischen Überlegungen, in die geistesgeschichtliche Diskussion einzufließen: Was Ethik ist und wodurch sie entsteht. Für die Entstehung mögen die Soziobiologen recht haben. Mittlerweile gibt es in der Interpretation ethischer Normen einen Fortschritt, der den reinen Überlebensvorteil auf eine brüderliche, gotteskindhafte Ebene hievt.
Mit Epigenetik und Ethik betritt ein weiterer naturwissenschaftlicher Vorgang die Bühne, der das unterstreicht: die Spiegelneuronen.
Inverse Information: Abbild und Spiegelungen
Männer haben ein Gehirn. Erstaunlich, aber wahr.
Elferfrage an alle: Was sind Erinnerungen, und wo sind sie gespeichert?
Medizin und Biologie siedelten in vergangenen Jahrzehnten das Gedächtnis ausschließlich im Gehirn an, in den Neuronen. Bis die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärte: Sorry, folks. Nicht nur jede Zelle, sondern das Genom selbst hat – von Nerven unabhängig – ein Gedächtnis. Und das reagiert auf die Umwelt, die es im weitesten Sinn widerspiegelt.
Natürlich ist für den Alltag unser Gedächtnis im Kopf angesiedelt. Sollte es zumindest sein. Aber selbst dort fand man schon vor einiger Zeit Mechanismen, die im neuronalen Bereich das bestätigen, was im epigenetischen für intellektuelle Aufregung gesorgt hatte. Dass sich nämlich im Gehirn die Umwelt abbildet und widerspiegelt. Konkret: Über Spiegelneuronen haben wir ein mental universe.
Im Kopf eines Menschen, der leidet, und im Kopf eines Menschen, der ihn dabei beobachtet, feuern die gleichen Neuronen. Dadurch kann der Mensch die Empfindungen seines Gegenübers im eigenen Kopf ablaufen lassen. So entwickelt er seine Gefühlswelt. So entsteht seine Ethik.
Diese Spiegelung wird auch dann registriert und akzeptiert, wenn man momentan und pro futuro, also zeitlos, agiert und weder für sich noch für die Gruppe einen egozentrischen Vorteil erwirbt. Das ist dann Mut zur Mitmenschlichkeit.
In dieser Ethik ist eine evolutionäre Zweckorientiertheit veraltet, ja längst überholt. Die neue Begründung sieht nicht mehr den Nutzen allein, sondern die Brüderlichkeit unter der Schirmherrschaft eines Schöpfers.
Der Naturforscher Charles Darwin begriff schon im 19. Jahrhundert: In jedem Erdzeitalter haben sich die Arten immer zum Höheren entwickelt. Warum sollte das nur für körperliche Merkmale gelten? Warum kann der Mensch nicht das Konrad-Lorenz-Steinzeitkorsett seiner Ethik ablegen und seine Art ebenfalls zu Besserem führen? Vom Egoismus zum Altruismus. Man kann es Schicksal nennen oder Karma. Der Mensch, der Gutes tut, sieht: Es lohnt sich. Gutes kommt auf anderen Wegen zurück.
Spiegelneuronen, auch wenn sie im Detail noch kontrovers beurteilt werden, sind weitere Hinweise dafür, dass unsere Vorstellungen ein Gegenüber haben. Die Zellen, der Körper, die Neuronen, unsere Gedanken spiegeln eine Wirklichkeit wider. Nicht wir schaffen uns die Wirklichkeit oder die Vorstellung eines Weltenbaumeisters, sondern die Wirklichkeit – die primär uns umgibt – schafft uns, unser Genom, unser Bewusstsein und auch unsere Vorstellungen. Das Denken ist nicht die Präsentation von realen oder irrealen Möglichkeiten.
Denken ist Teilhaben am Wirklichen.
Wir denken in Kausalitätskategorien, weil die Physik unseres Alltags kausalitätsbezogen ist. Alle unsere biologischen Reaktionen spiegeln die Schwerkraft wider, weil sie bei der Entstehung des Lebens a priori vorhanden war.
Für den Weltenbaumeister gilt Gleiches: Gäbe es ihn nicht, wir hätten von ihm keine Ahnung.
Dem Begründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, war dieser Einblick schon ersichtlich, als er seinen Missionaren den Rat mitgab: »Wo immer ihr auch hinkommt, vergesst nicht, dass Gott schon vor euch da war.«
Die Evolution, eine Spiegelung unserer Umgebung
Der Zufall sollte dem Glauben ins Gesicht spucken. Biologische Systeme, hieß es trotzig, seien durch reinen Zufall entstanden. Mutation per random auf Wissenschaftsdeutsch. Gott existiert nicht, es regiert der Zufall. Allerdings war das keine naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine Propagandathese. Sie sollte Gedanken an ein »Design« hinter der Evolution im Keim ersticken.
Ausgerechnet im Charles-Darwin-Jubiläumsjahr 2009 mehrten sich die Hinweise, dass es neben der genetischen Evolution auch eine schneller wirksame Adaptionsstrategie gäbe: die gerichtete Verpackung der Gene, die deren Aktivität beeinflusst und den akuten Bedürfnissen der Umwelt rascher Rechnung trägt als zufällige Mutationen. Und dass es natürlich eine Höherentwicklung der Arten und damit eine Evolution gibt, die bestimmten Gesetzen unterliegt und sich keineswegs nur per random ereignet – wenn das Schicksal Schnackerl hat.
Anstelle der zufälligen Evolution thematisiert die Naturwissenschaft immer öfter die gerichtete Entwicklung, genannt directed evolution. Wobei die Blaupause für die Entfaltung der Arten die Außenwelt ist. Somit wird die Evolution selbst zu einem Spiegel. Viele Argumente sprechen für diese directed evolution, in der erworbene Eigenschaften weitervererbt werden. Es handelt sich um das Resultat eines wundersamen Gesprächs zwischen Genom, Epigenom und Umwelt. Wobei gezielt auf verborgene Genprogramme zurückgegriffen wird, wenn die Umwelt das fordert.
Begonnen hatte es mit der Beobachtung eines ungewöhnlichen Typs von Genmutation bei E.coli-Bakterien. Es wird jetzt ein bisschen kompliziert: Bei der Mutation mit der unverständlichen Bezeichnung lac – fehlt den Bakterien die Fähigkeit, Laktose abzubauen. Würde ein E.coli-Stamm des Typs lac-, dem das für die Ernährung mit Laktose notwendige Enzym fehlt, nur mit Laktose versorgt werden, müssten die meisten Zellen absterben. Ein paar wenige dürften sich zufällig in den Typ lac+ verwandeln, der von Laktose leben, daher wachsen und sich vermehren kann. Die Realität verblüffte die Forscher im Labor: Deutlich mehr E.coli-Zellen des Types lac – mutierten zu lac+, wenn Laktose vorhanden war, als im anderen Fall, obwohl sie vordergründig keine Informationen darüber hatten, dass Laktose auch nach der Mutation zur Verfügung stehen würde.
Das sah, wie eine breite Diskussion damals vermeinte, nach »Magie« aus. Ähnlich wie manche physikalische Phänomene, die schwer erklärbar sind, als »Spuk« bezeichnet wurden; übrigens auch von Einstein (seine These von der »spukhaften Fernwirkung« wurde 2015 bei einem Quantenexperiment überprüft, das nur nebenbei).
In Wirklichkeit greift die Evolution auf ein, sagen wir, »schlafendes«, noch nicht aktiviertes, aber vorhandenes Genprogramm zurück, das den Laktoseabbau ermöglicht. Reaktionen in der Genverpackung, also epigenetische Mechanismen, könnten den Effekt auslösen.
Ein anderes Erklärungsmodell für dieses Phänomen bedient sich des Superposition-Prinzips. Superposition bedeutet: Im Quantenkosmos können sich einander ausschließende Zustände überlagern. Sinngemäß: Plus und Minus existieren gleichzeitig. Tot und lebendig zur selben Zeit.
Das Paradoxon demonstrierte der österreichische Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger, einer der Urväter der Quantenmechanik, in seinem berühmten Gedankenexperiment mit der Katze. Man sperre, schlug Schrödinger 1935 vor, eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Atom in eine geschlossene Kiste. Das Atom zerfällt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, worauf ein Hammer eine Giftampulle zerschlägt und die Katze umbringt. Solange man den Deckel dieser Höllenmaschine nicht öffnet, befindet sich das Tier in einem Überlagerungszustand von tot und lebendig. Erst wenn jemand nachschaut, löst sich der duale Zustand der Katze auf. Miau. Oder aus die Maus.
Im konkreten Fall, bei unseren E.coli-Zellen, hieße das: In jeder Zelle könnte bei der Mutation von lac – nach lac+ ein einzelnes Proton von einem Ort in einen benachbarten hineintunneln. Der Tunneleffekt beschreibt das Phänomen, wenn ein atomares Teilchen eine Barriere überwinden kann, obwohl seine Energie geringer ist als die Höhe der Stufe. In der klassischen Physik wäre das undenkbar, in der Quantenmechanik ist es möglich.
Die Wellenfunktion des Protons beinhaltet quantenmechanisch eine bestimmte Wahrscheinlichkeit für beide Orte: eine Superposition von getunnelt und nicht-getunnelt. Es tanzt auf zwei Bällen gleichzeitig.
Sofern sich diese Quantenkohärenz – eine Art wellenartiger Tanzschritt, ein Teilchensamba – in der Zelle lange genug aufrechterhalten lässt, sollte sich die gesamte DNA als Superposition von mutiert zu nicht-mutiert entwickeln. Die Laktose würde es sozusagen übernehmen, den Kasten mit Schrödingers Katze zu öffnen und den Zustand der Zelle in der einen oder der anderen Richtung kollabieren zu lassen.
Der Grund ist, dass beim richtigen E.coli-Stamm chemische Reaktionen stattfinden, die auch die Laktose betreffen und Dekohärenz bewirken. Geschieht das bei vorhandener Laktose schneller als bei fehlender, dann wäre das eine Erklärung für die überraschenden Ergebnisse der Mutation, die sich anpasst.
Obwohl das noch Spekulation ist, unterstreicht es eines: Mutationen und Evolution könnten nicht nur zufällig stattfinden, sondern auch »gerichtet« verlaufen, directed. Und damit nicht mehr vom Zufall allein abhängig sein, sondern von einem epigenetischen Dialog, möglicherweise mit quantenmechanischem Design.
Auch Pflanzen registrieren die Umwelt. Sie können genauso in ihrer Genanordnung directed sein und geben diese Information dann an ihre Nachkommen weiter. Seit langem weiß man, dass Stresssituationen, pathogene Infektionen oder ultraviolettes Licht die Mutationsgeschwindigkeiten in Pflanzen beschleunigen. Sie passen sich epigenetisch der Umwelt an. Dass diese erworbene Eigenschaft weitervererbt wird und nach Generationen, wenn der Korrekturbedarf sinkt, wieder verschwindet, definiert genau das Modell der adaptiven Mutation.
Diese Weitervererbung erworbener Eigenschaften wurde von Neodarwinisten scharf bekämpft. Aus dem einfachen Grund, weil es einen »Dialog« zwischen Umwelt und Genom nahelegt und damit der reinen Zufälligkeit abträglich ist. Kurzum, es passt nicht in deren Weltbild.
Mit Verlaub: Die Kommunikation zwischen Umwelt und Genom reicht, ohne dass man mit diesem Gedanken eine intellektuelle Sünde begeht, über die reine Zufälligkeit hinaus. Das Erbgut tastet die sie umgebende Umwelt ab und führt, im Interesse des Überlebens, gezielte Veränderungen durch, die mit einer lottospielartigen Zufälligkeit allein nicht zu erklären sind. Es muss einen Grund haben.
Die adaptive Evolutionstheorie wäre wert, weiterverfolgt zu werden, allerdings hat sie viele Gegner: Jeder, der diese Zufälligkeit der Evolution in Frage zu stellen versuchte, wurde in der Vergangenheit von der wissenschaftlichen Gemeinde dem Scheiterhaufen übergeben. Der prominenteste war der französische Botaniker Jean-Baptiste de Lamarck. Er formulierte noch vor Charles Darwin eine Evolutionstheorie, deren Hauptprinzip ist: Es gibt eine gerichtete Höherentwicklung von Organismen, die durch sogenannte wiederholte Urzeugung, also spontan, entstandenen sind. So bilden sich die einzelnen Klassen. Als Nebenprinzip nahm er die Vererbung erworbener Eigenschaften an, die zur Artenvielfalt führt.
Lamarck hatte einen Gedanken ins Spiel gebracht, der später in der Zeit des Kulturkampfes erst abgelehnt, dann aggressiv bekämpft wurde. Sein dreistes Vorpreschen hätte die reine Zufälligkeit der Evolution beschnitten. Trotz Gegenwindes vertrat er die Meinung, dass nicht alleine das Zufallsprinzip die Evolution steuert, sondern exogene Designerfaktoren für Richtung und Geschwindigkeit mitverantwortlich seien. Obwohl Lamarck ein äußerst verdienter und kundiger Naturwissenschaftler war, verzieh man ihm die Wortmeldung über eine »designte Evolution« nicht. Er wurde dem wissenschaftlichen Anathema übergeben, der Verfluchung, und das Wort »Lamarckismus« wurde zum Synonym für »Unwissenschaftlichkeit«.
Ein ähnliches Schicksal ereilte den Gelehrten Paul Kammerer aus Wien. Auch er vertrat die Meinung, dass die Evolution nicht nur würfle, sondern dass es Umweltdesigner gäbe, die für die Ausbildung von Phänotypen, Erscheinungsbilder in der Genetik, und damit für die Richtung der Evolution verantwortlich seien. Wenn man die neuen Aufarbeitungen des damaligen Skandals studiert, mutet der Fall wie eine kleine Dreyfuss-Affäre an, deren Hauptakteur, der französische Offizier Alfred Dreyfuss, einer Intrige und einem gehörigen Antisemitismus zum Opfer gefallen war. Die Zuhilfenahme von einfachen grafischen bildunterstützenden Maßnahmen wurde Kammerer als Fälschung vorgeworfen. Man überschüttete ihn mit Schmutz und Schmach, Schimpf und Schande.
Späte Unterstützung bekamen beide Herrschaften durch eine kürzlich publizierte Arbeit, die ein reproduktionsmedizinisches Phänomen näher untersuchte, nämlich die Abnahme der Spermienqualität. Dass das auch im Säugetierbereich stattfindet, weiß man seit Jahrzehnten, und immer wieder wird die Umweltbelastung als Grund dafür präsentiert. Jetzt ist es durchaus verständlich, dass freie Radikale, aber auch Xenosteroide die Spermatogenese schädigen können. Dass dieser Schaden zukünftigen Generationen weitergegeben wurde, war für die wissenschaftliche Welt nicht nur neu, sondern überraschend. Angeborene Eigenschaften galten bis dato nicht als im Genom verankert. Also doch kein Zufall?
In der Zwischenzeit scheint man sogar den Ort gefunden zu haben, wo die Umwelt »designtt« wird. In den Methyl – und Acetylresten des epigenetischen Codes. Das beweist immerhin eines: Was emotional und dogmatisch als »reiner Zufall« interpretiert wurde, dürfte viel hintergründiger sein. Die Evolution läuft nicht blind umher, sondern orientiert sich über die Epigenetik an einem vorgegebenen Design, das man im Environment findet. Lange bevor sie die entstandene Spezies dem Überlebenskampf überlässt.
Übrigens war auch Darwin von einer gerichteten Evolution überzeugt, zumal er den natürlichen Ausleseprozess weniger im Lichte des Überlebenskampfes, sondern mehr in Anlehnung an die fortlaufende Anpassung an die Umwelt zu erklären suchte. In seinem Grundsatzwerk Von der Abstammung des Menschen schreibt er über das Prinzip der Nachahmung, des Verstandes und der ständigen Modifizierung dieser intellektuellen Kräfte, ohne dass er sie nachweislich darstellen konnte.
In gewisser Weise war er auch Lamarckist.
Gesprengte Ketten, freier Wille: Was ist uns bestimmt?
Das antike Hellas war vom Schicksal geprägt und nicht vom Willen. Die sokratische Lehre, dass niemand mit Absicht Böses tue, war tief im griechischen Denken verwurzelt. Vorstellungen von einem guten freien Willen, der auch bei eingeschränktem Erkenntnisvermögen den Menschen davor bewahren könnte, moralisch schlecht zu handeln, gab es nicht.
Tatsächlich determinieren uns Physik und Biologie. Zwar ist, wie Voltaire es formulierte, Freiheit »das Vermögen, etwas zu tun, was man will«, aber »in keines Wesen Macht steht es zu wollen, was es will«, wie schon Leibniz gesagt hat.
Allerdings ist das Kohlenwasserstoff-System der belebten Welt mobiler als das des Diamanten. Weil es aufgrund eines thermodynamischen Segmentes einerseits die Bereitschaft, sich zu vergrößern und zu vermehren, besitzt, andererseits bemüht ist, das effizient vorzunehmen, sich immer wieder anzupassen an eine Umwelt, die letztendlich der Spiegel der biologischen Existenz ist. Dort gibt es Freiheit, in dem immerwährenden Versuch, sich erfolgreich zu reproduzieren. Das ist tatsächlich ein apartes liberum arbitrium, ein kleines Stück echten freien Willens.
Um ein schnelles Anpassungssystem zur Verfügung zu haben, entwickelten die höheren Säuger drei Prägephasen, in denen dieses liberum arbitrium ruht: die Schwangerschaft, die ersten fünf Lebensjahre und die Pubertät. In diesen biologischen Fenstern herrscht insofern Freiheit oder auch Zufall, da es unterschiedliche Prägedeterminanten gibt, die bis zu einem gewissen Grad gewählt werden können. Und es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf Stress und Belastung zu reagieren. Das Gehirn hat verschiedene Reaktionsoptionen, wenn das Testosteron oder andere Substanzen aus den Geschlechtsdrüsen den Hypothalamus oder den Cortex betreten, und letztendlich entscheidet sich in diesen Lebensphasen auch, mit wie viel Vertrauen man Geschäfte abwickelt, dem Ehepartner begegnet oder seinen Mitarbeitern entgegentritt. Das alles ist durch die Epigenetik formbar. Damit existiert ein Generator für Plastizität, und dadurch gibt es im System ein kleines Stück Freiheit – allerdings mit großen Folgen für später.