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Fino
Wir stehen vor einem Abhang, der beinahe senkrecht nach unten führt, das Gras feucht und extrem rutschig. Wir sind durchnässt, denn es hat die ganze Nacht geregnet. Nur ein schmaler Felsüberhang hat uns Schutz geboten. Die Lust auf dieses Unternehmen ist bereits gesunken. Ich kann es den anderen an ihrer Haltung ansehen. An ihren Blicken, die sie mir heimlich zuwerfen.
»Der Berg ist verflucht nochmal steiler als alle, die wir hinter uns haben.« Der Schmied kratzt sich den kahlen Hinterkopf.
»Wir sollten einen anderen Weg suchen«, schlägt Aso vor und sucht mit den Augen die Umgebung ab.
Dragon springt ihm fast ins Gesicht. »Du willst wieder alles zurück? Nicht mit mir!«
Alle haben recht. Auf ihre Weise. Der Fels unter uns wirkt gefährlich steil. Ich gehe ein paar vorsichtige Schritte, setze einen Fuß nach dem anderen fest in die Erde. Es kann funktionieren.
»Lauft quer zum Abhang und haltet das Gewicht zum Berg gerichtet. Lasst uns hoffen, dass es danach einfacher wird.«
Dragon spuckt auf den Boden. »Hoffen, das ist alles, was wir seit gestern tun!«
»Deine schlechte Laune bringt uns dafür weiter, was?«
Ich sollte mich nicht provozieren lassen. Schon gar nicht von Dragon. Seit er mich aus der Höhle befreit hat, hält er diesen Trumpf in der Hand. Um ihn, wann immer es ihm gefällt, gegen mich zu verwenden.
Hast du allen Ernstes gedacht, du kannst es allein mit denen aufnehmen?
Damals hatte ich eine falsche Entscheidung getroffen. Hatte sein Wissen als Überheblichkeit gedeutet und war Thanes Kriegern in die Falle gegangen. Bis heute weiß ich nicht, was passiert wäre, wenn mich Dragon nicht gerettet hätte.
Zerknirscht lenke ich ein. »Wir finden einen Weg ins Tal. Lasst uns nicht gleich an der erstbesten Schwierigkeit scheitern.«
»Ich frage mich die ganze Zeit, wie es die anderen schaffen sollen, wenn wir kaum vorwärts kommen«, sagt der Schmied und wirkt dabei ernster als mir recht ist. »Habt ihr schon mal an die Kinder gedacht? Oder die Alten?«
»Darüber können wir uns später noch Gedanken machen.« Dragon haucht sich in die Hände. »Aber wenn wir hier noch länger stehen bleiben, wird mir verflucht noch mal kalt. Also los!« Er lässt es sich nicht nehmen, mich zu überholen und sich an die Spitze zu setzen. Die Zwillinge heften sich an seine Fersen.
Meine Kiefer mahlen aufeinander, während ich ihnen langsam folge. Wenn ich wenigstens wüsste, dass sich all das lohnt.
»Gestampfter Schweinekot, hier geht´s nicht weiter.« Einer der Zwillinge brüllt laut nach hinten.
»Was heißt, hier geht’s nicht weiter?«
Dragons sieht mir mit finsterem Blick entgegen. »Er meint genau, was er sagt, Fino.«
Mein Puls schießt in die Höhe, als ich die Drei erreiche. Der Abhang wird an dieser Stelle von einer Kluft abgelöst. Ein tiefer Einschnitt voller Geröll und scharfkantiger Felsen, der ein Weiterkommen fast undenkbar macht. Als ob der Berg uns ständig herausfordern will.
In dem Moment kommt der Schmied schwer schnaufend neben mir zum Stehen. »Das sieht nicht gut aus.«
»Sag ich doch«, behauptet Dragon. »Ergibt nicht viel Sinn, weiterzugehen.«
»Das werden wir sehen.« Asos eifriger Versuch, einen Fuß auf die Geröllhalde zu setzen, löst sofort eine Lawine aus Steinen aus. Mit einem Aufschrei rettet er sich auf das feste Gras. »Mann, das kann jetzt nicht sein. Es muss einen anderen Weg geben.«
»Und wo, wenn ich fragen darf?« Dragon funkelt ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Siehst du irgendwo einen Pfad?»
Zum Glück lässt sich Aso nicht aus der Ruhe bringen. Seine Miene bleibt gefasst. »So schnell geben wir nicht auf.«
»Das sehe ich genauso.« Der Schmied stemmt die Arme vor die Brust. »Wir Laxis sind hart im Nehmen.«
»Willst du damit etwa behaupten, wir Fens sind verweichlicht?«
»Ich habe nur eine Feststellung gemacht. Und außerdem ist Aso ja wohl auch ein Fens.«
Dragon wettert weiter. »Er zählt nicht. Sein Vater ist keiner von uns.«
Unmerklich rücken die Zwillinge näher zu ihm, oder bilde ich es mir nur ein?
Fens und Laxis. Zwei Völker, die nur die Not zusammengeführt hat. Wird es immer so sein?
»Wenn es der Wunsch der Gruppe ist zurückzugehen, werde ich mich anschließen. Wir haben alles Menschenmögliche getan, um einen Weg ins Tal zu finden.« Ich bemühe mich um einen versöhnlichen Ton. Wir können uns keine Unstimmigkeiten leisten. Immerhin habe ich Elin versprochen, dass wir zusammenbleiben.
»Was ist, wenn wir an einer anderen Stelle versuchen, die Kluft zu durchqueren? Vielleicht ein Stück weiter oben?«
Aso, dein Versuch ehrt dich, danke.
»Und wie? Besser, wir rutschen gleich auf dem Hintern nach unten.« Dragon grinst zu den Zwillingen, die wie auf ein stummes Kommando anfangen, hämisch zu lachen.
»‘ne Rutschpartie, au ja. Das wäre ein Spaß.«
»Ich schlage vor ...«
»Bemüh dich nicht weiter, Aso«, schneidet ihm Dragon das Wort ab.
Ich stoße die Luft scharf aus. Die Stellung von Elins Bruder unter den Fens war nie eine Ruhmreiche. Aso ist der Sohn eines Fremdlings, eines Dahergelaufenen. Bisher hatte er keinerlei Ansprüche auf eine bedeutsame Rolle in seinem Stamm. Höchstens die eines Sonderlings. Das hatte sich auf unserem langen Marsch allerdings geändert. Jetzt erinnert er mich an einen Krieger. Es würde ihm gefallen, wenn er davon wüsste. Ich beobachte seinen wachsamen Blick und die aufrechte und angespannte Körperhaltung.
»Lasst es uns weiter oben versuchen. Wir mussten schon ganze Felsen umrunden, da werden wir wohl noch einen weiteren Umweg in Kauf nehmen können.«
»Nach oben?« Dragon schüttelt den Kopf. »Was soll dort besser sein? Dieser Einschnitt wird uns nicht den Gefallen tun, wie von Zauberhand zu verschwinden. Oder bist du lebensmüde und willst zurück auf den Grat?«
»Wir sollten abstimmen«, entscheide ich und stelle mich zwischen die beiden Streitenden.
»Ich habe keine Lust, wieder nach oben zu klettern. Das ist völlig abwegig«, stellt Dragon sofort klar. Er schnürt sich den Umhang enger und wirkt entschlossen. Die Zwillinge nicken zustimmend.
»Ich will nach unten, je schneller desto besser«, brummt der Schmied genau in dem Augenblick.
»Dann ist ja alles klar, vier gegen zwei.« Statt meine Entscheidung abzuwarten, dreht sich Dragon um und läuft los.
Ein weiteres Mal lässt er mich spüren, wie wenig er von mir als Anführer hält. Nicht so offensichtlich wie Telman, der jede meiner Entscheidungen ablehnt. Dragon nimmt mich schlicht nicht ernst. Ich balle die Hände zu Fäusten. Es pocht an meinen Schläfen.
Denk daran, dass Besonnenheit der bessere Ratgeber ist.
Kanoas Worte helfen mir, mich zu beruhigen. Mein alter Lehrer hat mir beigebracht, wie ich mich von Hass, Wut oder gar Rachegefühlen frei machen kann. Denn davon hatte ich genug in mir, als mich mein Vater für drei Wildschweine bei ihm zurückließ.
Ich sehe Dragon und den Zwillingen zu, wie sie halb rutschend, halb kletternd vorankommen. Mit einem fragenden Blick wende ich mich zu Aso. Sein knappes Nicken genügt als Signal, dass wir uns ebenfalls in Bewegung setzen. Richtung Tal.
»Na dann, wollen wir unser Glück versuchen.«
Eine Weile hört man nichts als Schnaufen, einen kurzen Japser, wenn sich losgetretene Steine ihren Weg bergab suchen, und vielfaches Fluchen. Ich benötige meine gesamte Konzentration, um den spitzen Felsen auszuweichen und nicht zu schnell ins Rutschen zu geraten. Dabei spendet mir der Gedanke Kraft, dass meine Vorfahren den mühsamen Weg über die Bergketten der Moragen genau wie wir zu Fuß auf sich genommen haben. Genau wie wir haben sie nach fruchtbaren Tälern gesucht. Schon damals muss viel Mut dazu gehört haben, in unbekannte Bergregionen vorzustoßen. Mit leuchtenden Augen und dem Geschmack von Kräuterwasser im Mund haben die Ältesten vor den Feuern im Steinernen Kreis davon erzählt. Jetzt sind es genau diese Geschichten, die mich vorwärts treiben. Die mir Hoffnung geben, mich noch einmal auf die Suche zu machen. Vielleicht wird sie am Ende belohnt, egal, wie laut ein Dragon oder ein Telman über mich fluchen.
»Warum bist du überhaupt mitgekommen?«
Diese Frage lauert seit dem Moment, als wir beschlossen hatten, aufzubrechen, auf meiner Zunge. Zusammen mit Dragon kümmere ich mich darum, aus dem trockenen Gras und Gestrüpp ein Feuer in Gang zu bringen. Die Stelle, die wir für die Nacht ausgewählt haben, ist nicht perfekt, aber besser als nichts. Ein kümmerlicher Grasfleck im Schatten eines Felsens, gerade groß genug, dass wir alle Platz finden. Irgendwann, als die Helligkeit des Tages bereits am Schwinden war, haben wir die Kluft hinter uns gelassen. Sie verschwand unter großem Felsgestein, als hätte es sie nie gegeben.
Dragon hebt den Kopf. Sein Blick ist irgendetwas zwischen überheblich und finster. »Hast du überhaupt gemerkt, wie es Elin geht? Ich meine, hast du sie richtig angesehen?«
»Was soll das?«
»Ich mein ja nur. Dann wüsstest du nämlich, dass sie vollkommen am Ende ist. Sogar ihre Gabe lässt nach, und das hat sie noch nie in all den Jahren, seit ich sie kenne.«
Dragons Ton hat etwas Scharfes an sich, darum muss ich achtsam mit dem sein, was ich sage.
»Wir sind alle erschöpft, das ist nichts Neues, Dragon, und genau darum will ich verhindern, dass ...«
»Was du willst, interessiert im Grunde niemanden!« Dragon beugt sich so nah zu mir, dass ich die hervortretenden Adern an seinen Schläfen sehen kann. »Wir Fens folgen Elin, nur, damit das klar ist. Oder was glaubst du, warum ich hier bin?«
Das Zischeln einer Schlange unmittelbar vor meinen Füßen könnte mich nicht mehr in Erregung versetzen. Wutentbrannt werfe ich ein Büschel Gras in das schwelende Feuer, das nicht richtig in Gang kommen will. Ich bin nicht bei der Sache. Wie auch?
»Ich bin Elins Gefährte«, sage ich entschieden, doch es klingt mehr nach einer Drohung.
»Ein Fremder bist du, ein elender Flüchtling. Elin hat etwas Besseres verdient.«
Meine Faust, in der ich eben noch das Gras gehalten habe, schwingt ungebremst in Dragons Gesicht. Er schreit laut auf und hält die Hand an seine Lippe. Blut läuft an seinem Kinn herunter.
»Du meinst doch nicht etwa dich?«, verhöhne ich Dragon, weil es eine Wohltat ist, mich endlich nicht mehr zurückhalten zu müssen. Dragons Nähe ist wie eine Spitze, die ständig in eine eiternde Wunde sticht.
»Ich kenne sie besser als du!«, speit mir Dragon entgegen und ist schon im nächsten Moment aufgesprungen.
Ich warte nur darauf, dass er zurückschlägt. Angespannt beobachte ich jede seiner Bewegungen, während ich hochschnelle. Dragons Körperhaltung spricht davon, wie sehr er mich hassen muss.
»Wage es ja nicht noch einmal ...«
Genau in dem Augenblick höre ich Stimmen. Dragon muss sie auch bemerkt haben, denn er senkt sofort seine eigene.
»Das ist der einzige Grund, warum ich mitgekommen bin. Um Elin vor deinen schwachsinnigen Ideen zu schützen. Niemals werden wir einen besseren Ort finden, nicht in einer Handvoll Nächte, egal, was du dir erhoffst.«
»Du willst mich also im Auge behalten, ist es das? Besser ich bin mit dir unterwegs, als dass ich mein Lager mit Elin teile, oder?« Die Erkenntnis erheitert mich beinahe.
Selbstverständlich hatte mir Elin anvertraut, dass ihre langjährige Freundschaft mit Dragon einen gewaltigen Riss bekommen hatte, als dessen Bran für sie zu summen begann und sie ihn abgewiesen hatte. Ich dachte, ihn mittlerweile besser einschätzen zu können. Ich habe mich getäuscht. Dragon ist keiner, der so leicht aufgibt.
»Gibt es etwas, das wir wissen sollten?« Aso hat uns erreicht und sieht fragend von Dragon zu mir.
Ich schüttle unmerklich den Kopf, während sich Dragon bückt und mit zusammengekniffenem Mund am Feuer zu schaffen macht.
»Euer Feuer ist übrigens erbärmlich.«
»Dann kümmere dich nächstes Mal selbst darum«, brummt Dragon, ohne aufzusehen.
Fast tut er mir leid. Ich muss an einen dieser Vögel denken, die ihr Gefieder zwar aufplustern, um mehr Eindruck zu machen, aber niemanden damit imponieren. Mir nicht und schon gar nicht Elin. Wenn wir zurück sind, werde ich nicht umhin kommen, ihre angebliche Freundschaft erneut anzusprechen.
»Es wird bald dunkel«, sagt Aso, der ein Tuch voller kümmerlich aussehender dunkelblauer Beeren auf dem Boden vor uns ausbreitet. »Die anderen sind auch gleich zurück.«
Tatsächlich höre ich in dem Moment die laut tönende Stimme des Schmieds, der die Zwillinge mit neuen Geschichten zu versorgen scheint. Sie nähern sich unserer Gruppe ohne Eile.
»Alles ist ruhig. Kein Anzeichen von irgendwas, geschweige denn Menschen.« Zufrieden setzt sich der Schmied neben mich und hüllt sich in sein Fell. »Wird nur reichlich schnell kühl, was meint ihr? Nicht ein Stern am Himmel zu sehen. Könnte eine ungemütliche Nacht werden.«
Im Stillen pflichte ich ihm bei. Die Wolken hängen noch immer viel zu tief. Es riecht nach mehr Regen.
»Dann lasst uns essen und schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind.« Ich nehme mir eine Handvoll Beeren und lege kleine Zweige in das Feuer nach. Es macht wirklich nicht viel her. Trotzdem hoffe ich, dass es genügt, um wilde Tiere fernzuhalten. Nachdenklich kaue ich auf den winzigen Früchten. Sie schmecken leicht säuerlich. Ihnen mangelt es an der saftigen Frische, die ich mir erhofft habe.
Meine Krieger fehlen mir. Allen voran mein Freund Inde. Unsere Vertrautheit. Wie oft haben wir in den Bergen unser Lager aufgeschlagen, wie oft zusammen in die Nacht gestarrt. Meine Männer und ich haben uns wortlos verstanden. Sie haben mich als ihren Anführer respektiert und trotzdem ihre Scherze mit mir getrieben. Ich seufze leise. Wie sehr mir doch die Gemeinschaft fehlt!
Es dauert lange, bis ich in dieser Nacht Schlaf finde.

Kapitel 6
Elin
Das Licht der Tage nimmt schnell ab. Sie weiß nicht, ob das Halblicht mit ihr spielt. Tag und Nacht verschwimmen. Die Wolken werden dichter, legen sich wie Nebel über Fels und Gras. Nicht ein Blick ist ihr gewährt auf das, was dahinter liegt. Die Schleier wehen achtlos im Wind. Kälte zieht auf.
Am Ende jeden Tages ist Elin erschöpft und aufgedreht zugleich. Sie sehnt sich nach dem erlösenden Schlaf und kann dennoch keine Ruhe finden. In ihrem Kopf arbeitet es ständig weiter. Wenn sie sich nicht um alles gleichzeitig kümmern müsste! Da ist ein Kind mit Bauchschmerzen, die Sorge um die kalten Nächte, weil erst eine winzige Höhle gefunden wurde, im nächsten Moment gilt es einen Streit zweier Familien um den besseren Schlafplatz in der Nähe des Felsens zu beenden. Dazu kommt die Einteilung der spärlichen Nahrung, die die Frauen sammeln und auf offenen Feuerstellen zubereiten: Beerenmus, Beerensuppe, ein Sud aus schmackhaften, aber wenig gehaltvollen Kräutern.
Wann immer sie zwischendurch Zeit findet, begibt sie sich zu ihrer Großmutter. Die Besuche lassen sie immer mehr verzweifeln. Asyas Zustand verschlimmert sich weiter. Selbst Myras Kräuter zeigen keine Wirkung. Und wäre all das nicht schon genug, so schwebt über allem die Sorge um Fino und die Angst davor, dass er und die anderen nicht zurückkommen könnten.
Erst in der Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn das Licht dem dunklen Streifen hinter den Bergen weicht und das erste Funkeln am Himmel zu sehen ist, wagt sie einen Blick hinter die Schleier. Mit bangem Herzen. Steht sie nicht hier an einem Ort, an dem die Kraft aller zu spüren ist? Ist sie nicht mehr als bereit zu sehen? Das Halblicht gibt nichts preis. Nichts als eine Welt, die in Weiß getaucht ist. Eine noch ungeschriebene Geschichte.
Weißes Land, wo bist du?
Lauern dort Gefahren? Gibt es etwas, vor dem sich Fino fürchten muss? Ist er, sind sie alle auf dem richtigen Weg? Im Takt der Axt, die das Holz spaltet, jagen ihre Gedanken vorbei. Wo ist die Zuversicht früherer Zeiten hin, als der junge Anführer ihr Bran zum ersten Mal berührt hat? Dort hinter den Schleiern, die alles offenbaren.
Fino
Wir sind den vierten Tag unterwegs. Zwischendurch war selbst ich versucht, Dragons wiederholtem Drängen nach einer Umkehr nachzugeben. Das Vorankommen wurde auf langen Strecken immer beschwerlicher. Noch etliche Male mussten wir einen neuen Weg einschlagen und nach Möglichkeiten für den weiteren Abstieg suchen. Kann ich unseren Leuten all diese Strapazen aufbürden? Wenn nicht endlich die ersten Baumwipfel unterhalb eines Hügels aufgetaucht wären, wäre ich Opfer meiner eigenen Verzweiflung geworden.
Es ist schließlich der Schmied, der uns anspornt. »Los jetzt, endlich ist Wald in Sicht, das ist doch mal was Gutes.»
Wir klettern einen letzten Steilhang hinab, größtenteils rückwärts und mithilfe der Hände, weil der Felsen derart zerklüftet ist, dass er anders nicht zu überwinden ist. Jeder von uns kommt am Ende mit zerschrammten Knien oder Handflächen an, trotzdem hat sich der Abstieg gelohnt. Es ist, als hätten wir einen kleinen Sieg errungen. Aufgeregt erreichen wir den Wald, obgleich er nicht mehr ist als eine Ansammlung von dürren Riesen, die wild wucherndes Blattwerk tragen.
»Bleibt zusammen«, sage ich, aber keiner der Männer hört auf mich. Sie laufen aller Vorsicht zum Trotz auf die Bäume zu. Schneller als mir lieb ist, verschluckt sie der Wald. Ich höre Rufe, Lachen, und beobachte den Schmied, wie er auf den erstbesten Stamm klopft.
»Es ist gutes Holz, Fino«, ruft er mir zu.
Statt zu antworten gehe ich zu ihm und lege die Hand an die Rinde. Mein Blick wandert hinauf bis an die Baumspitzen. Vom Himmel ist kaum etwas zu sehen. Störrische Zweige ragen an allen erdenklichen Stellen heraus, als wollen sie zeigen, dass sie hier das Sagen haben. Herabgefallene Nadeln bedecken den Boden. Ich umrunde den Baum, während der Schmied weiter geht. Die dicksten Äste hängen tief, fast bis auf Kniehöhe. Hier und da wachsen Moose, wölben sich Wurzeln aus der Erde. Die Luft hat seit gestern noch an Kälte zugenommen, aber sie riecht frisch. Auf einmal fällt ein Tropfen auf meine Nasenspitze. Schon kurz darauf öffnen die dunklen Wolken, die seit heute Morgen lauernd um den Berggipfel herumgeschlichen sind, ihr nasses Maul. Zum ersten Mal an diesem Tag lächle ich. Der Wald ist ein willkommener Freund, denn er bietet Schutz vor dem Regen.
Als Aso direkt neben mir aus dem Dickicht auftaucht, erschrecke ich beinahe. »Komm, Fino, wir suchen nach einem trockenen Plätzchen.«
»Wo sind die anderen?«
»Ein Stück voraus, sie warten auf uns.«
»Gut, wir sollten zusammenbleiben.«
Aso lacht hell auf. »Was soll schon passieren?«
»Wir kennen dieses Land nicht, vergiss das nie, Aso. Ein Anführer muss immer mehr im Blick haben als ...«
Ich beende meinen Satz nicht, denn im selben Moment höre ich ein lautes Rascheln hinter uns. Eines, das nicht hierher passt.
»Was ...?«
»Pst, leise!«
Langsam drehe ich den Kopf. Eine bisher nicht dagewesene Unruhe erfasst mich. Von irgendwoher aus dem Wald droht Gefahr. Es ist mehr eine Vorahnung, denn ich spüre diesen Knoten in meinem Bauch. Mit einer Hand deute ich Aso an, sich nicht zu rühren. Alles in mir ist angespannt, bereit, sofort zu reagieren. Der Regen, der beharrlich auf den Boden prasselt, nimmt mir die Sicht. Doch ich könnte schwören, eine Bewegung zwischen den Bäumen entdeckt zu haben.
Ein Laut, den ich noch nie zuvor gehört habe, dringt zu uns. Wie das Ächzen eines Stammes im Sturm, nur angsteinflößender. Sofort starre ich auf die Stelle, wo ich ein Tier vermute. Ein Wildschwein? Oder ein Wolf? Vorsichtig suche ich nach dem Messer in meinem Beutel. Es ist nicht viel, gibt mir aber trotzdem ein Gefühl von Schutz.
Wieder der tiefe Laut, einem Knurren ähnlich, und doch völlig anders.
»Wa ... was kann das sein, Fino?« Aso hat sich dicht an mich gedrängt. Er zittert, und ich kann es ihm nicht verdenken.
»Beweg dich nicht», zische ich leise. »Erst wenn ich es sage, dann rennst du los. Klettere auf einen Baum, verstanden?«
»I ... in Ordnung.«
Im Stillen fluche ich über meine Dummheit. Wir hätten zusammenbleiben müssen. Es wäre meine Aufgabe gewesen, darauf zu achten. Was ist mit den anderen? Wissen sie um die Gefahr?
»Fino? Wo bist du?«
Ich zucke erschrocken zusammen. Der Schmied ist ganz in der Nähe, doch ich wage es nicht, ihm zu antworten.
»Verdammt, Fino, so sag doch ... argh ... was ist das ... Hilfe!«
Ohne Zögern gebe ich meine Deckung auf und laufe los. Dorthin, wo der Schrei hergekommen ist. Im selben Moment brechen aus dem Wald mehrere Kreaturen hervor. Riesig. Schillernd. Mit wilden Augen und aufgerissenen Mäulern.
»Fino, pass auf!«
»Verschwinde, Aso!«
»Nein! Ich ... autsch, verflucht ...!«
»Renn!«
Mein Blick trübt sich, denn etwas Großes und Dunkles rast auf mich zu. Im letzten Augenblick kann ich ausweichen, indem ich mich auf die Seite schmeiße und unter dem riesigen Körper wegrolle. Sofort springe ich wieder auf. Der Boden ist glitschig. Gerade rechtzeitig drehe ich mich um. Die gewaltige Bestie stürzt ein weiteres Mal in meine Richtung. Ich hechte zur Seite, entkomme ihrem Schwung, und danke Irsa, dass ich im Kampf mit wilden Tieren erprobt bin. Schnell breche ich durch das Dickicht, rutsche auf den feuchten Blättern aus und stolpere förmlich über den Körper des Schmieds. Er wimmert, was kein gutes Zeichen ist. Besorgt beuge ich mich über ihn. Meine nassen Haare hängen mir ins Gesicht.
»Los, steh auf, du musst klettern!«
»Fino, hast du sie gesehen?«
»Natürlich, du musst hier sofort weg!«
»Ich kann nicht, mein Bein ...«
»Du kannst, los jetzt!«
Verbissen hieve ich den schweren Körper des Mannes hoch. Er steht wackelig, aber er steht. Doch schon im nächsten Moment erfordert ein weiteres Knurren meine Aufmerksamkeit. Nein, nicht nur eines. Ich spüre die Tiere mehr, als dass ich sie sehe. Der Widder an meinem Arm pulsiert heftig. Was täte ich jetzt für einen Speer! Mein Mund ist trocken. Als der Schmied schmerzhaft nach meiner Schulter greift, unterdrücke ich einen Aufschrei.
Aus einem Impuls heraus schubse ich den Schmied von mir und stoße gleichzeitig auf das angreifende Tier mit dem Messer ein. Ein sinnloser Versuch. Denn jetzt sehe ich mich dem massigen Monstrum und seinen weit ausholenden spitzen Hörnern gegenüber. Heißer Atem strömt aus dem gewaltigen Maul. Ich gehe rückwärts. Stürze. Krieche auf allen Vieren weiter. Das Tier bläht seine riesigen Nasenlöcher auf. Es riecht die Angst. Oder das Blut.
»Der Baum, Schmied ... du musst ... argh ...«
Etwas Scharfes trifft meinen Rücken. Es fühlt sich an, als würde er aufgeschlitzt. Panisch reiße ich den Kopf herum. Ein zweiter Hornträger. Schwarz, das Fell feucht und glänzend wie Schlangenhaut. Instinktiv springe ich mit hochgezogenem Bein hoch und mein Fuß tritt gegen ein Gesicht aus Augen, Maul und Zähnen. Schmerz jagt durch mein Hirn. Trotzdem robbe ich weiter, bis ich einen Stamm in meinem Rücken spüre.
Lauernd bewegt sich die Kreatur weiter. Ich behalte sie genau im Auge, während ich langsam die Arme hebe. Meine Hände tasten nach einem Ast über meinem Kopf. Und einem weiteren. Der Schmerz in meinem Rücken raubt mir fast die Sinne. Ich muss klettern! Mir bleibt nur die eine Chance. Doch ich begehe den Fehler, mich nach dem Schmied umzusehen. Und schreie auf.
»Nein!«
Das andere Tier erwischt ihn im Rennen mit der Wucht seines Absprungs und begräbt den Schmied unter sich. Ein hohes Blöken, Hörner, die sich in Fleisch graben, panische Schreie, alles vermischt sich mit meinem eigenen Entsetzen.
In einer hektischen Bewegung springe ich auf, packe nach dem erstbesten Ast und ziehe mich hoch. Nicht schnell genug. Mein Fuß rutscht ab. Das Monster reagiert sofort, verbeißt sich in meine Wade. Seine gewaltige Masse zerrt an mir. Meine Finger rutschen. Wie soll ich mich festhalten? Mit letzter Kraft trete ich nach den Hörnern des Tieres. Haut reißt. Blut spritzt. Vor meinen Augen flimmert es. Oh göttliche Irsa, hilf! Ich sehe Elin, meine Mutter, Kanoa und Inde, mein Freund ... mit einer letzten Kraftanstrengung hebe ich die Beine nach oben und ziehe mich weiter hoch. Stück für Stück.






