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Zögernd reichte er ihr die Hand: „Robert Alsfeldt.“ Ein Siegelring mit blauem Stein blitzte auf. Ihr Blick suchte seine Augen, wie um zu überprüfen, ob der Ring die gleiche Farbe hatte. Sofort schaute er zur Seite und zog die Hand zurück.
„Ich freue mich“, preschte Britta vor, „dass Sie heute gekommen sind! Wir brauchen so dringend Verstärkung.“
Nun doch ein zaghaftes Lächeln: „Ja, es war der Name Ihres … Balletts, der mich angezogen hat.“
„Darf ich mich auch vorstellen“, der andere Neuankömmling, breitschultrig, in Jeans und Turnschuhen, ergriff die Hand von Robert, die er ihm gar nicht angeboten hatte, und schüttelte sie kräftig: „Pieter Neukamp!“ Erst wollte Robert sich schnell wieder zurückziehen, doch ein seltsamer Trotz überkam ihn, und er hielt die fremde Hand hartnäckig fest, einen Augenblick über Gebühr.
Pieter Neukamp schaute ihn irritiert an, ein bisschen eingeschüchtert, aber auch neugierig forschend. Robert blickte durchdringend zurück, und man merkte deutlich, wie unangenehm ihm diese Begegnung war. Die beiden waren etwa gleichaltrig. Freunde werden das aber keine werden, dachte Britta und führte die Gruppe zusammen.
„Wir wollen uns mit einem Kranich-Ballett oder -Tanzstück an der Ausschreibung zum 60. Bestehen der Kranichhaus-Gesellschaft beteiligen“, sie wandte sich dann wieder den neuen Teilnehmern zu, „am besten ich erzähle euch einmal die Handlung, die ich mir ausgedacht habe. Vielleicht kennt ihr die Geschichte vom Kranich Blacky, der sich tatsächlich hatte hinreißen lassen, mit den skandinavischen Kranichen nach Schweden zu fliegen und dort auch den Sommer zu verbringen. Für einen ausgewachsenen Vogel ist das sehr ungewöhnlich, vor allem scheint er bis auf den heutigen Tag nicht zurückgekehrt zu sein. Nun habe ich diese wahre Begebenheit weitergesponnen, und in unserem Ballett verliebt sich Blacky in eine schwedische Kranich-Dame, wird jedoch nicht erhört und folgt ihr quasi als Mutprobe und als Beweis seiner Liebe ins fremde Land.“
Gerlind, die neue Mitwirkende, guckte sparsam, Pieter Neukamp nickte beifällig, und Robert Alsfeldt zeigte keinerlei Gefühlsregung, er schaute Britta nur vollkommen ernst an: „Und kommen die beiden zusammen?“
Britta bekam weiche Knie unter diesem Blick, der für sie eine Grenze überschritt, und so irrational es auch war, sie hatte plötzlich das Gefühl, sie sei gemeint und sie müsse die Antwort sehr genau abwägen.
Sie holte tief Luft und sagte zögernd: „Ja, was wäre denn das sonst für eine Geschichte.“
Sie vermied es, den schlanken, dunkel gekleideten Mann dabei anzusehen. Unbefangen und erleichtert strahlte Gerlind übers ganze Gesicht: „Gott sei Dank, ich dachte schon, es gibt am Schluss so was wie den sterbenden Kranich. Ich steh nämlich auf ein Happy End.“
„Wer tut das nicht“, entgegnete Robert, und bei diesen Worten entspannten sich seine Gesichtszüge, machten sie weich und milde und auf eigentümliche Weise schön.
*
Sogar eine Sauna hatten sie in ihrem Hotel, das gefiel Liz ausgesprochen gut. Eine Sauna mit zwei Räumen und einem schönen Abkühlungsbereich. Nur zu gerne überließ sie sich der trockenen Hitze, schwitzte all die Anspannungen der letzten Zeit heraus und rieb sich draußen genüsslich Füße und Beine mit dem bereitstehenden Eis ab. Und dann hinein in das kleine, langgezogene Schwimmbassin. Mit jeder neuen Schwimmbewegung fand sie wieder zu ihrer alten Form zurück, die der unangreifbaren, selbstbewussten, ein bisschen vorlauten Profilerin aus der Weltstadt Berlin.
Etwas kleinlauter wurde sie allerdings, als sie in ihrem Zimmer in der Hotelbroschüre las, dass sich Restaurant und Frühstücksraum im 6. Stockwerk befanden. Da hatte sie sich ja zielsicher eine echte Herausforderung ausgesucht. Sie kämpfte das ungute Gefühl nieder, das sich sofort einstellte. Auch bezwang sie den Impuls, auf der Stelle auszuchecken. Nein, sie wollte sich konfrontieren. Morgen konnte sie sich ja immer noch ein anderes Hotel suchen. Zumindest sollte sie schon einmal das Frühstück stornieren, sie würde sich irgendwo in einem Café am Deich einen Kaffee mit Croissant bestellen. Sie wollte jetzt gar nicht länger über ihre Schwächen nachdenken, hier half nur Ablenkung. Und sie holte die Unterlagen des neuen Mordfalles aus ihrer Tasche und breitete sie auf dem Bett aus.
*
Als Robert Alsfeldt auf sein Motorrad stieg, lag noch immer jenes eigentümliche Lächeln auf seinem Gesicht, das sich nur bei ihm einstellte, wenn er bis ins Innerste berührt war. Diese junge Frau meinte es wirklich ernst mit ihrem Ballett, und sie war so sehr bei der Sache, dass ihre Wangen glühten vor Eifer. Die meisten Menschen fand er oberflächlich, er wusste, dass er hier hart urteilte, aber man musste doch überlegen, wofür man seine Zeit opferte. Und für sie würde er das gerne tun, er hatte sogar vor, sich anzupassen, so gut es eben ging. Einfach damit die Verständigung zwischen ihnen besser funktionierte. Die anderen Mitspieler fand er nichtssagend, bis auf diesen Pieter vielleicht, der war ihm richtig unangenehm. Er kam ihm sogar irgendwoher bekannt vor, er durchforstete seine Erinnerung, fand aber kein Bild, das er mit ihm in Verbindung bringen konnte.
Es war ihm nicht leichtgefallen, nach so vielen Jahren wieder in das Haus zurückzukehren, das Haus im Lande Hadeln, in dem er seine Kindheit verbracht hatte und das mittlerweile schon ziemlich baufällig war. Alles war ihm fremd und doch immer noch schrecklich vertraut. Und Bilder überfluteten ihn von früher, von seiner Jugend, von Einsamkeit und Unverstandensein, von den Gewaltexzessen seines Vaters … und dann als Rob 16 Jahre alt war und sein Vater plötzlich verschwand. Rob war lange krank gewesen damals, und wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn sich nicht eine Verwandte der Mutter seiner erbarmt hätte. Das war seine Rettung. So hatte er lange Zeit bei ihr in Göttingen gelebt und dort auch studiert. Und nun war er vor ein paar Monaten doch heimgekehrt, hatte zunächst einmal das Gröbste renoviert und ein, zwei Räume wieder wohnlich gemacht. Und sofort war er abermals zum Eigenbrötler geworden. Er konnte sehr gut allein sein, hatte an niemanden Erwartungen, und darin lag seine Stärke. Menschen waren für ihn austauschbar. Ihre Bestrebungen und Sehnsüchte waren so leicht vorauszusehen und blieben ihm fremd. Wenn er an einem seiner Projekte arbeitete – dem Buch und der elektronischen Konstruktion –, vergaß er sich und die übrige Welt. Einsamkeit und höchste Konzentration waren Voraussetzung für diese Arbeit und eine gewisse Unschuld, die jedoch nur spürbar war, wenn er es fertigbrachte, selbst hinter die Sache zurückzutreten und einfach nur ihr Werkzeug zu sein.
Doch es gab auch jene Tage, an denen er es nicht aushielt und etwas in ihm nach Teilnahme schrie, selbst wenn es ein noch so banales Miteinander wäre, das nur einen winzigen Abglanz von Gemeinsamkeit in sich trüge. Ja, es gab diese Tage … für die er sich verachtete. Aber heute war mit einem Mal die Sonne hinter den Wolken hervorgebrochen, und nichts in ihm protestierte dagegen oder machte sich lustig.
Er fuhr über Land, genoss die abendliche Brise, die schon nach Herbst roch und dabei seine Haare angenehm durcheinanderwirbelte. Und plötzlich fühlte er sich frei und lebendig. Den Wind im Haar, wurde er immer mutiger und verspürte fast so etwas wie Glück. Sollte es möglich sein, dass es auch für ihn … Leichtigkeit und Freude geben könnte? Die Bäume, Felder, Häuser flogen an ihm vorbei, und alles, alles fand er schön und genau richtig so, wie es war. Warum nur war er immer so zynisch und abschätzig anderen gegenüber? Wie hatte er so lange blind sein können für all die Schönheit? Er berührte seine Lippen, strich beinahe zärtlich mit zwei Fingern darüber, als wolle er erkunden, wie sich sein lächelnder Mund anfühlte, so ungewohnt war ihm dieser Zustand. Und für einen Moment sah er diese Frau von den Ballettproben vor sich – Britta –, wie sie ihm einladend zuwinkte, nach vorne zu kommen, und er … er hatte nicht länger gezögert, sich nicht mehr mit Fragen gemartert, sondern war einfach zu ihr gegangen. Beinahe war er stolz auf sich.
Von Weitem sah er die kleine Waldschneise, den Weg, der zu seinem Gehöft führte, und seine Stimmung wurde verhaltener. Wenn er Gedanken an seinen Vater zuließ, legte sich sogleich ein dunkler Schleier über dessen Haus. Als er in den Hof einbog und das Motorrad abstellte, war die Freude fast vergangen. Selbst als Cara auf ihn zuflog, begrüßte er sie heute nur flüchtig, er wollte sich nur noch verkriechen. Sein Schritt beschleunigte sich, als er den Brunnen passierte und ins Haus huschte. Wenn man hereinkam, stand man gleich in einer großen Wohnküche mit Herd und Ofen und Holzmöbeln. Obwohl die Tür hoch genug war, duckte er sich wie aus alter Gewohnheit … Er hatte unten bis auf die Küche alles so gelassen, wie es sein Vater eingerichtet hatte. Schnell durchquerte er den Flur und stieg die Treppe hinauf in sein Refugium. Er ging über die knarrenden Bodenpaneelen zu der Tür am Ende des Flurs, schloss sie auf und verschwand dahinter.
*
Es landete direkt auf seinem Tisch. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet. Kommissar Frank öffnete den Plastikbeutel und holte behutsam den Origami-Kranich heraus. Warum hatte der Mörder ausgerechnet die Farbe Gelb gewählt, ob das eine Bedeutung hatte? Er betrachtete das kleine Kunstwerk von allen Seiten und faltete es dann auseinander, strich den Papierbogen mit seinen Händen glatt und legte ihn vor sich auf die Schreibtischplatte.
Dabei fühlte er eine Unebenheit des Papiers und besah es sich noch einmal ganz genau. Die Linie einer Zeichnung hatte sich durchgedrückt, die offenbar jemand auf dem Blatt darüber ausgeführt hatte. Sofort war Hartmut hellwach. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Alles um ihn herum versank ins Unwesentliche, nur der Schreibtisch existierte, nur dieses Stück Papier. Immer wieder befühlte er es, hielt es gegen das Licht, dann schraffierte er mit einem Bleistift den Mittelbereich des Origamiblattes, und es schälte sich eine geschwungene Linie heraus. Sie sagte ihm erst einmal gar nichts. Enttäuscht schob er das Blatt beiseite. Doch sie musste eine Bedeutung haben, auch wenn er die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erkannte. Heute würde er hier nicht weiterkommen.
Amelung streckte den Kopf zur Tür herein: „Hartmut, hast du gerade Zeit?“
Erleichtert atmete Hartmut auf, das kam ja wirklich im rechten Augenblick: „Klar, worum geht’s?“
„Ich fahre zu Maria Marquardt, der Falknerin, hast du Lust mitzukommen?“
„Klar komm ich mit.“ Hartmut griff sich seine Jacke.
Maria Marquardt arbeitete im Zoo des Cuxhavener Kurparks, wohnte auch ganz in der Nähe in Döse, und offenbar teilte sie mit Amelung die Leidenschaft für gutes Essen, denn sie hatten sich im Gasthaus Behrens verabredet, das leicht vom Ort aus zu erreichen war, aber auch Spaziergängern eine angenehme Rast bot, denn es lag direkt am Deich mit Blick auf Strand und Nordsee. Hartmut war ewig nicht dort gewesen, und er genoss die Behaglichkeit, die ihnen entgegenschlug, als sie das Lokal betraten, die gut bestückte Bar passierten und sich im großen Gastraum an einem Fenstertisch niederließen.
„Kannst du mir vielleicht zwei Takte über Frau Marquardt sagen, damit ich ein Bild habe?“
Eine schlanke, kurzhaarige Frau kam durch die Tür, offenbar von der Toilette, umarmte Amelung von hinten und küsste ihn vernehmlich auf die Wange, was dieser sich nur zu gern gefallen ließ, dabei grinste sie den Kommissar an: „Die paar Takte übernehme ich doch lieber selbst. Was wollen Sie denn wissen?“
„Oh“, lachte Hartmut, „ertappt. Alles!“
„Ich arbeite im Zoo im Kurpark, nun schon im sechsten Jahr. Das ist zwar nur ein relativ kleiner mit ungefähr 250 Tieren, aber es gibt dort viele verschiedene Vogelarten, Pinguine, Uhus, Störche, Watvögel, Basstölpel. Und Vögel sind nun mal meine Leidenschaft, natürlich eher der Bussard, Habicht oder ein Falke.“
„Basstölpel“, konnte sich Amelung die Frage nicht verkneifen, „haben die etwas zu tun mit dem Spotttölpel aus Tribute von Panem?“
„Du wieder“, Maria Marquardt grinste, „Spotttölpel gibt es doch nur in diesem Film und dem Roman dazu, eine geniale Erfindung, nah an der Realität, aber eben mit einer besonderen Eigenschaft ausgestattet.“
„Schade“, grummelte Amelung vor sich hin.
„Dann ist die Falknerei eher Ihr Privatvergnügen?“, versuchte Hartmut bei der Sache zu bleiben.
„Sagen wir mal, es ist eine Nebentätigkeit“, erklärte Frau Marquardt, „Sie können mich gerne einmal zu Hause besuchen, ich habe ein eigenes Gehege mit einem Bussard und zwei Falken …“
„Und es waren schon mehr als einmal Leute vom Fernsehen bei ihr, die ihren Rat eingeholt haben“, fiel Amelung seiner Bekannten eifrig ins Wort.
„Okay, okay“, ruderte Hartmut zurück, „ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie genau die Richtige für uns sind und uns mit Sicherheit ein paar Fragen beantworten können, die uns unter den Nägeln brennen.“
Gespannt wandte sich Frau Marquardt ihm zu.
„Es betrifft unseren aktuellen Fall. Sie haben doch bestimmt von dem Mord in Otterndorf gehört?“ Sie nickte. „Wir haben versucht, die genauen Umstände geheim zu halten, aber es ist bereits genug durchgesickert. Ein Mann wurde durch etliche Bisswunden getötet, und einige Zeugen beschreiben einen großen Vogel als Täter.“
„Einen Vogel“, wiederholte Maria ungläubig, „sehr ungewöhnlich.“
„Es wird noch doller“, setzte Amelung hinzu, „es soll ein riesiger Kranich gewesen sein.“
„Waas?“, rief Maria aus, „das kann ich mir nicht vorstellen. Kraniche sind keine Raubvögel, sie greifen nicht an, verteidigen sich nur, sich und ihre Brut, vielleicht noch das Fressen, wenn es rar ist.“
„Ja, das haben wir uns ja auch gedacht. Aber eine Kollegin kam auf den Gedanken, ob man einen Kranich wohl abrichten könne, so etwas zu tun?“
Maria Marquardt verschluckte sich fast. Lächelte nachsichtig: „Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich würde sagen, es ist unmöglich. Bei Falken und Adlern da gibt es diverse Geschichten, auch eher im Bereich aufgebauschter Histörchen, doch das wäre noch eher vorstellbar, da es in der Natur des Vogels liegt. Sie greifen auch schon mal an, und wenn man sie abrichtet, ist da wohl einiges zu bewerkstelligen. Aber ein Kranich, nein – da muss ich Ihnen einen Korb geben.“
„Und was ist mit der Beizjagd?“
„Ja, das meinte ich doch eben. Falken, Sperber, Habichte, in Zentralasien auch die Weibchen des Steinadlers, klar werden die zur Jagd abgerichtet. Aber sie jagen und greifen das Wild, halten es in der Regel mit ihren Klauen fest, bis die Hunde kommen, töten es nicht unbedingt.“
„Wäre es möglich, sie auch aufs Zubeißen zu trainieren?“
„Möglich wäre es, aber auf Menschen … ich weiß nicht, ich glaube, Sie sollten sich einen anderen Mörder suchen. Doch … unmöglich ist gar nichts.“
Das hatte sich Hartmut im Grunde eigentlich alles selbst schon gedacht, und er fühlte sich von der Falknerin nur noch einmal bestätigt. Aber das würde natürlich bedeuten, dass er einen neuen Ansatz brauchte.
*
Liz blätterte ihre Aufzeichnungen durch. Ein brutaler Mord um Mitternacht in Otterndorf. Ein Junge behauptet, die Tat sei von einem Kranich verübt worden, auch andere hatten einen Vogel davonfliegen sehen. Der Arzt wollte sich nicht festlegen, das Ergebnis der DNA-Überprüfung stand noch aus, es gab keine Fußspuren im Blut der Leiche. Ein seltsamer Fall. Welche Richtung ihre Gedanken auch einschlugen, es war Zeitvergeudung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, hin- und her zu spekulieren, sie brauchte noch einige Untersuchungsergebnisse, und die dürften ja am nächsten Tag bereitliegen. Also zog sie ihr Tablet aus der Tasche und gab auf gut Glück Kranich und Otterndorf ins Suchprogramm ein. Denn bisher war Otterndorf für sie nicht mehr als ein kleiner Ort an der Elbe gewesen.
Sofort prangte ihr das Otterndorfer Kranichhaus entgegen. Ein über 400 Jahre altes Bauwerk in der Dorfmitte, das heute das Museum des alten Landes Hadeln beherbergte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts residierte der Gewürzhändler Radiek in dem Haus, das seine Witwe Elisabeth – die ihren Mann um 40 Jahre überlebte – zu einem kleinen Salz-, Gewürz- und Weinimperium ausweitete. Sie gab auch die herrlichen Stuckdecken und die barocke Fassade in Auftrag und ließ den Kranich mit einer vergoldeten Kugel in der Kralle am First des Gebäudes aufstellen.
Das muss eine interessante Frau gewesen sein, überlegte Liz, sich in einer solchen Zeit mit eigenwilligen Vorstellungen durchzusetzen war bestimmt nicht leicht gewesen. Also war der Kranich 1764 zum ersten Mal im Zusammenhang mit diesem Haus aufgetaucht und hatte ihm auch den Namen gegeben. Sie überflog viel Geschichtliches, immer auf der Suche nach weiteren Informationen über den Kranich.
Hier … war wieder etwas, beinahe hätte sie es übersehen: Der Kranich galt als Symbol der Wachsamkeit, das ging wohl auf Plinius zurück, der berichtete, dass einzelne Vögel die Kranichschwärme während der Nacht bewachten und dabei einen Stein in der Klaue hielten, der sie am Schlafen hinderte, da sie aufwachten, wenn der Stein nach unten fiel. Nicht schlecht, Liz schmunzelte und dachte sofort an eine ihr bekannte Zen-Geschichte, in der die Meditierenden nachts direkt am Abhang saßen, immer in der Gefahr, in den Tod zu stürzen, sollten sie einnicken. Das war ja dann noch ein bisschen drastischer.
„Der Kranich hält den Stein, des Schlafs sich zu erwehren. Wer sich dem Schlaf ergibt, kommt nie zu Gut und Ehren.“
Diese Inschrift soll in einem Balken des Giebels verewigt sein. Weiter unten fand Liz dann noch eine Sage, die sich ums Kranichhaus rankte. Der Kranich auf dem Dachfirst erwache jede Nacht um zwölf mit dem ersten Schlag der Kirchturmuhr, werfe seinem kleineren Artgenossen über der Haustür seine in den Krallen gehaltene Kugel zu, die dieser auffange und zurückwerfe. Schlag Mitternacht halte der obere Kranich die Kugel wieder fest in seiner Klaue.
Liz lief ein Schauer über den Rücken, diese Geschichte verlieh dem Mord natürlich ein ganz anderes Gesicht. Es war nun klar, dass der Zeitpunkt der Tat genau geplant war und dass der Mörder die Sage kennen musste und wahrscheinlich irgendetwas mit dem Kranichhaus zu tun hatte. Vielleicht war er in Otterndorf aufgewachsen, oder zumindest hatte er eine Weile dort gelebt, oder er lebte immer noch da. Nie und nimmer war das ein echter Kranich gewesen, sie hatte es gleich nicht glauben wollen.
In ihren Gedanken begann bereits ein vorläufiges Profil des Mörders zu entstehen. Doch immer wieder musste sie an den Kommissar denken, vielleicht sollte sie auch einmal ein Profil von ihm erstellen. Schon immer fand sie es aussagekräftig, wie ihr Gegenüber sich kleidete. Zwar konnte das auch zu Klischeeurteilen verleiten, doch selbst wenn es sich um Berufskleidung handelte, gab es immer ein kleines individuelles Detail oder ein Schmuckstück, eine besondere Art, einen Schal zu tragen, ein rasanter oder biederer Haarschnitt. Aber erst die private Kleidung sagte dann wirklich einiges über ihren Träger aus. Wenn sie sich nun Hartmut Frank anschaute, sein ganzes Erscheinungsbild: gemäßigt salopp, um Himmels willen nichts Übertriebenes, gepflegte Jeans, schwarz oder dunkelbau, niemals den gängigen rauen Jeansstoff, helles Hemd und dunkles Jackett. Hier konnte man nur zu der Beurteilung kommen: Ein Mensch, der Wert auf Äußeres legt, aber auf keinen Fall auffallen will, entweder er war auch innerlich mausgrau-blau-schwarz, oder es war eine Deckfarbe. Bei diesem Gedanken musste sie grinsen, sie vermutete ja Letzteres, sonst hätte sie ihr Interesse an ihm ganz schnell verloren. Dennoch waren diese analytischen Beobachtungen Teil ihrer Berufskrankheit. Sie sollte sich jetzt aber wirklich stärker auf das Profil des Mörders konzentrieren, zumal sie sich gerade erst entschlossen hatte, definitiv einen Raubvogel auszuschließen.
*
Kommissar Frank ließ seinen Kollegen und die Falknerin in der Gaststätte zurück, sie würden bestimmt einen angenehmen Abend haben. Er wollte allein sein. Beinahe hatte er seinen Wagen schon zu Hause eingeparkt, da folgte er einem Impuls und fuhr bis zum Strand hinunter. Hier stellte er das Auto ab und schlenderte den Sahlenburger Deich entlang. Vorbei an Hotels und Ferienwohnungen, das Restaurant „Wattenkieker“ war eine kurze Versuchung, doch er passierte das kleine Kurzentrum, den Hundestrand, und endlich gab es einen Abschnitt ohne Strandkorb und zumindest in diesem Moment auch ohne Menschen.
Er atmete erleichtert auf, schloss die Augen und sog tief die raue Nordseeluft ein. Kühl, frisch, würzig, nirgends sonst auf der Welt roch es genau so. Nach ein paar Atemzügen entspannte er sich und musste lächeln. Langsam ging er zum Strand hinunter. Ein gutes Gefühl, keinen Asphalt mehr unter den Füßen zu spüren. Sand kam in seine Schuhe. Er setzte sich auf den Boden, zog sie aus, stopfte die Strümpfe hinein und verknotete die Schnürsenkel so, dass er die Schuhe bequem tragen konnte. Dann hatte er doch keine Lust weiterzugehen. Er blieb einfach sitzen. Und schaute auf die Nordsee.
Die Flut kam zurück, die leise rollenden Wellen bereiteten den Weg für die heftigeren Wogen. Das Rauschen des Wassers vermischte sich mit dem des Windes. Kleine Schaumkronen bildeten sich und wurden von immer neuen Wogen überrannt … Die Sicht war gut, Hartmut konnte den Leuchtturm der Insel Neuwerk sehen, und abendliche Vogelschwärme zogen am Himmel ihre Bahn. Und schon war es vorbei mit seiner Entspannung. Der Kranich!
Eigentlich hatte er am Strand ein bisschen Erholung gesucht, wollte sich für ein paar Minuten ablenken. Länger hatte es aber auch wirklich nicht gedauert, bis er schon wieder bei seinem Kriminalfall gelandet war. Noch weigerte er sich, vollends einzusteigen, und ließ seine Gedanken schweifen, sie folgten den Wellen, den Wolken, dem Flügelschlag in den Lüften. Doch es schoben sich immer wieder unschöne Bilder des Ermordeten dazwischen, und er geriet in diesen besonderen Bewusstseinszustand, den er vor Kurzem zum ersten Mal an sich erfahren hatte. Halbwach fühlte er sich dabei, mit leicht getrübter Wahrnehmung, dennoch war er fähig zu denken, körperliche Bewegung fiel ihm allerdings schwer. Eindrücke kamen und gingen, manchmal tauchten auch Worte dazu auf. Und dann dichtete er, aber auf eine ganz besondere Weise. Er reihte nicht einfach lyrische Worte und Empfindungen aneinander, nein – es vermischten sich zwei Welten in ihm, er nahm die Natur ringsum in sich auf, ließ aber auch die Überlegungen zu seinem gegenwärtigen Mordfall gleichberechtigt danebenstehen. Er bevorzugte momentan das 17-silbige japanische Haiku, und er fand, dass es gut zu gefalteten Vögeln passte. Innerlich jonglierte er mit Ausdrücken und Eingebungen, verkürzte hier, schob da ein Wort dazu.
Kreisen in der Luft.
Ein Schrei, Blut und Federn,
Origami-Kranich.
Es war ein erster Versuch, und dabei interpretierte er die Form des Gedichtes großzügig, hielt sich lediglich an die 17 Silben, nicht an die Formation 5–7–5. Er holte sein Diktiergerät aus der Jackentasche und sprach den Text hinein.
Die Kraniche fliegen gen Süden
Nur einer
Bleibt einsam zurück.
Obwohl dieses Haiku auf den ersten Blick kaum etwas mit seinem Fall zu tun hatte, spürte er intuitiv, dass ihm doch eine Bedeutung zukam, nur wusste er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht welche.
Er befühlte den Sand neben sich, ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln, schloss die Augen: Sand, Salz, strömendes Meerwasser, die Bilder wechselten, ein Kranich, der davonflog, Blut tropfte aus seinem Mund, die Kirchturmuhr schlug, ein grausiges Surren. Wieder strich seine Hand über den Boden, griff zu und presste den Sand jetzt fest zusammen, ein schneidender Schmerz, er hatte eine Muschel zerquetscht, die tief ins Fleisch schnitt. Blut zu Blut. Immer noch war er nicht ganz aus seiner Versunkenheit erwacht … und wie von Ferne hörte er sich murmeln …
Krarr … krruh … krarr … krruh
Stirb du, stirb du,
ich wache,
und mein ist die Rache.

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