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»Aber ich weiß noch lange nicht genug über diese fremden Kräuter«, unterbricht mich Myra aufgewühlt.
Wie müde sie aussieht. Habe ich ihr angesichts ihres Zustandes zu viel zugemutet? Noch sieht man erst eine kleine Wölbung, doch die Art und Weise, wie sie ihre Hände in abwesenden Momenten auf den Bauch legt, zeigt, wie sehr sie sich mit dem Gedanken vertraut macht, ein Kind auszutragen. Was, wenn sie sich überfordert hat, als sie vorschlug, sich um Elins Großmutter zu kümmern?
»Jetzt kannst du dich ausruhen und anderen die Pflege überlassen.«
Myra schüttelt energisch den Kopf. »Das meinst du nicht im Ernst, Fino! Ich lasse Asya nicht im Stich!«
»Schon gut.« Ich hebe die Hände.
Wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass mich Myra schwer verletzt aus den brennenden Trümmern einer unserer Hütten gezogen hat. Während die Thuns in unser Dorf eingefallen waren und es mordend in Brand gesteckt hatten, war ich Pollis, dem Sohn ihres Anführers, in einem fast aussichtslosen Kampf gegenübergetreten. Am Ende hatte ich ihn besiegt. Doch zu welchem Preis? Myra hatte mich gestützt, als wir die Toten unseres Dorfes beklagten, hatte meine Entscheidung zu fliehen nicht in Frage gestellt, und dabei doch ihre ganze Familie verloren. Wie tief muss sich der Verlust in ihr Herz eingebrannt haben. Ihr Herz, das jetzt für zwei schlägt. Verzeih mir Inde, mein Freund. Ich weiß, dass deine Schwester bereits viel zu viel Leid für ihr junges Leben gesehen hat.
»Du bist eine großartige Heilerin geworden, Myra. Inde wäre stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte. Deine Familie, sie alle ...«, ich gerate ins Stottern.
Schon auf unserer Flucht aus dem brennenden Dorf war ich daran gescheitert, die richtigen Worte zu finden. Solche, die den Verlust weniger schmerzhaft machen könnten.
Es ist schön, wenn du von ihm sprichst. So bleibt er in den Erinnerungen lebendig.
Myra hatte bei diesen Worten geweint und mich gleichzeitig gebeten, sie nicht zu schonen.
»Er fehlt mir. Seine Launen. Die Neckereien. Inde hätte sich jeden Tag beschwert, dass es nichts als jämmerliche Gräser und verschrumpelte Beeren zu essen gibt.«
Um Myras Mundwinkel zuckt es. »Mich würde er bestimmt damit aufziehen, dass ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand möchte. Du kennst seine freche Zunge.«
»Und wie«, ich lache befreit auf, »sie hat ihm so manchen Ärger eingehandelt.«
»Ob Inde sich gut mit Gundo verstanden hätte, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, was meinst du?«
»Sicher! Und deine Mutter erst! Sie wäre so froh über dein Glück, Myra.«
Gundo ist ein guter Mann. Und dazu ein Laxis. Ein Leben lang wird er für jeden sichtbar die Brandnarben des Überfalls auf unser Dorf auf seinem Körper tragen. Was ihn anfangs daran zweifeln ließ, ob er Myra seine Gefühle gestehen sollte. Doch er fand in Zeiten der Trauer die richtigen tröstenden Worte und gab Myra den Halt, den sie brauchte, um so etwas wie eine Zukunft zu sehen. Ich bin dankbar, dass sich die beiden gefunden haben. So wird der Stamm der Laxis nicht untergehen.
»Myra, geh mit Gundo zusammen an den See. Elin und ich kümmern uns um Asya.« Ich drücke Myra die Hand und weise mit dem Kopf in die Richtung. Dorthin, wo sich diejenigen, die den See erreicht haben, gegenseitig in die Arme fallen, ans Wasser stürzen und ihren Durst stillen. Ich hoffe für Myra, dass sich Freude in ihrem Herzen breit machen kann, wenn sie diesen besonderen Moment mit Gundo teilt. Sie hat es mehr als verdient, glücklich zu sein.
»Vielleicht finde ich dort unten auf dem feuchten Boden neue Kräuter.« Myra spricht leise, mehr zu sich selbst. Sie dreht ihr Gesicht in den Wind und schließt für einen Moment die Augen.
»Du hast alles versucht, Myra. Asya hat keinen Weg gewusst, wie wir ihr helfen können. Sie ist eine Seherin, vergiss das nicht.«
Ich höre ein Aufschluchzen. »Es ist, als ob Asya für all diejenigen steht, für die ich nicht da sein konnte. Ich möchte sie nicht gehen lassen.«
»Das verstehe ich.«
»Wenn ich wenigstens wüsste, wie meine Mutter oder Inde sterben mussten ...«
»Quäl dich nicht, Myra.« Ich fasse die junge Frau an den Schultern und rede eindringlich auf sie ein. »Ich weiß, wovon du sprichst. Der Tod ist Teil des Lebens, schon immer. Sobald wir uns an einem sicheren Ort niederlassen, werden wir unserer Toten gedenken. Und einen Ehrenstein in der Mitte des Dorfes aufstellen.«
Myra wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass es hier sein wird?«
Ein Frösteln legt sich auf meine Arme. So sehr ich es mir wünsche, mit den anderen in Jubel auszubrechen, es gelingt mir immer noch nicht. Obgleich dieser Ort so viel mehr verspricht, als wir alle erhofft haben. Irgendetwas tief in mir sträubt sich.
Mein Schweigen deutet Myra auf ihre Weise. »Was sagt Elin dazu?«
»Sie weiß es nicht.«
»Dann sprich mit ihr!«
»Es ist nur ein Gefühl, Myra.« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. «Als läge ein schwerer Stein auf meiner Brust. Dabei bin nicht ich derjenige mit der Sehergabe.«
»Und genau darum musst du mit Elin sprechen. Vielleicht kann sie dir mehr Antworten geben.«
»Meinst du, dass Asya diesen Ort in ihrer Vision gesehen hat?«
»Möglich ist es«, sagt Myra ausweichend. Sie zieht die Brauen zusammen, während sie in die Senke blickt. »Der Berg ist wie ein Fremder, das Tal eine Vertraute. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber in einem Tal leben.«
»So geht es mir auch, Myra. Wir haben schon immer in der Ebene am Fluss gelebt, dort war unser Zuhause. Ich weiß nicht ...«, ich stocke, »ob wir für ein Leben am Berg geschaffen sind.«
»Dann lass es uns ausprobieren, Fino.« Myra wendet sich um. »Ich gehe jetzt mit Gundo nach unten. Alles andere wird sich fügen.«
Wie weise sie ist, die kleine Schwester meines besten Freundes. Für einen Moment bleibe ich am Grat stehen, allein mit meinen Gedanken. Warum habe ich mich Myra anvertraut? Hätte ich meine Bedenken nicht eher mit Elin teilen sollen? Innerlich winde ich mich gleich einer Schlange um eine ehrliche Antwort. Myra ist eine Laxis. Jeder Stein in unserem Dorf war ihr genauso vertraut wie mir. Myra hat verloren, was auch ich verloren habe. Die Heimat. Die neu zu finden wir seit heute hoffen können.
»Asya, kannst du mich hören? Ich werde dich jetzt den Berg hinunter tragen.« Ich knie neben Elin und suche den Blick der alten Seherin.
Elin hält die knochige Hand der alten Frau in ihrer und schüttelt traurig den Kopf. »Ich versuche schon die ganze Zeit, zu ihr durchzudringen. Es ist, als hätte sich ihr Geist zurückgezogen.«
»Wir haben Wasser gefunden. Bald wird es dir besser gehen.« Vorsichtig lege ich einen Arm unter den ausgemergelten Körper und hebe ihn hoch. Ich spüre jeden einzelnen Knochen. Meine Schulter beschwert sich beim Anheben, ich lasse mir allerdings nichts anmerken.
»Großmutter, wir sind da. Wir haben deinen Ort gefunden.«
Das Lächeln, das sich über Elins Gesicht zieht, stimmt mich nachdenklich. Ich hätte es ihr doch sagen sollen.
Während ich so achtsam wie möglich den Berghang hinunter gehe, nagen Elins Worte an mir. Ist sie sich sicher und bin nur ich derjenige, der sich rastlos fühlt? Ich denke an die Nacht des Sonnenwendfeuers zurück.
Ich, Fino von den Laxis, werde der Mann an deiner Seite sein, mit dem du dein Volk in eine neue Heimat führen wirst.
Diese Worte haben sich in meine Seele gebrannt. Ich sehe den Moment noch genau vor mir. Als ich das Feuer gewaltsam zum Erlöschen gebracht und mich Elins Mutter einen Verräter genannt hatte. Ohne auch nur einen Augenblick des Zögerns hatte mich Elin, die Frau aus meinen Träumen, vor den Augen ihres Stammes zu ihrem Gefährten erwählt. Mich, der die letzten meines Stammes über die Berge ins nächste Tal geführt und sie bei den Fens in Sicherheit gewogen hatte. Nur um mitzuerleben, wie der grausame Thane von den Thuns mit seinen Kriegern auch in deren Tal einfiel. Er hätte keinen besseren Zeitpunkt dafür wählen können. Die Fens waren zur Feier des längsten Tages auf den Berg gestiegen, um der Göttin Irsa mit einem großen Feuer zu huldigen. In letzter Sekunde hatte ich verhindern können, dass dieses Feuer weithin für jeden sichtbar gewesen wäre. Am Ende war uns nichts anderes als der Aufbruch geblieben.
Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ich fühle mich steif, die Muskeln in meinem Bein sind hart, als mute ich ihnen zu viel zu. Automatisch ziehe ich das Bein nach. Mein Atem geht schwer. Ich bin erleichtert, als wir die Ebene erreichen. Meine Kräfte sind unter dem Gewicht der alten Frau schnell geschwunden.
Elin und die anderen Seherinnen wählen ein Lager in der Nähe des Seeufers, geschützt hinter einem Busch, und ich bette Asya vorsichtig auf das ausgebreitete Fell. Sofort bilden die Frauen einen Kreis und beginnen mit ihrem Gesang. Schwach und entkräftet die Körper, aber die Stimmen von Luna, Sori, Kala und Nasren tragen weit über das Wasser. Ich beobachte, wie die Fens innehalten, als würden sie sich in ihren Gedanken den Gebeten der Seherinnen anschließen. Mitten unter ihresgleichen meine Seelengefährtin. Sanftes Licht umgibt Elin. Sie ist von ihrem Volk auserwählt, zu Irsa zu beten. Dazu bestimmt, Asya zu folgen und den Rat der Seherinnen zu leiten. Die Luft ist erfüllt vom Gesang, ergreifend traurig und schön zugleich. Die Fens rücken zusammen, halten sich bei den Händen. Dieser Moment hat etwas Ehrfürchtiges an sich. Auch ich senke den Kopf und bete zu Irsa um ihren Segen, wie es bei uns Laxis Sitte ist.
Anschließend begebe ich mich zum Ufer des Sees. Die intensive Dunkelheit seines Blaus lässt nicht erkennen, wie tief er ist. Obgleich der Wind hier unten nur schwach über die Hügel streicht, kräuselt sich das Wasser in seiner Mitte. Vorsichtig strecke ich die Zehen hinein. Angesichts der unerwarteten Kälte ziehe ich sie schnell zurück. Erst jetzt knie ich mich auf den Boden und schöpfe mit hohlen Händen die ersten kostbaren Schlucke.
»Man kann den Grund nicht sehen.« Der Gesang ist verhallt, als Elin neben mir auftaucht.
»Es sieht schön aus, wie sich die Felsen in ihm spiegeln.«
Elin beugt sich tiefer und lässt die Hände sanft durch das Wasser gleiten. »Ich mag die Ruhe, die von ihm ausgeht.«
»Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.«
»Keine Sorge, freiwillig wird niemand in den See steigen. Dafür ist er viel zu eisig.« Sie lacht hell und fast schon kindisch auf. »Meine Hände frieren fast ab.«
Nasren, die schmächtige Seherin mit den faltigen Händen, füllt neben uns Wasser in eine Kelle.
»Brauchst du Hilfe?«
»Danke, es geht schon. Ich hoffe, Asya tut das kühle Wasser gut.«
Mein Blick folgt ihr, über das Lager der alten Seherin hinweg, hin zu den Hügeln, auf denen sich die Menschen wie fleißige Ameisen verteilen. Sie prüfen den Boden, suchen nach Essbarem, nach Holz, nach einem geeigneten Schlafplatz, wie sie es an jedem Ort getan haben, an dem wir bisher gerastet haben. Nur, dass es dieses Mal für immer sein soll. Ich schenke Elin ein hoffnungsvolles Lächeln und nehme sie bei der Hand, während wir aufstehen.
»Ist alles so, wie du hinter den Schleiern gesehen hast?«
Elins kurzes Zögern führe ich auf ihre Ergriffenheit zurück. »Vergiss nicht, noch sind es Asyas Visionen, die uns lenken.«
Nachdenklich schüttle ich den Kopf. »Aber deine Seherinnengabe ...«
»Bildet sich erst voll aus, wenn ich ihren Platz eingenommen habe.«
»Da hat mir dein Bruder aber ganz Anderes erzählt.«
»Er hat übertrieben. Meine Visionen reichen längst nicht an die von Asya heran.«
»Und trotzdem hast du uns hierher geführt.«
Elin wendet sich zu mir und legt die Hände auf meine Brust. »Wir beide, Fino. Nur gemeinsam sind wir so stark wie ...«, sie lächelt verschwörerisch und ich sehe ihren Blick über meine Schulter hinweg wandern, »wie der mächtige Fels dort drüben.«
Mir entweicht ein amüsiertes Glucksen. »Möge der Fels niemals ins Wanken geraten.«
»Möge er uns seinen Schutz anbieten und wir uns in seinem Schatten betten. Nur du und ich.«
Aufgewühlt nehme ich das Funkeln in Elins Augen wahr. In diesem Moment gibt es nur uns beide.
Mit der wilden Sehnsucht in unseren Herzen.
Von Verlusten zerrissen.
Von der einen Hoffnung zusammengeschweißt. Der Hoffnung auf einen Neuanfang.
Ich überwinde den letzten Lufthauch, der uns trennt, und nehme Elin in die Arme. Umwinde sie mit der Kraft meines Brans, spüre das Zittern, das augenblicklich durch ihren Körper geht. Meine Hand fährt ihren Nacken hoch. Meine Nasenflügel blähen sich auf. Ich sauge den Geruch ihrer Haut ein, nach Erde, würzigen Kräutern und dem scharfen Schweißgeruch, der auf ihrem Hals liegt. Wie ein ausgehungertes Wild lechze ich nach mehr.
»Später«, höre ich den Hauch von Elins Stimme, während sie sich sanft von mir löst. »Später, Fino.«
Meine starke Gefährtin. Ich nehme einen tiefen Atemzug und richte den Blick auf den See. Das Licht verändert sich schneller als gedacht. Eben noch lag er verheißungsvoll vor uns, jetzt liegen die ersten Schatten des Abends über dem Wasser.
Ich kneife die Augen zusammen, versuche mehr zu erkennen, womöglich unsere Zukunft zu sehen. Auf der einen Seite des Sees beginnt das flache Plateau, das bis an den steilen Felsen reicht. Er ragt weit in den Himmel. Ein stolzer Wächter, der mich an das Dorf der Fens und an die beiden Felsen an dessen Zugang erinnert. Hinter dem See steigen die Hügel wieder an. Das zarte Grün an vielen Stellen lässt auf fruchtbaren Boden hoffen.
Ohne, dass wir uns absprechen müssen, folge ich Elin auf das Plateau. Wie auf ein unsichtbares Zeichen verstummen die Menschen und ich erhebe die Stimme. Gleich einem Blinden, der sich in der Dunkelheit zurechtfindet, fließen die Worte aus mir heraus.
»Fens und Laxis, wir sind stolz auf euch. Euer Mut und eure Zähigkeit gehören belohnt. Lasst uns zur Ruhe kommen und diesem Ort freundlich begegnen. Noch heute Abend werden wir ein Feuer entzünden und Irsa Dank sagen.«
In dem Moment, in dem Elin ihre Faust auf die Brust legt, weiß ich, dass ich die richtigen Worte gefunden habe. Mit bewegter Stimme spreche ich weiter.
»Seid dennoch sorgsam und vorsichtig, niemand sollte sich zu weit entfernen und schon gar nicht allein. Möge Irsa, die Göttliche, diesen Ort segnen.«
»Möge Irsa gnädig auf uns blicken», vollendet Elin meine Rede.
»Möge Irsa gnädig auf uns blicken«, folgt es im Chor dreimal aufeinander.
Ein Gefühl der Ergriffenheit erfasst mich, als ich zu den Menschen blicke, die fortan mein Stamm sein werden. Sie alle haben ihre Faust auf die Brust gelegt und jubeln uns zu.
»Fino! Elin!«
Mein Herz pocht und mein Bran summt für die Frau an meiner Seite.
Gefährtin. Seelenpartnerin. Feuerfrau.
Nachtfunke, die du mich zum Glühen bringst.

Kapitel 3
Fino
Mit jedem Sonnenlauf wächst unser Lager zu etwas heran, das nach Bleiben aussieht. Jeder scheint zu wissen, was zu tun ist, ohne, dass Elin oder ich Anweisungen geben müssen. Nach und nach entspanne ich, dankbar um die schlichte Arbeit mit den Händen. Ich helfe, die provisorischen Zelte am See, in die sich die Seherinnen zurückziehen und um Asya kümmern, zu verstärken.
»Noch ein, zwei Schläge, dann müsste der Ast tief genug stecken«, sage ich zu Nasren, die zwei weitere Äste hält, über die wir ein Tuch spannen werden.
Plötzlich sehe ich den Jüngsten von Ferro auf uns zueilen. Er fliegt förmlich auf seinen kurzen Beinchen den Hang hinab.
»Du musst kommen, Fino, schnell!« Er ist ganz außer Atem. »Oben am Felsen streiten sich Gundo und Telman. Papa meint, die beiden schlagen sich gleich die Köpfe ein!«
Überrascht bücke ich mich zu dem Jungen. »Warum? Was ist da los?«
»Ich weiß es nicht, ich soll dich holen.«
Besorgt sehe ich zu Nasren. »Wir machen später weiter, ja?«
»Geh nur, Fino, das hier kann warten.« Die alte Seherin legt ihre Hand über die Brauen und richtet ihren Blick in Richtung Felsen. »Was kann da nur passiert sein?«
»Das werde ich gleich erfahren«, sage ich und gebe dem Jungen das Zeichen zum Aufbruch. Wie gern würde ich mit seinem Tempo mithalten können, doch ich bin noch lange nicht soweit.
Schon von Weitem höre ich laute Stimmen.
»Wir brauchen euren Kriegeranführer nicht! Er ist schuld, dass wir überhaupt hier sind!«
»Fino kann nichts dafür, du suchst nur einen Grund zum Streiten!«
»Da brauche ich nicht lange zu suchen. Wir Fens kommen gut ohne euch klar, Gundo!«
»Du hinterhältiger Hundling, ich werde ...«
Noch bin ich zu weit entfernt, um einzugreifen. Mit Schrecken sehe ich, wie Telman Gundo stößt. Er schreit auf und stolpert rückwärts.
Genau in dem Moment tritt Ferro aus der Gruppe der Umstehenden und stützt Gundo, bevor dieser zu Boden stürzt. Mit ausgestreckten Armen hält er die beiden Streitenden voneinander fern. »Lasst es gut sein, das hat doch keinen Sinn!«
Keuchend erreiche ich die Gruppe. »Was geht hier vor?«
»Ein unschöner Streit unter zwei jungen Hähnen«, erklärt mir Ferro, hinter dessen bärtigem Gesicht ich weniger Sorge als Belustigung sehe.
Telman spuckt neben seine Füße. »Ich fordere den Rat der Seherinnen ein. Er soll entscheiden!«
»Was entscheiden?« Verwundert mustere ich Gundos zerknirschtes Gesicht. »Was hat das zu bedeuten, mein Freund?«, frage ich leise.
»Der da«, verärgert zeigt Gundo auf sein Gegenüber, »hat dich aufs Übelste beschimpft und will keine Anweisungen mehr von dir annehmen.«
»Aha?« Fragend hebe ich meine Stimme. »Und warum nicht? Worüber sollen die Seherinnen entscheiden, Telman?«
»Wir brauchen dich nicht länger, Laxis«, er schnaubt laut auf. »Unser Rat hat zukünftig das Sagen, das ist alles, was ich will.«
»Euer Rat?« Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Mein Blick schweift über die umstehenden Leute, Männer und Frauen vom Stamm der Fens, die ich gemeinsam mit Elin an diesen Ort geführt habe. In Sicherheit vor Kaino, dem Kriegsgott und seinen Handlangern. »Hatten wir nicht beschlossen, einen neuen Rat zu bilden, sobald wir einen Ort gefunden haben, an dem wir bleiben werden? Einen Rat aus Fens und Laxis?«
Telman reckt seine Schultern durch. »Was wir beschlossen hatten, ist mir egal. Tatsache ist, dass ihr Laxis nur Ärger bedeutet. Wir hätten euch niemals aufnehmen sollen!«
Jemand neben mir stößt die Luft laut aus. Ich drehe den Kopf und sehe in Asos besorgtes Gesicht.
»Wer gibt dir das Recht, die Entscheidung des Rats und insbesondere von Asya anzuzweifeln, Telman?«, fragt er und baut sich vor ihm auf.
»War ja klar, dass du dich auf seine Seite stellst!« Telmans Fäuste sind kampfbereit geballt.
»Niemand stellt sich auf irgendeine Seite«, erwidert Gundo. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er weiterspricht. »Fino ist und bleibt unser Anführer, da kannst du so viel Ärger machen, wie du willst!«
Erschüttert sehe ich von einem zum anderen. »Willst du wirklich die Stämme entzweien, Telman? Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben?«
»Du kannst dir das ganze Gerede sparen, Fino, der Fens wird niemals einsichtig!«, wirft Gundo mit unverhohlener Wut ein. »Wenn nötig stimmen wir nach unserem Brauch ab.«
»Das kannst du vergessen!« Telman tritt mit dem Fuß auf den Boden. »Der Rat der Seherinnen soll zusammenkommen.«
»Wie wäre es, wenn ihr euch erst mal alle beruhigt.«
Das tiefe Brummen von Ferro dringt zu mir, und doch wieder nicht. Zu tief trifft mich die Gewissheit, dass ich von Anfang an richtig lag und Elin irrte. Telman bedeutet Ärger. Einen Ärger, den wir uns in der Fremde kaum leisten können. Ein Bruch würde uns schwächen. Noch wissen wir nicht, wie uns dieses fremde Land aufnehmen wird.
»Nein!«, ruft Telman.
Ich zucke zusammen. Sowohl in seiner Körperhaltung als auch in seiner Stimme liegt etwas Endgültiges.
»Wer meiner Meinung ist, kommt mit mir auf die andere Seite des Sees. Wir bauen unser eigenes Lager auf.«
»Telman, was soll das?«, empört sich Ferro, noch bevor ich ein Wort dazu sagen kann. »Wir haben wirklich andere Sorgen.«
»Die wir nicht hätten, gäbe es ihn nicht!«
Die nackte Bosheit trieft aus seinen Worten, als er mit dem Finger auf mich zeigt. Ich erstarre regelrecht. Schon bei unserer Ankunft im Dorf der Fens habe ich Telman als einen Mann erlebt, der seinen Mund nicht halten kann. Angeblich hatte er früher genau wie Dragon ein Auge auf Elin geworfen. Doch Zwietracht unter uns zu säen, geht weit über das Ergebnis unerwiderter Gefühle hinaus. Entsetzt stelle ich fest, dass sich die Menschen um uns herum in Bewegung setzen. Kaum wahrnehmbar, dennoch entsteht eine Lücke zwischen mir, Aso, Gundo, Ferro, zwei Handvoll Fens und etlichen der jüngeren Männer. Sie nicken Telman anerkennend zu.
»Wenn Asya euch so sehen würde, wäre sie genauso erschüttert wie ich.«
Elins kraftvolle Stimme durchströmt mich wie ein wärmender Sonnenstrahl. Ich wende den Kopf und sehe sie einer Göttin gleich auf einem der nahen Hügel stehen. Sie ist flankiert von Dragon und den Zwillingen. Myra und ein Großteil der Frauen drängen sich hinter hier zusammen und werfen uns neugierige Blicke zu. Für ihre Rückkehr von der Suche nach Kräutern, Beeren oder anderem Nahrhaften hätten sie keinen besseren Augenblick wählen können.
Stille breitet sich aus, nur durchbrochen von leisem Wispern.
Ich räuspere mich. Suche vergebens nach erklärenden Worten.
»Telman und Gundo hatten lediglich eine kleine Meinungsverschiedenheit, nicht wahr?« Ferro sieht eindringlich zu den beiden Streithähnen.
»Pff«, höre ich Aso nah an meinem Ohr und lege meine Hand mahnend auf seine Schulter.
Noch immer rührt sich niemand. Als würde Elins Urteil wie ein drohendes Schwert über allen hängen.
»Mein Auge täuscht mich selten, darum will ich hoffen, dass du recht hast, Ferro«, sagt Elin und nähert sich mit entschlossenen Schritten. »Wenn wir später die Kelle im Kessel herumreichen, so schließlich in dem Wissen, dass wir eine Gemeinschaft sind. Eine Gemeinschaft aus zwei Stämmen, die aufeinander angewiesen sind, in dieser Fremde heimisch zu werden.«
Stolz blicke ich zu Elin. Wenn nicht ihr, wem dann kann es gelingen, uns zu einen?
Für immer. So wie Mann und Frau.
Wie Krieger und Seherin.
»Was steht ihr alle untätig rum?«, fragt Dragon und schwenkt ein prall gefülltes Tuch. »Schürt das Feuer unter dem Kessel, wir haben essbare Beeren in Hülle und Fülle gefunden.«
»Komm, Telman, du kannst mir helfen.« Entschlossen packt Jula ihr Baby von ihrem Rücken und reicht die Kleine dem streitlustigen Hünen. Schon einige Male hat die hager wirkende Frau in ihrer energischen Art Telman zur Vernunft bringen können. Ich bin froh, dass er Jula ohne Murren folgt.
»Puh«, stößt Aso erleichtert aus, »gut, dass du gekommen bist, Schwester.«
»Was wärt ihr ohne uns Frauen!« Ein schalkhaftes Lächeln überzieht Elins Gesicht.
»Auf jeden Fall am Verhungern!«, sage ich grinsend und ziehe sie an mich. Tief atme ich den Geruch ihrer Haut ein, der erdig und zugleich eine Spur fruchtig riecht. Wie habe ich sie vermisst. Jeder noch so kurze Moment, in dem ich von meiner Gefährtin getrennt bin, fühlt sich an, als schlüge mein Herz nicht im richtigen Takt. Prompt reagiert mein Körper und ich bin sicher, Elin hört das laute Klopfen in meiner Brust. »Ich bin froh, dass du zurück bist.«

Kapitel 4
Fino
Gundo und ich teilen uns schon zum dritten Mal die Nachtwache. Es tut gut, diese Stunden mit einem vertrauten Menschen zu verbringen. Umgeben von der Schwärze der Nacht, wissend um die Konturen der Gipfel, die sich wie an einem Seil aneinanderreihen. Jeder Einzelne buhlt darum, noch ein Stück höher hinaus zu ragen. Noch im Nachhinein bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass wir vier Bergketten überwunden haben.






