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»Es hat sich gelohnt durchzuhalten, was meinst du?«
Gundo spricht mir aus der Seele. In den dunklen Stunden, nur mit den funkelnden Lichtern über uns als stille Beobachter, kreisen unsere Gedanken um diesen Ort, an dem wir uns niedergelassen haben.
»Ich bin vor allem froh, dass sich Telman wieder beruhigt hat.«
»Auf jeden Fall«, stimmt Gundo mir zu, ehe er einen ausgiebigen Schluck aus dem Wasserschlauch trinkt. »Der ist trotzdem wie eine schwelende Glut, die jederzeit wieder aufflammen kann.«
»Jula hält ihn auf Trab. Ich glaube, er hat einen Narren an der Kleinen gefressen.« Ich lache leise vor mich hin. »Warts ab, wie das mit Myra und eurem Baby erst wird.«
»Ach, bis dahin ist noch viel Zeit. Jetzt ist erst mal wichtig, dass Myra zur Ruhe kommt. Unterwegs habe ich mich mehr als einmal um sie und das Kind gesorgt.«
»Myra ist stark für zwei«, sage ich und sehe sie in dem Moment genau vor mir, wie sie mich nach meinem Kampf mit Pollis stützt. Damals fast selbst noch ein Kind. Andererseits mutig und zu allem entschlossen.
Schweigen legt sich über uns wie eine schwere Decke, während ich meinen eigenen Erinnerungen nachgehe. Seit dem Überfall der Thuns auf unser Dorf, seit ich den Letzten meines Stammes zumuten musste, die Toten hinter sich zu lassen, trage ich diese eine Frage mit mir herum. Wäre alles anders gekommen, wenn ich mich damals dem Sohn des Thane nicht in den Weg gestellt hätte? Wenn ich seinen Zorn nie auf mich gezogen und Larina ihrem Schicksal überlassen hätte?
Ich nehme einen tiefen Atemzug. »Ohne mich wären wir jetzt nicht hier.«
»Was meinst du damit, Fino?« Ein Rascheln verrät mir, dass Gundo sich ein Stück aufrichtet. Ich sehe das Weiß in seinen Augen aufblitzen.
»Ich hätte Bane abhalten können, Larina befreien zu wollen. Er ... wir hätten auf seinen Vater hören können ...«
»Um dann damit leben zu müssen, dass wir unsere eigenen Frauen nicht beschützen können? Pollis hat es von Anfang an auf eine Auseinandersetzung angelegt. Ihm wäre jedes Mittel recht gewesen.«
»Was, wenn ich Pollis nicht im Kampf getötet hätte ...«
»Dann wärst du jetzt verdammt noch mal tot.«
Gundos heftiger Ausbruch erwischt mich eiskalt.
»Ich weiß gar nicht, was dich reitet, Fino. Myra meinte schon so etwas von wegen du siehst immer noch nicht nach vorn. Aber mal ehrlich, ohne dich hätte keiner von uns überlebt. Sieh es mal so herum!«
Der junge Laxis ist kein Freund großer Worte, darum rührt er etwas in mir. Leise, wie ein Reh, das sich scheu einer Lichtung nähert, um nach frischem Gras zu suchen. Musste alles so kommen? Hatte die Göttin letztlich ihre Finger doch im Spiel, so wie Asya behauptet hat? Ich starre in die Weite dieser neuen Welt.
»Wenn ich uns damals an einen anderen Ort geführt hätte, ich meine, nicht zu den Fens, dann wäre all das nie passiert.« Und ich hätte nie meine Seelengefährtin gefunden.
»Das denkst du wirklich?« Gundo schlägt mir auf die Brust. »Lass nicht zu, dass Telmans sinnloser Vorwurf an dir nagt. Wo ist der Kriegeranführer geblieben, der weitsichtig genug war, uns zu retten? Vergiss es, Fino. Wenn einer richtig gehandelt hat, dann wohl du!«
»Danke, Gundo, deine Worte bedeuten mir viel.«
»Aber sie überzeugen dich nicht.«
Frustriert schüttle ich den Kopf.
Gundo reibt sich die kalten Hände. »Denk an Kanoa, oder von mir aus auch an Inde, Bane, Larina. Ich könnte noch viele Namen nennen. Lass ihre Opfer nicht umsonst gewesen sein. Und glaub mir, die Thuns hätten uns überall aufgespürt.«
»Das behauptet Elin auch.« Ich streiche über die Stoppeln am Kinn. Elin hat mir den wilden Bart abgewetzt. Eine der ersten Taten, nachdem der Schmied das wenige Werkzeug herausgeholt hat, das wir retten konnten.
»Sie hat recht. Und du bist ein Idiot. Bitte entschuldige, wenn ich das sage.«
»Ist schon gut, Gundo. Ich weiß auch nicht, warum ...« Mit Absicht lasse ich den Satz unvollendet. Trotz Gundos ehrlichen Worten komme ich keinen Schritt weiter. Irgendetwas hält mich davon ab, unser Ankommen als solches zu sehen. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt.
Die Luft, die in den Nächten von Mal zu Mal kühler wird, bereitet mir Sorgen. Selbst die Wolken verändern sich. Sie fühlen sich feuchter an. Auch die fehlenden Siedler lassen mich auf einmal zweifeln. Warum hat sich niemand an diesem See niedergelassen, an dem es immerhin genügend Wasser, essbare Gräser und Früchte gibt?
Ich werde den neuen Rat einberufen. Und zuvor noch einmal versuchen, mit Asya zu sprechen. Asya! Noch immer hat sich die alte Seherin nicht von den Strapazen der Reise erholt. Ich wünschte, ich könnte mit ihr so reden wie damals, als sie uns Fremde aufgenommen und mich gesund gepflegt hatte. Du wirst noch gebraucht. Waren nicht genau das ihre Worte? Aber worin liegt der Sinn, wenn die Fens genau wie wir ihrer Heimat beraubt wurden und ich die Schuld daran trage?
»Ich weiß, was ihr sagen wollt.«
Ich stehe den vier Seherinnen, Aso, Dragon, dem Schmied und Telman gegenüber, die neben Gundo, Myra und Elin dem neu entstandenen Rat angehören, und sehe in ihre fragenden Gesichter. Der Rat ist vor kurzem erst gebildet, alle anstehenden Aufgaben dabei besprochen und verteilt worden. Als Ort der Zusammenkunft wurde der Platz vor dem größten Fels gewählt, der für Kraft und Zusammenhalt stehen soll.
»Ich komme gerade von Asya. Die wenigen klaren Momente haben gereicht, um mich darin zu bestärken, mit euch zu sprechen.«
»Was ist denn los?« Der Schmied kreuzt die Arme vor der Brust, den Blick neugierig auf mich gerichtet.
»Komm jetzt bloß nicht mit der Idee, uns den Ort madig machen zu wollen!«
Für einen Moment entgleiten mir die Gesichtszüge. Woher kennt Telman den Grund dieser Zusammenkunft? Elins heimlicher Händedruck ist gut gemeint, gibt mir jedoch nur so viel Zuversicht wie ein stumpfes Messer.
Ich räuspere mich. »So leid es mir tut, aber genau darum geht es.«
Telman springt förmlich auf und spuckt auf die Erde. »Hab ich´s doch gewusst. Den Blödsinn muss ich mir nicht anhören.«
Im Stillen danke ich dem Schmied, der ihn am Arm packt und auf seinen Platz zurückdrängt. »Wir hören uns erst an, was Fino zu berichten hat.«
»Ich habe euch hergerufen, um meine Bedenken mit euch zu teilen.« Die Sonne verschwindet gerade hinter einer Wolke und verdüstert die Senke. Wie passend. »Ich habe Asya um Rat gefragt. Sie hat mir von ihrer Vision erzählt. Nur langsam und unter großer Anstrengung. Ich sage euch, dies ist nicht der Ort, den sie gesehen hat.«
Erregtes Gemurmel setzt ein. Schwillt an, bis die einzelnen Rufe nicht mehr zu überhören sind.
Die tiefe Stimme des Schmiedes findet zuerst das Gehör aller. »Die Vision interessiert mich nicht. Niemand hat Lust, deswegen weiterzugehen, das kannst du mir glauben, Fino.»
»Sehe ich auch so«, sagt Dragon. Ich ertappe ihn dabei, wie er Elin einen fragenden Blick zuwirft. Ihre Miene bleibt regungslos. Nicht einmal ich kann sagen, was hinter ihrer Stirn vor sich geht.
»Was genau hat Asya erzählt?« Sori, die jüngste der Seherinnen, erntet zustimmendes Nicken.
Der Druck auf meiner Brust nimmt zu. Selbst das Atemholen fällt mir schwer. Darum fürchte ich, dass meiner Stimme die nötige Kraft fehlt, um überzeugend zu klingen. »Sie sprach plötzlich von einem Land der Weißen Steine, hier aber das falsche Weiß wäre.«
»Hat sie auch gesagt, was sie damit meint?«
Für Gundo steht viel auf dem Spiel. Er wird bald Vater. Ich mag gar nicht an die möglichen Strapazen für Myra denken. Außerdem ist Gundo dabei, die Kunst des Schmiedens zu erlernen. Ein Ortswechsel würde auch für ihn bedeuten, ein weiteres Mal mit dem mühsamen Bau der Schmiede zu beginnen. Die Felsen sind hartnäckig. Sie geben ihre Steine nicht einfach her. Das Graben braucht viel Zeit und noch mehr Geduld.
Bedauernd schüttle ich den Kopf. »Leider nein. Aber sie hat mich immer wieder beschworen, auf den Himmel zu achten. Als käme von dort eine Gefahr, die wir nicht kennen.«
»Und darum zweifelst du also an diesem Land? Nur wegen Asyas wirren Worten?« Dragon dreht sich im Kreis und sieht einen nach dem anderen eindringlich an. »Ich bitte euch, wir wissen alle, dass ihr Kopf nicht mehr klar ist. Elins Visionen sind viel wichtiger, und sie hat gesagt, dass wir hierbleiben, stimmt´s Elin?«
Ich beiße mir auf die Lippe, um nichts Unüberlegtes zu erwidern. Dragons Ton lässt es an Ehrfurcht vor der Alten mangeln. Sofort spüre ich den Kloß in meinem Hals, der jedes Mal aufkommt, wenn ich mich mit ihm auseinandersetzen muss.
»Stimmt das, Elin? Hat die Göttin diesen Ort längst gesegnet?« Myras leise Frage bringt alle dazu, ihre Blicke auf Elin zu richten.
»Dragon hat recht«, erwidert Elin mit fester Stimme.
»Das meinst du nicht ...«
Mit erhobener Hand unterbricht Elin meinen empörten Ausbruch. Mein Blick verfinstert sich.
»Was ich sagen möchte ... ich sehne mich wie ihr alle danach, hier zu bleiben, neue Kraft zu tanken. Asya hat von finsteren Zeiten in den Moragen gesprochen. Und davon, dass wir ein Volk der Bewahrer sind. Wir können säen, ernten, und überall neu beginnen.« Elins Züge verraten nichts, aber ich sehe das schnelle Heben und Senken ihrer Brust. »Ich fürchte nur, ich kann nichts von all dem sehen.« Sie senkt den Kopf.
Auf einen Schlag fühle ich mich kraftlos. Als wären Elin und ich auseinandergerissen worden. Zwei Herzen, die im Gleichtakt schlagen sollten. Vielleicht hätte ich Elin meine Bedenken anvertrauen, sie nach ihren Visionen fragen sollen. Mit ihr gemeinsam nach Lösungen suchen müssen. Ihre Worte schmerzen, sie hinterlassen einen eigentümlichen Beigeschmack.
Elins Weg ist wie meiner vorherbestimmt. Sie wird ihrer Großmutter nachfolgen und die Seherinnen leiten. Sie ist die Auserwählte. Dazu bestimmt, zu Irsa zu beten und dem Stamm der Fens auf diese Weise zu dienen. Erst jetzt erkenne ich mit Schrecken, dass sie diese Bestimmung irgendwo zwischen Bergen und Tälern verloren haben muss. Wenn ich meine Gefährtin doch nur beschützen könnte!
Unverhofft durchbricht Gundo das Schweigen, schwarz und zäh wie Pech. Er stellt sich mit stolz geschwellter Brust in unsere Mitte. »Asya hat aber auch gesagt, dass man einst über uns Geschichten erzählen wird.«
Wie recht du hast, mein Freund. Du schenkst dem Stamm der Laxis einen neuen Spross. Allein das ist es wert, am Feuer erzählt zu werden.
»So wird es geschehen, Gundo, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort«, sage ich und stelle mich neben ihn. »Ich kann euch nicht erklären, warum mich meine Zweifel nicht ruhen lassen. Darum frage ich euch, wo sollen wir genügend Holz finden, um Hütten zu bauen? Womit auf lange Sicht Feuer machen, das uns in den kalten Nächten wärmt? Felsen, Gras und Gestrüpp genügen nicht, wenn wir ein ganzes Dorf erbauen wollen.«
»Dafür haben wir Wasser so viel wir wollen«, wirft Dragon mit finsterer Miene ein.
»Wasser ist wichtig, ohne Wasser kann ich kein Werkzeug herstellen«, gibt der Schmied zu bedenken.
»Aber wir brauchen so viel mehr. Mächtiges Wild, das wir jagen und uns Felle daraus machen können. Genügend Stroh, auf dem wir liegen werden ...«
»Wir haben begonnen, nach Höhlen zu suchen«, fällt mir Dragon ins Wort. »Und wir nutzen die Steine, um Hütten zu bauen.« Um seinen Mund verläuft ein verkniffener Zug.
Sein Einwand erntet zustimmendes Nicken.
»Auch die Felsen werden uns Schutz bieten.« Sori klingt aufgeregt wie ein kleines Kind. »Sobald wir genug Werkzeug haben, graben wir mit vereinten Kräften einen Unterschlupf. Dort, oberhalb des Plateaus.« Ihre Hand zeigt in Richtung der Felswand. »Wir haben genug Wasser und du, Myra, hast schon viele Kräuter gefunden. Genug, um Heilpasten daraus zu machen und Sud gegen Krämpfe.«
Nasren hustet. Sie steht leicht gekrümmt in unserem Kreis und breitet die Hände aus, als wolle sie beten. »Wir haben alles, was wir brauchen, Fino, wozu also noch weiterziehen? Was versprichst du dir davon?«
Trotz aller Einwände versuche ich, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, und doch schwingt in meiner Stimme ein leiser Zug der Verzweiflung mit. »Aber ihr seid kein Volk der Berge. Was ihr braucht, ist ein Tal mit saftigen Wiesen. Wo das Vieh leben kann und die Bäume wieder wachsen werden.«
»Du bist kein Krieger, sondern ein Träumer, Fino«, schnaubt Telman mit finsterer Miene.
»Ich sehe es genauso wie Fino.«
Überrascht wende ich den Kopf zu Elin. Ihre Augen sind in die Ferne gerichtet.
»Was nutzt uns Wasser in Hülle und Fülle, wenn wir keine Felder haben, die wir bewässern können? Erinnert ihr euch noch an unsere Bäume? Wie saftig die Früchte an ihren Zweigen hingen? Wie wir gestaunt haben, dass sie mit jedem Sonnenlauf größer und kräftiger wurden? Ich vermisse all das. Und unser Dorf.«
Mehrere Seufzer sind zu hören.
»Nirgendwo steht geschrieben, dass wir es nicht auch anders schaffen. Ich bin dafür, hier zu bleiben. Wenn ich mich umsehe, gibt es da nichts als noch mehr Berge, nichts, wofür es sich lohnt, sich weiter zu quälen. Wir wissen nicht, was uns anderswo erwartet«, erwidert Telman in einem Atemzug.
Ich schlucke. Streng genommen spricht Telman für viele der Fens. Diejenigen, die ihm ihr Vertrauen geschenkt und ihre Lager auf der anderen Seeseite aufgebaut haben. Nicht einmal Elin konnte verhindern, dass es so gekommen ist. Letztendlich haben wir ihn gerade darum in den Rat berufen. Eine versöhnliche Geste, die ich fast wieder bereue.
»Du hast recht, Telman, ich sage nicht, dass es leicht wird.«
Der Schmied sieht mich nüchtern an. »Was ist dein Plan?«
Danke, forme ich mit den Lippen. Es ist immerhin ein Anfang.
»Genau«, stimmt ihm Aso zu. Bisher hat er sich mit seiner Meinung zurückgehalten. »Worüber genau sollen wir im Rat abstimmen?«
»Ich suche ein paar Männer, die mit mir kommen wollen. Ich möchte über diesen Bergkamm, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Einem Gipfel folgte auf unserem Weg auch immer ein Tal. Oder zumindest ein Einschnitt. Wir gehen am Tage, eine Handvoll Nächte werden wir durchhalten. Dann kommen wir zurück.«
»Ich bin dabei«, sagt der Schmied, ohne lange nachzudenken. »Du kümmerst dich solange darum, dass der Bau der Schmiede voranschreitet, Gundo.«
»Danke, Mann, du bist ein treuer Gefährte.« Die Loyalität des Schmiedes rührt mich. Er ist ein tapferer Laxis, wenn nicht sogar der Tapferste. Trotzdem spüre ich, dass er nicht an einen anderen Ort glaubt.
Telman hingegen sieht eisern zu Boden. Vielleicht nimmt er an, dass er sich mir als Ratsmitglied anschließen muss, sobald er meinem Blick begegnet. Dabei sind mir wenige vertraute Begleiter lieber als ein lauter und ungestümer Fens.
»Auf mich kannst du auch zählen.« Prompt stellt sich Aso auf meine Seite, als wäre das ein Zeichen.
»Das habe ich befürchtet», sagt Elin leise.
Schnell schenke ich ihr ein zuversichtliches Lächeln. »Ich werde auf deinen Bruder achtgeben.«
Kaum, dass ich den Satz beendet habe, richtet sich Dragon auf. »Dann kommen die Zwillinge und ich auch mit. Nur für den Fall, dass ihr Hilfe braucht.«
Wie großzügig. Ich presse die Lippen zusammen, um mir einen entsprechenden Kommentar zu verkneifen. Schon einmal habe ich Dragon unterschätzt. Und musste ihm dafür danken, dass er mich vor dem Thane gerettet hat. Dieses Eingeständnis ist mir wahrlich nicht leicht gefallen.
Wir werden also sechs Mann sein. Auf der Suche nach einer Vision. Oder dem Land unserer Zukunft.
»Dann ist es beschlossen. Wir brechen morgen früh auf.«

Kapitel 5
Elin
Wolken türmen sich auf, dicht und ungestüm. Sie ergreifen Besitz von den Gipfeln der Berge, verdunkeln die Welt, nehmen alles in sich auf. Es ist das, was sie nicht sieht, das ihr den Atem raubt. Sie zwingt sich zur Ruhe. Es muss mehr geben, irgendwo hinter dem Halblicht wird sie die Antwort finden.
Eng liegt Elin an den Körper ihres Gefährten geschmiegt. Die Nacht ist kühl. Ihr ist kalt. Das Feuer allein genügt kaum noch, um sie zu wärmen. Seit sie hinter die Schleier gesehen hat, seit sie vor dem Rat zugeben musste, wie wenig ihre Gabe von Nutzen ist, ist etwas in ihr erstarrt. Niemals zuvor hat sie sich derart hilflos gefühlt. Sie sollte dankbar für die Wärme sein, die Finos Körper ihr spendet.
Doch Fino wird gehen. Und es zerreißt sie innerlich zu wissen, dass sie sich trennen müssen. Sie weiß, dass seine Gedanken selbst hier auf ihrem Lager in die Ferne schweifen. Über den Berggrat hinweg, auf der Suche nach Antworten, die sie nicht geben kann. Liebevoll legt sie die Hand auf seine Brust. Die Unruhe hat sich dort eingenistet wie ein hartnäckiger Feind.
»Meinst du, es ist ein Fehler?«
»Was glaubst du?«, fragt er, statt zu antworten.
Ihre leisen Worte verlieren sich in der Dunkelheit. »Du hast die Argumente auf deiner Seite.«
»Aber was denkst du wirklich?«
Sie schließt die Augen und lauscht in die Stille, bevor sie sich zu einer Antwort durchringt. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.«
»Schon gut, Elin, es ist nicht deine Schuld.«
»Und ob es das ist!« Ihre Stimme zittert.
Es raschelt. Fino stemmt sich auf die Unterarme. Die Glut ist fast heruntergebrannt, und sie ist froh, dass er ihr Gesicht nicht genau sehen kann.
»Als ich versucht habe, mit deiner Großmutter zu sprechen, war ich mir sicher, dass sie mir etwas Bedeutsames sagen wollte. Dass ihre Visionen noch immer ein Teil von ihr sind.«
»Nur weil ihr Körper an Kraft verliert, heißt es nicht, dass ihr Geist nicht weiter auf Reisen geht.«
»Du hast sicher recht, Elin. Aber was sieht dein Geist?«
Sie wünschte, sie könnte ihm eine Antwort geben, die ihm Gewissheit gibt. Dabei spürt sie seine Zweifel, seine stummen Fragen.
Ernüchtert rollt sie sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Was geschieht mit ihr, wenn sie in die Dunkelheit des Halblichts abtaucht? Lange genug hat sie darüber nachgedacht. Immer und immer wieder. Stein für Stein umgedreht. Die Schwärze bleibt. Sie ist wie ein Makel. Schlimmer noch. Ein eitriger Pickel auf der Haut. Wenn ihre Mutter noch hier wäre, würde sie ihr ins Gesicht lachen. Sich bestätigt sehen, dass Asya die falsche Wahl für ihre Nachfolge getroffen hat. Und genau deswegen erstickt Elin jeden Zweifel in seinem Keim. Niemals wird sie ihrer Mutter diese Macht zusprechen, ihre Gabe in Frage zu stellen. Es wäre, als ob sie am Ende doch noch siegen könnte. Über ihren Tod hinaus.
Auf einmal spürt sie Finos Atem an ihrer Halsneige. Gewiss dreht er sich in Erwartung einer Antwort zu ihr. Ihr Herz klopft rasend schnell.
»Es ist, wie es ist. Das Halblicht gibt nur preis, was ich sehen soll.« Sie nimmt einen tiefen Atemzug. »Ohne meine Sehergabe hätte ich dich jedoch niemals gefunden.«
»Dafür werde ich bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Aber jetzt ...«, Fino hebt abrupt den Kopf. »Haderst du mit der Entscheidung im Rat, Elin?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
»Ich vertraue Asya«, antwortet sie mit fester Stimme, »und du solltest es auch tun.« Anschließend bettet sie Finos Kopf zwischen ihre Hände und kommt seinem Gesicht ganz nah. »Asya hat uns ihren Segen für den Aufbruch gegeben. Sie hat eine Zukunft für uns gesehen. Selbst wenn diese nicht hier sein wird, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte.«
Zärtlich fahren ihre Finger über die kurzen Bartstoppeln, seine weichen Lippen, und sie spürt augenblicklich, wie sich ihr Gefährte an sie drängt.
»Mein Krieger«, wispert sie. »Gib auf dich Acht. Ihr seid nur zu sechst, und es kann gefährlich werden.«
»Nicht weniger gefährlich als unser Weg hierher.« Ein tiefes Stöhnen unterstreicht Finos Worte, während sie seine Hand an ihrem Nacken spürt, weil er sie näher an sich heranzieht. Ihre Eule pulsiert sanft unter der Haut. Schauder ziehen über ihren Körper, an jeder einzelnen Stelle, die Fino berührt.
»Ich muss es einfach versuchen, Elin. Gemeinsam müssen wir nach vorne sehen. Die Nächte werden kälter, du spürst es doch auch? Von da, wo wir herkommen, kennen wir diese Kälte nicht. Nicht so, dass man morgens mit Steifheit in den Gliedern aufwacht. Das Essen reicht gerade zum satt werden. Was uns fehlt, sind Vorräte, frisches Fleisch ...«
Ihr Finger legt sich auf Finos Mund. »Ich weiß, was du meinst. Dich und die anderen gehen zu lassen, fällt mir trotzdem nicht leicht. Was, wenn ihr euch verirrt? Oder sich einer von euch verletzt?«
»Wir bleiben zusammen, das verspreche ich dir, Elin.«
Sie ringt nach den richtigen Worten. »Nur wenige Sonnenläufe.«
»Wenn es nur um mich ginge, würde ich dich keinen einzigen Atemzug lang allein lassen. Aber ...«, ihr Gefährte hält inne, »es geht um unsere Stämme. Wir dürfen nichts unversucht lassen.«
»Ich wünschte, ich könnte euch begleiten.«
»Du wirst hier gebraucht, und das weißt du auch. Du hast Mut für zehn, und die Leute vertrauen dir. Lass dich nur nicht von Telman ärgern.«
»Mit dem Dickschädel komme ich schon klar, mach dir keine Sorgen.«
Für den Moment schließt sie die Augen. Sie sieht ihrer beider Wege vor sich. Fino und sie sind Seelengefährten, vereint durch ein unlösbares Band, weil ihr Bran füreinander summt. Ihre Wege sind vorherbestimmt, von Geburt an. Nicht, dass es leicht ist, die Auserwählte zu sein. Wenn sie zurückblickt, dann erinnert sie sich vor allem an die lange Lehrzeit, die ihr wenig Freiraum gelassen und sie unfreiwillig zur Außenseiterin gemacht hatte.
»Hast du nie gezweifelt? Ich meine, auf deinem Weg zum Krieger?«
Schweigen streift über sie wie eine sanfte Windbö. Elin rechnet kaum noch mit einer Antwort.
»Nachdem meine Mutter ...«, beginnt Fino leise und räuspert sich. »Nach dem Tod meiner Mutter bin ich krank geworden. Sehr krank. Ich konnte kein Essen in mir behalten. Allerdings war ich beinahe froh darum. Weil ich dachte, dass ich dann zu schwach wäre, um ein Krieger sein zu müssen. Ich wollte keiner sein. Alles sträubte sich in mir, meinen Vater stolz zu machen. Er hat mir die Suppe regelrecht aufgezwungen, hat mich angestachelt, mich verhöhnt. Am Ende hat er es geschafft, dass ich wieder auf die Beine kam. Nur, um mich kurze Zeit später von sich zu stoßen.«
»Ich bin froh, dass meine Mutter nicht mehr unter uns ist«, presst Elin heraus. »Ist es schlimm, dass ich so denke?«
»Nein, sie war dir so wenig Mutter, wie mein Vater ein Vater war.«
Das Feuer brennt langsam herunter. Sie liegen auf einem abgewetzten Fell, über ihnen der endlose Himmel, ihre Körper eng aneinandergepresst, um der nächtlichen Kälte etwas entgegenzusetzen. Zärtlich streicht sie über den Widder an seinem Oberarm. Ihr Gefährte ist im Zeichen des Schwertes geboren, ein Krieger und noch besserer Anführer.
»Irsa hat deinen Weg begleitet, so hart er auch gewesen sein mag, und sie hat dich zu mir geführt«, sagt sie. »Ich habe es durch die Schleier gesehen. Darum vertraue ich jetzt darauf, dass sie auch diese Entscheidung segnet. Geh mit Irsas Segen, Fino, und komm zu mir zurück.«
Sein warmer Atem in ihrem Gesicht lässt sie erneut schaudern. Ihre Lippen legen sich auf seine, erst sanft, dann immer fordernder. Sie drückt ihn zu Boden, ihre Hände krallen sich in seine Schultern. Ihr Bran schwingt mit seinem, ihr Verlangen wird von einem Augenblick auf den nächsten zu seinem. Sie stöhnt auf, als er seine Hand unter den dicken Umhang schiebt und über ihren Rücken fährt. Sein zufriedenes Brummen bringt sie zum Lachen. Ein befreites Lachen. In dem Moment, indem seine Finger die Rundung ihres Hinterns nachfährt, spürt sie die Erregung am ganzen Körper. Haut an Haut, kühl von der Luft und doch erhitzt von ihrer Sehnsucht nacheinander. Sie möchte mehr, möchte ihn in sich spüren, möchte in Finos dunkle Augen sehen, die so viel Traurigkeit enthalten, möchte ihn zum Stöhnen bringen. Als sie sich aufrichtet und seine Männlichkeit in ihren Unterleib einführt, gibt er einen Siegeslaut von sich, wie es nur ein Krieger vermag. Komm so schnell du kannst zurück, Fino von den Laxis!






