Sinfonie der Lust | Erotischer Roman

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Trotzdem hatte er sich natürlich auch bereits auf die Suche nach Vanessas Freundin gemacht. »Clara« sollte sie hier heißen, so die Aussage seiner Lieblingsbraut. Und da hatte er sie auch schon gefunden. Sie schien wirklich sehr aktiv zu sein, kein Tag verging offenbar, ohne dass sie etwas postete. Sowohl zu allen möglichen musikalischen Themen von Pop bis Klassik als auch mit Small Talk in den allgemeinen Plauderbereichen.
»Mein Täubchen«, murmelte er zu sich selbst, »ich werde dir bald den perfekten Täuberich in den Schlag flattern lassen.« Dann begann er eine persönliche Mitteilung an die Benutzerin »Clara« zu verfassen:
»Hallo, mein zartes Täubchen …«
6
Marc hatte sich das kleine Gartenhaus seines Grundstücks am Griebnitzsee für die Sommermonate hergerichtet. Wenn das Wetter schön war, blieb er wochenlang hier draußen und nahm den weiteren Anfahrtsweg in sein Büro gerne in Kauf. Dafür wurde er mit einem atemberaubenden Blick über das Wasser und dieser idyllischen Abgeschiedenheit im Grünen entschädigt, die ihm so guttat und ihn vom täglichen Arbeitsstress abspannen ließ. Er hatte auch sein Keyboard aufgebaut und übte darauf die Songs für sein Repertoire. Einmal in der Woche zog er sich seinen weißen Smoking an, band sich eine schwarze Fliege um und setzte sich an den Flügel in der Bar des »Al Gusto«, eines Sternerestaurants an der Tauentzienstraße. Die paar Euro, die er sich dabei verdiente, spendete er der Musikschule, denn Geld war nicht der Grund für sein Engagement. Daran mangelte es ihm nicht, er wollte vielmehr seine Musik mit anderen Menschen teilen, den Applaus genießen und nicht nur für sich selbst im stillen Kämmerlein spielen.
Die kleine Küchenzeile nutzte er, um sich, wenn er Lust darauf hatte, eine kleine Mahlzeit zu bereiten. Er liebte deftige Hausmannsgerichte. Heute hatte er sich Leber knusprig gebraten, mit Zwiebelringen und Kartoffelpüree. Ben hatte zwar für heute Abend seinen Besuch angekündigt, aber er wollte erst in einer Stunde kommen und bis dahin wäre er schon verhungert. Sein Freund hatte ihn noch nie hier draußen besucht, denn sie kannten sich seit dem letzten Herbst und er war erst in dieser Woche wieder hier eingezogen. Ben hatte ihm versprochen, das neue Notebook mitzubringen, damit er auch hier draußen online gehen konnte. In dieser Beziehung vertraute er voll und ganz auf Bens Know-how, denn er hatte von diesen Sachen keine große Ahnung. Er glaubte zwar nicht, dass er das Ding sehr oft benutzen würde, aber sein Kumpel hatte gesagt, es müsste sein. Heutzutage wäre man abgeschrieben, wenn man nicht jederzeit die Möglichkeit hatte, ins Internet zu gehen. Ben hatte ihn so lange bequatscht, bis er klein beigegeben hatte, und sein Freund hatte sich sofort angeboten, das beste Teil zu besorgen, das am Markt zu finden war.
Ben erschien viel zu früh. Er klopfte zwei Mal an die Holztür und steckte den Kopf hindurch, über der Schulter trug er eine Tasche, die offenbar das neue Gerät enthielt. »Hey, Alter. Hier riecht es ja lecker!«
»Komm rein«, nickte er ihm zu und machte eine einladende Geste. »Schau dich ruhig um!«
»Ich muss schon sagen, du lebst hier wie die Made im Speck.«
Marc wies mit der Gabel auf den freien Stuhl ihm gegenüber. »Setz dich, mach’s dir bequem, oder …«, er hatte in den Augen seines Kumpels das unstillbare Verlangen nach Leber mit Zwiebeln entdeckt. »Da oben im Schrank sind Teller und im Schubfach ist Besteck. Nimm dir, was du brauchst, ich gebe dir was ab. Ist sowieso viel zu viel für mich.«
Als wäre er hier zu Hause, holte sein verfrühter Gast sich das Geschirr, setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm sich ungefragt das größere Stück von seinem Teller. »Danke, sehr nett von dir. Ich hab’ aber auch einen Kohldampf.« Marc musste schmunzeln. Diese Unverfrorenheit hatte ihm von Anfang an imponiert. Er gab seinem Kumpel dann auch noch die größere Hälfte von seiner Püree-Portion ab und sie genossen das Essen im stillen Einvernehmen.
»Und, was sagst du zu meiner kleinen Sommerresidenz?«
»Na, ist ja ganz schnucklig«, bemerkte Ben kauend. »So ein richtig romantisches Liebesnest. Das ist die reinste Verschwendung bei dir.«
Marc verdrehte genervt die Augen. Wann würde sein Freund endlich damit aufhören, ihn wegen seines eingeschlafenen Sexuallebens aufzuziehen? Er versuchte deshalb schnell, das Thema zu wechseln: »Nun zeig mal her, was du da Schönes aufgetrieben hast.«
»Das Beste zurzeit auf dem Markt.« Ben betete die technischen Parameter runter, die ihn beeindrucken sollten. »Damit kannst du auch locker deine hungrigen CAD-Programme abfackeln oder dir Pornovideos in feinstem HD reinziehen.«
»Hauptsache, ich komme ins Internet«, antwortete Marc, statt auf dessen Bemerkung einzugehen.
»Und wollen wir den gleich ausprobieren?«, dabei hielt sein Freund den Karton mit dem Notebook in die Höhe, den er aus der Umhängetasche zog.
Er antwortete nicht gleich, sondern forderte Ben mit einem Kopfschwenk Richtung Küchenzeile auf: »Mach dich erst mal nützlich und hol uns beiden ein Bier aus der Küche. Ach und bei der Gelegenheit kannst du gleich das Geschirr in die Spüle stellen.«
Nachdem das erledigt war und sie sich mit den Flaschen zugeprostet hatten, hielt Ben nun nichts mehr davon ab, das Gerät auszupacken. Er hatte den Computer zu Hause schon fix und fertig eingerichtet, sodass er sofort einsatzbereit war. Er zeigte ihm alles, was er wissen musste und noch eine ganze Menge mehr. Viele dieser Details hatten Marc gar nicht interessiert, aber er wollte seinem Freund die Freude machen, so zu tun, als sei er ein aufmerksamer Zuhörer. Zwischendurch unterbrach er ihn ab und an mit einem »Prost«, wenn wieder ein Bier geleert und ein neues geöffnet worden war.
»Warte, ich muss dir gleich mal was vorspielen.« Ben startete eine Software für Musikwiedergabe. Ein ohrenbetäubender Lärm erschallte aus den eingebauten Lautsprechern. »Ist das nicht geil? In dem Gerät ist ein super Soundsystem verarbeitet«, überschrie er das Geräusch, das Marc körperliche Schmerzen bereitete. Er verzog gequält das Gesicht: »Ja, schön laut ist es, aber was ist das nur für ein unglaublicher Krach?«
»Psychokill, kennst du das etwa nicht?«
»Nein, mach mal lieber was Humanes an.«
»Banause, und so was behauptet, Ahnung von Musik zu haben«, empörte er sich, regelte die Lautstärke herunter und startete einen Musik-Mix mit radiokompatiblen Monsterhits.
»Ich hab’ das in so einem Musikforum entdeckt«, fügte Ben hinzu.
»Musikforum? Mit Musik hatte das aber nicht viel zu tun.«
»Hey, das ist gerade total angesagt. Aber ich kann dich beruhigen, Metal ist da nur eine Nische. Die Leute tauschen sich über alles Mögliche aus. Jazz und Klassik auch, da gibt’s Musikrichtungen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Ich glaub’, das wäre auch etwas für dich.«
»Na ja, vielleicht schau’ ich mir das bei Gelegenheit mal an.«
»Nein, nein, nicht irgendwann, wir machen sofort Nägel mit Köpfen. Sonst wird das sowieso nichts. Also legen wir dir gleich ein Profil an.«
Marc seufzte. Wenn sein Freund sich so etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht davon abzuhalten.
»Wie wollen wir dich nennen?«, fragte er und hatte bereits ein Registrierungsformular geöffnet.
»Weiß ich doch nicht, wie wär’s mit Marc?«
»Quatsch, du brauchst ’nen anständigen Nick. Ich nenne mich zum Beispiel ›Hammer‹. Da steh’n die Ladys drauf, ich habe sogar auch schon ein persönliches Groupie. Die ist ganz scharf auf mich.«
Marc unterdrückte ein Lachen und grinste ungläubig. Das sah ihm ähnlich. Unter mangelndem Selbstbewusstsein hatte sein Kumpel wohl noch nie zu leiden gehabt. Aus den Lautsprechern ertönte jetzt ein alter Megahit von den Hooters.
»Hey, ich hab’s«, Ben schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Du kennst doch den Song, der da läuft. Wenn ich meinem Englisch nur ein bisschen vertrauen kann, geht’s doch da um so einen Typen wie dich, der seiner alten Schnalle hinterherhängt und nicht von ihr loskommt.«
»Nein, ich denke, das ist nur eine Metapher für seine Drogensucht«, belehrte er seinen Freund.
»Drogensucht? Ha, das passt wie die Faust aufs Auge. Du bist doch immer noch süchtig nach dieser Juliette. Das ist doch deine Droge, von der du nicht loskommst.« In völlig falscher Tonlage grölte er mit: »… her kiss is her poison, forever inside you, wherever you go …«
Marc musste sich eingestehen, dass dieser Text, wenn man ihn wörtlich nahm, tatsächlich zu seiner Situation mit Juliette passte. Ihr Gift war in ihm und er wusste nicht, woher er ein heilendes Antiserum bekommen konnte.
»Also gut, von mir aus, JohnnyB«, mit einem bittersüßen Schmunzeln nickte er seinem Freund zu.
»Na, geht doch.« Wenig später war Marc mit dem Benutzernamen »JohnnyB« in dem Forum registriert.
»So und jetzt zeigst du mir mal dein Groupie«, er wollte jetzt die vollmundige Behauptung auf die Probe stellen.
»Kein Problem, sofort«, Ben loggte den Benutzer »JohnnyB« aus und meldete den User mit dem Spitznamen »Hammer« an. Dann steuerte er einen Forumsbereich an, in dem sich die Benutzer private Nachrichten schreiben konnten.
»Na, siehst du, mein Täubchen hat sofort geantwortet«, grinste er und öffnete eine Nachricht, die er von einer Benutzerin mit dem Namen »Clara« erhalten hatte. Marc schaute ihm über die Schulter und las den Text mit, der auf dem Bildschirm erschienen war.
Plötzlich musste er losprusten, fast hätte er das Bier auf das teure Gerät gespuckt.
»Deine ›Eroberung‹ scheint ja wirklich hingerissen zu sein. Sie will die Forumsleitung einschalten, wenn du ihr noch mal so etwas schreibst.« Er hielt sich vor Lachen den Bauch. »Sie sagt, sie sei glücklich verheiratet und brauche keine Internetbekanntschaften, die ihr anzügliche Angebote machen …«
»Ich sag’s dir, die ist eindeutig untervögelt«, seinem Freund schien die Antwort nicht im Geringsten peinlich zu sein.
»Immerhin, sie hat sogar etwas Mitleid mit dir. Sie rät dir, wenn du deine Gedanken mal in eine andere Richtung lenken würdest, könntest du bestimmt auch mal eine nette Frau finden, die zu dir passt.« Marc war sichtlich amüsiert. »Sag mal, du alter Hengst, was hast du ihr bloß geschrieben?«
»Och, nichts Besonderes, ich hab’ ihr eigentlich nur ein paar Komplimente gemacht …«, noch immer schien er völlig ungerührt zu sein und öffnete für Marc bereitwillig die Nachricht, die er »Clara« zuvor gesendet hatte.
»Alter Schwede, da ziehst du aber vom Leder. Ich wusste gar nicht, dass du so fantasievoll sein kannst. Du willst ihr die Flötentöne beibringen, bis ihr Hören und Sehen vergeht, du willst mit Pauken und Trompeten ihre Lust zum Vibrieren bringen, bis sie nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist?«
»Ja, ich bin ein Künstler, wusstest du das nicht?«
»Doch, mit Sicherheit. Besonders die Formulierung, du seist der Hammer, der aus ihr die Geilheit herausrammeln würde, bis sie ›Halleluja‹ kreischt, zeugt von deinem zartfühlenden Frauenverständnis.«
»Na, sie weiß nur nicht, was ihr fehlt«, bemerkte er trocken. »Aber vielleicht hast du ja mehr Glück bei ihr.«
»Mit Sicherheit werde ich unbekannten Damen keine anzüglichen Nachrichten schreiben«, Marc war immer noch verblüfft über die Unverfrorenheit, mit der dieser Typ einer Wildfremden so eindeutige Botschaften geschrieben hatte. Das hätte er sich doch selbst zusammenreimen können, dass das nie funktionieren würde.
»Na ja, dann plauderst du halt mit ihr über Schopeng oder wie der Klimperheini heißt. Von mir aus kannst du sie haben. Die ist mir eh zu prüde«, er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»So, ich muss dann mal. Es ist spät geworden«, bemerkte Ben mit einem Blick auf die Uhr. »Gehen wir mal wieder Billard spielen?«
»Weiß ich noch nicht. Demnächst sieht es echt schlecht aus. Ich muss noch den Garten in Schuss bringen.«
»Egal, komm, hab’ dich nicht so. Du musst hier wirklich mal raus. Es geht doch nur darum, dass du öfter unter Leute kommst.«
»Ich habe genug soziale Kontakte, das kannst du mir glauben. Aber ich überleg’ es mir. Hab’ ja noch eine Rechnung mit dir offen.«
»Mach das. Also dann, adios alter Bursche!«, Ben beugte sich für eine Umarmung zu seinem Freund herunter und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ja, bis demnächst.« Er wandte sich in Richtung Schiebetür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um und grinste ihn an: »Wie lange lebst du eigentlich jetzt schon vom Handbetrieb?« Auf Marcs Gesicht erschien ein Fragezeichen.
»Spinner!«, meinte er nur, aber sein Freund war schon durch die Ausgangstür in der Dunkelheit verschwunden.
***
Es war wieder ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Aber so langsam schien etwas Ruhe einzukehren. Die Unterlagen, Modelle und Kalkulationen für die Ausschreibung waren so gut wie fertig und der Abgabetermin würde gehalten werden können. Beim Projekt Erlebnishotel hatte er nach langen Verhandlungen bei der Baufirma erreicht, dass man den unfähigen Bauleiter austauschte und seitdem ging es da auch gut voran, ohne dass sich die beteiligten Firmen gegenseitig die Schuld für auftauchende Hindernisse und die damit verbundenen Verzögerungen in die Schuhe schoben. Und zu guter Letzt hatte sich auch die Geschichte mit dem Atelier zu seiner vollen Zufriedenheit geregelt.
Als er gestern Abend im »Al Gusto« seine Vorstellung gegeben hatte, war plötzlich Dorothee Melzer an dem kleinen Beistelltisch neben dem Piano erschienen, hatte sich auf einen mitgebrachten Stuhl platziert und ihn verträumt angesehen wie einst Ingrid Bergman den Barpianisten in »Casablanca«. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass sie ihn bitten würde, noch einmal »As Time Goes By« zu spielen. Stattdessen überraschte sie ihn mit dem Satz:
»Gut, Marc, ich will mal nicht so sein und dir deinen Übergriff von neulich nicht zu sehr übel nehmen.«
Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Beinahe hatte er sich vor Schreck verspielt. Aber offenbar versuchte sie aus der Situation herauszukommen, indem sie den Spieß umdrehte. Doch er dachte nicht daran, sich den schwarzen Peter zuschieben zu lassen:
»Frau Melzer, wovon reden Sie? Es gab lediglich einen Besichtigungstermin, bei dem ich Ihnen versicherte, dass der Bauplan Ihren Wünschen voll gerecht werde. Es wäre besser für uns beide, wenn wir uns in dieser Art an dieses Treffen zurückerinnern würden.« Marc hatte es vorgezogen, in einen geschäftsmäßigen Ton zu wechseln, aber ihr auch die Möglichkeit zu geben, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen. Sie hatte dann einen Schmollmund gezogen, ihre Handtasche genommen, sich neben ihn gestellt. Dann hatte sie sich zu ihm herabgebeugt, sodass sich ihre Wangen berührten und ihm ins Ohr gehaucht:
»Ach, komm schon, Marc, du hast es doch genossen, du Hengst. Wenn dein blödes Telefon nicht geklingelt hätte, dann hättest du mich dort oben garantiert sexuell belästigt und nach Strich und Faden durchgevögelt.« Ihre Stimme verriet ihm, wie enttäuscht sie immer noch über die entgangene »Belästigung« war.
»Dorothee, wir sollten das wirklich auf sich beruhen lassen und wieder einen professionellen Umgang miteinander pflegen.«
»Sehr, sehr schade«, sie bemühte sich offenbar, gleichgültig zu klingen. »Falls du es dir anders überlegst«, sie wandte sich zum Gehen. »Ich habe ein Separee gebucht. Vielleicht besuchst du mich mal in deiner Spielpause.« Dann war sie mit schnellen, entschlossenen Schritten davongetrippelt.
Es war ihm an diesem Abend dann aber gelungen, seinen kleinen Freund in der Hose, der drauf und dran war, eine Dummheit zu begehen, in die Schranken zu weisen und dieser Einladung nicht zu folgen. Offenbar war das die richtige Entscheidung gewesen, denn am heutigen Nachmittag kamen trotzdem alle Unterlagen von der Kundin unterschrieben und bewilligt im Büro an. Der Bau konnte endlich beginnen.
Als Marc an diesem Abend in seine Sommerbehausung am See kam, setzte er sich sofort an sein Keyboard. Obwohl sich beruflich alles geordnet hatte, spukte in seinem Hinterkopf immer noch die missglückte Verbindungsaufnahme durch Juliette herum. Er hatte noch zwei-, dreimal versucht, zurückzurufen, aber erfolglos. Was wollte sie wieder von ihm? Würde es eine neue Runde in ihrer eigenartigen Beziehung geben? Er wollte diesen lästigen Gedanken vertreiben und begann zu spielen.
Die Klaviermusik war schon immer seine große Liebe gewesen. Er hatte sich vor ein paar Jahren ein teures Keyboard für sein Sommerdomizil gekauft, auf dem er fast ausschließlich die Piano-Funktion nutzte. Immer wenn er das Verlangen hatte, seinen Kopf freizubekommen, setzte er sich an das Instrument und spielte eine Sonate, einen Blues oder einen Ragtime. Manchmal improvisierte er auch einfach und hin und wieder entstand daraus sogar eine neue Nummer für das »Al Gusto«. Doch darum ging es ihm in diesen Momenten gar nicht vordergründig.
Heute spielten seine Finger wie von selbst die Anfangsakkorde einer einfachen, aber sehr zu Herzen gehenden Melodie. »Die Träumerei« von Robert Schumann war genau das Stück Musik, das ihn in diesem Augenblick auf den Boden zurückholte. Schumann hatte dieses Stück damals seiner Frau Clara gewidmet, die selbst eine sehr talentierte Musikerin gewesen war, aber sich ihrem Mann zuliebe mit der Rolle der Ehefrau beschieden hatte. So waren die Zeiten damals, es gab keine Alternative. Clara! Da war doch was. Er hatte Ben versprochen, sich in diesem Forum umzuschauen. Ein bisschen neugierig war er ja doch. Nachdem der Schlussakkord verhallt war, begab er sich zu seinem Schreibtisch und startete seinen neuen Computer.
Marc rief das Diskussions-Board »Opus« mit dem blauen Noten-Hintergrund auf, das ihm Ben am Tag zuvor gezeigt hatte. Er setzte ein Lesezeichen auf die Seite und klickte in das Feld mit der Bezeichnung Username. Seine Finger legten sich auf die Tastatur und tippten das Wort »JohnnyB«. Dann wählte er das Passwort-Feld und gab die achtstellige Zeichenfolge ein.
Zunächst war das Ganze etwas unübersichtlich für ihn, aber schon bald fand er sich zurecht und stöberte durch alle Bereiche und Rubriken, schrieb selbst Kommentare und beteiligte sich an Diskussionen zu allen möglichen Themen. Er war voll in seinem Element, »Opus« könnte für ihn tatsächlich eine interessante Freizeitbeschäftigung werden. Auf diese »Clara« traf er dabei ganz von selbst, ohne gezielt suchen zu müssen. Diese Benutzerin, deren Hauptinteresse der Klaviermusik galt, fiel ihm sofort durch intelligente Beiträge auf, die sprachlich wie inhaltlich sehr gedankenscharf waren und fast immer seinen Nerv trafen.
Ein Thema in der Rubrik »Musik allgemein« stand unter dem provozierenden Titel: »Klassik ist langweilig!« Marc las einige Beiträge und verfolgte ein wenig amüsiert, wie sich Klassik-Gegner und -Befürworter in den Haaren lagen, manchmal ging das für seinen Geschmack ein wenig unter die Gürtellinie. Und mittendrin die Meinung von Clara, die ihre Liebe zu dieser Art von Musik deutlich machte, ohne dass sie diese Arroganz zeigte, die manchen Klassik-Fans anhaftete, weil sie glaubten, sie hörten die wertvollere Musik. Clara wagte es sogar, diese Meinungen zu kritisieren, obwohl sie eigentlich Pro-Klassik postete und dem Initiator des Threads auch gehörig die Meinung geigte. Marc fühlte sich gemüßigt, auch einen Beitrag zu schreiben. Er versuchte die Streitereien auszugleichen und führte ins Feld, dass jede Art von Musik ihre Reize habe und dass es ziemlich überflüssig wäre, auf diese Art aufeinander herumzuhacken.
Dann entdeckte er den Thread über die neue CD der Metal-Band »Psychokill«, in dem der Benutzer »Hammer« schrieb: »Jeder Mann, der Eier hat, wird diese Scheibe lieben.« Ihm fiel wieder der Lärm ein, den Ben gestern angeschleppt hatte. Das ging gar nicht! Aber sofort ermahnte er sich, an seinen eigenen Beitrag von eben zu denken. Jeder soll das hören, was ihm gefällt, es macht keinen Sinn, seinen eigenen Musikgeschmack über den anderer zu stellen. Clara hatte als Reaktion auf Bens Äußerung mit einem frechen Post geantwortet: »Kann ich das auch gut finden, wenn ich eine Frau bin, die Hirn hat?« Darauf die Antwort von Ben: »Frauen und Hirn …?«, dazu ein Smiley, der versucht, sich den Kopf an einer Wand einzuschlagen. Er konnte nicht begreifen, dass Ben offenbar glaubte, mit dieser Masche eine Frau wie Clara zu beeindrucken.
Marc registrierte plötzlich, dass sich das Briefsymbol in der oberen rechten Ecke von blassgelb auf rot umgefärbt hatte. Er klickte darauf und las:
Sie haben 1 neue persönliche Nachricht(en)
Clara: Willkommen JohnnyB!
Das würde Ben gefallen, er war kaum eine Stunde online und schon hatte er eine private Nachricht von dieser geheimnisvollen Fremden, die es seinem Kumpel augenscheinlich so angetan hatte, in seinem Postkasten. Neugierig klickte er auf den Link:
27.05. 20:02
Betr.: Willkommen JohnnyB!
Hallo,
ich begrüße dich bei uns im »Opus«, JohnnyB. Du hast dich mit deiner Äußerung ja gleich sehr »beliebt« gemacht ;-)! Aber du sprichst mir voll aus dem Herzen!
Liebe Grüße und viel Spaß noch bei uns
Clara
Er betätigte den Button »Antworten« und schrieb:
Liebe Clara,
herzlichen Dank für deine nette Begrüßung. Ein Freund hat mir von diesem Forum erzählt, aber der ist auch ziemlich leicht begeisterungsfähig ;). Eigentlich wollte ich nur aus Neugier einmal kurz reinschauen, um mich zu vergewissern, dass ich bisher nichts verpasst habe. Doch nun muss ich feststellen, dass ich mich hier sehr gut aufgehoben fühle. Nicht nur, dass es eine Menge Informationen gibt, die man woanders nur schwer bekommt, nein, es tummeln sich hier auch sehr kompetente Musikliebhaber und nette Menschen. Das trifft übrigens ganz besonders auf dich zu. Deshalb komme ich sehr gern wieder mal vorbei.
Liebe Grüße
JohnnyB
Marc drückte auf den »Absenden«-Knopf, ohne lange darüber nachzudenken, ob sein Kompliment vielleicht nicht gleich zu persönlich war. Ben hatte recht. Diese Benutzerin war etwas ganz Besonderes. Das spürte er bei jeder Zeile, die sie schrieb, bei jedem Gedanken, den sie formulierte. Warum sollte er ihr das nicht mitteilen? Im echten Leben würde er selten schon beim ersten Kontakt so ungezwungen seine Sympathie äußern. Da würde er so etwas als widerliches Geschleime ablehnen. Aber im Internet galten andere Regeln. Wenn es peinlich wurde, konnte man verschwinden oder sich einfach ignorieren. Das ging im realen Leben leider nicht so leicht. Oder zum Glück? Schon war er gedanklich wieder bei Juliette, die dieses Verschwinden auch im realen Leben praktizierte.
Doch als er erneut in sein Postfach schaute, verschwanden diese Gedanken. Er hatte eine neue Nachricht von Clara erhalten. Diese bestand lediglich aus einem Zwinkersmiley. Marc kam es so vor, als würde ihm diese winzige Pixelgrafik verschwörerisch zublinzeln. Sein Herz machte einen Hüpfer, aber er musste sogleich über diesen absurden Gedanken lächeln und wegen seiner überschwänglichen Freude den Kopf schütteln. Wie konnte er sich mit so wenigen Informationen über sie so sehr verleiten lassen. Er klappte den Rechner zu und beschloss, noch mal runter ans Wasser zu gehen, um die wundervolle Abendstimmung der realen Natur zu genießen.
Zwei Stunden später war er wieder zurück und seine Finger juckten, den Rechner doch noch mal einzuschalten. Clara war noch online. Ohne lange darüber nachzudenken, schickte er ihr einen Smiley mit einer kleinen Rose und – um das etwas abzumildern – einem erneuten Zwinkersmiley.
Clara antwortete prompt, sie bedankte sich artig und lenkte das Gespräch auf den »Anti-Klassik-Thread«. Es gingen ein paar weitere Nachrichten hin und her, und als Marc am späten Abend im Bett lag, erfüllte ihn eine eigenartige Freude. Was machte dieses Internet mit ihm? War er dabei, den Bezug zur Realität zu verlieren?
Am darauffolgenden Tag ertappte er sich dabei, dass er im Büro immer wieder mit dem Gedanken spielte, auf seinem Dienstrechner das Forum zu besuchen, um nach Clara zu schauen. Aber er blieb streng zu sich selbst, als Chef musste er Vorbild sein: Privates hatte in der Arbeitszeit zu Hause zu bleiben. Das verlangte er von seinen Mitarbeitern und deshalb musste er an sich selbst dieselben Maßstäbe stellen.
Aber als er am Abend nach Hause kam, führte ihn sein erster Weg wieder an den neuen Computer. Clara war erneut online. Hatte sie vielleicht bereits auf ihn gewartet? Kaum dass er sich eingeloggt hatte, erhielt er eine Nachricht von ihr: