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Na, das würde dann wohl spätestens zur Mittagszeit in der Stadt die Runde gemacht haben. Josephine DuPree Mitchell empfing bei helllichtem Tag ihren Ex-Ehemann in ihrer Wohnung.
Sie schlüpfte durch die Hintertür in den kurzen Flur, der zur Treppe zu ihrer Wohnung führte. Als sie den Treppenabsatz erreichte, sah sie Noah hinter sich am Fuß der Treppe stehen, die muskulösen Arme vor seiner Brust verschränkt.
„Kommst du nicht?“
Er durchbohrte sie mit einem stürmischen Blick voller Misstrauen. „Ich glaube, ich werde einfach hierbleiben.“
Die Hitze in ihren Wangen verstärkte sich noch, während sie die restlichen Stufen mit Knien so wackelig wie ein dreibeiniger Tisch hinaufstieg, weil ihr Gehirn immer noch versuchte, diese letzte unwirkliche Minute zu verarbeiten. Noah hier. In ihrem Laden.
Sie versuchte, den steinernen Ausdruck in seinem Gesicht zu vergessen. So anders, als er sie früher immer angeschaut hatte, als seine Löwenaugen voller Verehrung gewesen waren und seine Lippen sich zufrieden gekräuselt hatten, wenn sie völlig tiefenentspannt in ihrem Bett gelegen hatten. In diesen satten, wohligen Minuten, bevor der Schlaf sie mit sich trug, war es immer am einfachsten gewesen, die Angst wegzuschieben.
Na und? Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben, Josephine. Die altvertrauten Schuldgefühle bohrten sich hart in ihre Brust, und sie erlaubte sich einen langen, maßlosen Moment lang, die Wucht des Ganzen zu spüren.
Darüber konnte sich jetzt nicht nachdenken. Konzentration. Wo hatte sie diese Papiere hingelegt?
Ihre Augen huschten durch ihre unordentliche Wohnung. Sie hatte keinen richtigen Aktenschrank; alles, was irgendwie wichtig war, landete auf ihrem Schreibtisch. Die Rechnungen ließ sie links liegen und tauchte direkt zum Grund des Bergs. Nicht da. Sie suchte weiter.
Ihre Finger zitterten, sie war unbeholfen. Ein Stapel Papiere segelte aufs Parkett, und sie bückte sich, um sie aufzusammeln. Es waren vor allem Coupons und Werbung; sie war noch nicht dazu gekommen, sich das alles anzuschauen. Sie schwankte, als sie sich aufrichtete. Wo war es nur?
Sie ging zu den Schubladen über und wühlte darin herum. Himmel, welch ein Durcheinander. Sie musste wirklich Ordnung schaffen. Man konnte schließlich nie wissen, wann der Exmann mit verschränkten Armen übelgelaunt am Fuß der Treppe warten würde.
Die Zeit lief, und seine Laune – sie hatte da so ein Gefühl – wurde mit jeder Sekunde schlechter. Sie fand das Urteil auf dem Grund der letzten Schublade und zog es mit einem von Herzen kommenden Seufzer hervor.
Sie nahm sich noch einen Moment, um kurz durchzuatmen, und ihre Augen blieben an dem Spiegel neben der Eingangstür hängen. Das Adrenalin, das sie durchflutete, hatte ihre Wangen gerötet und Schweißperlen auf ihre Stirn gezaubert. Sie tupfte sich die Stirn mit einem Papiertuch ab und widerstand dem Impuls, ihren Lippenstift aufzufrischen und sich durch die Haare zu fahren.
Komisch, dass sie immer noch schön für ihn aussehen wollte. Manche Dinge änderten sich wohl nie, nahm sie an.
Den Papierstapel fest umklammernd, verließ sie ihre Wohnung und stieg langsam und bewusst tief atmend die Treppe hinunter. Noah wartete unten, still und gefährlich – gefährlich für ihr emotionales Wohlbefinden.
Sie brachte ein kleines Lächeln zustande, als sie ihm den Umschlag überreichte. „Bitte schön. Ich kann dir eine Kopie davon anfertigen, falls du deine Unterlagen verloren hast.“
Er bedachte sie mit einem steinharten Blick, während er das Dokument aus dem Umschlag zog.
Auf ihren wankenden Beinen verlagerte sie ihr Gewicht. „Ich habe all deinen Bedingungen zugestimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, warum du jetzt auf einmal so aufgebracht bist.“ Ihr Lachen klang nervös, erstickt von der Enge in ihrer Kehle.
Er öffnete das zusammengeheftete Dokument, schlug die Seiten nach hinten um und hielt es ihr dann hin. „Was ist das hier, Josephine? Was siehst du hier?“
Sie wich zurück, bis die Buchstaben auf der Seite scharf wurden. Ihre Namen, hübsch und ordentlich gedruckt. Ihre Unterschriften auf den entsprechenden Linien.
Und eine Linie darunter für den Richter. Eine leere Linie.
„Alsooo … Ich nehme an, wir haben vergessen, die Unterschrift des Richters einzuholen?“
„Wir haben das nicht vergessen. Du hast das vergessen.“
Sie nahm den Papierstapel aus seinem stählernen Griff. „Möglicherweise haben die Anwälte eine unterschriebene Ausfertigung.“
Sein Lachen war völlig humorlos. „Oh, ich kann dir versichern, dass das nicht der Fall ist.“ Er nahm die Papiere wieder an sich und beugte sich zu ihr, bis sie die braunen Flecken in seinen Augen sehen konnte, die sie früher schon immer hypnotisiert hatten.
„Wir sind nicht geschieden, Josephine. Die Unterlagen sind nie vom Richter unterzeichnet worden.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Was – was redest du da?“
„Du hast das Verfahren nicht zu Ende gebracht. Es ist nie abgeschlossen worden.“ Mit einem Blick machte er sie platt. „Wir sind immer noch verheiratet.“
„Das – das kann nicht wahr sein“, presste sie heraus. Eine nörgelnde Stimme in ihrem Hinterkopf lachte spöttisch.
„Du hast gesagt, du würdest dich darum kümmern. ‚Ich erledige das alles, Noah. Mach dir bloß keine Gedanken darum, Noah.‘ Und jetzt – schau her!“ Er drehte sich zur Wand um. Seine Schulten hoben und senkten sich, und sie hätte schwören können, dass die Temperatur um zehn Grad gestiegen war.
„Ich bringe das in Ordnung. Wir lassen es unterschreiben und geben es ab.“
Er verschränkte die Hände im Nacken. Seine Armmuskeln spannten sich an. Seine Schultern sanken, und ein bisschen von seiner Kampfbereitschaft schien seinen Körper zu verlassen. „So einfach ist das nicht. Die Papiere sind datiert. Joe weiß nicht, ob das Scheidungsverfahren noch in der Schwebe oder ganz eingestellt worden ist.“
„Es tut mir so leid … Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Vernon hat die Papiere hier abgegeben, wir haben unterschrieben, ich habe Kopien davon angefertigt und dir und ihm jeweils eine geschickt. Ich dachte, das wäre alles.“
„Nun, das war es aber nicht.“
„Ich werde mich sofort darum kümmern.“
Er drehte sich um. Seine Augen waren so kalt wie ein Bergquell. „Oh nein, das wirst du nicht. Diesmal kümmere ich mich darum. Ich werde am Montag im Gericht anrufen und herausfinden, was wir tun müssen, um das geradezubiegen.“
„Natürlich. Alles, was du willst.“
„Ich will, dass das hier abgewickelt wird. Und ich will, dass es schnell geschieht.“
Er konnte es nicht erwarten, sie endlich loszuwerden. Genau wie letztes Mal. Ihr Innerstes schrumpelte in sich zusammen, während ihr wieder die Hitze ins Gesicht stieg. „Du kannst dich auf meine volle Kooperation verlassen.“
Und so schnell, wie Noah wieder in ihr Leben getreten war, war er wieder weg. Ließ sie gleichermaßen aufgewühlt und ausgelaugt zurück. Genau wie beim ersten Mal, als er durch ihre Tür gekommen war.
KAPITEL 3
Copper Creek, Georgia Vor dreieinhalb Jahren
Josephine legte den neuen schwarzen Umhang über die Schultern des Mannes. Er wirkte kaum volljährig, aber sie fühlte, dass seine Augen im Spiegel sie fixierten. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, die immer noch warm waren von diesem schwülheißen Junitag, und erwiderte seinen Blick. „Was darf ich für dich tun?“
„Nur einmal nachschneiden.“ Er hatte ein nettes Lächeln und Welpenaugen, die die jungen Mädchen vermutlich alle zum Schmachten brachten.
Die Türglocke klingelte, und ein Schwall heißer, feuchter Luft umspülte die provisorische Trennwand. Noch ein Kunde, hoffte sie. „Bin gleich bei Ihnen!“
„Lassen Sie sich Zeit“, erwiderte eine tiefe Stimme.
Josephine steckte das Kabel des Haarschneiders in die Steckdose und machte sich an die Arbeit. Ihre ersten Wochen waren zäh verlaufen, aber so langsam kam das Geschäft in Schwung. Mundpropaganda, vermutete sie. Männer waren darin einfach besser, nahm sie an. Sie hatte ganz sicher kein Geld mehr für Werbung.
Die Fläche so zu gestalten, dass man dort arbeiten konnte, hatte sie mehr gekostet als gedacht, und sie hatte nur ein Waschbecken und einen Stuhl. Verbesserungen in ihrer schäbigen Wohnung im Obergeschoss würden warten müssen. Es würde den Rest ihres Erbes aufzehren, den Laden auf Vordermann zu bringen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und Angestellte zu beschäftigen. Aber das musste geschehen, und zwar bald. So konnte sie kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten. Der Kostenvoranschlag, den sie von dem Bauunternehmer bekommen hatte, der die Vorarbeiten erledigt hatte, war jenseits dessen, was sie sich leisten konnte.
„Wie heißen Sie, Schätzchen?“, fragte der Junge ein paar Minuten später. Ein kokettes Lächeln umspielte seine Lippen.
Ihre Augen wichen seinen im Spiegel aus. In einer kleinen Stadt sprachen sich Dinge schnell herum. Niemand wusste das besser als sie.
Sie schenkte ihm ein verwegenes Lächeln. „Warum fragst du?“
„Ein Mann sollte den Namen seiner zukünftigen Frau kennen.“
Der war aber draufgängerisch. Und so jung. „Du kennst mich doch gar nicht, Kleiner. Vielleicht bin ich nicht die Art Mädchen, die man zu Hause seiner Mama vorstellt.“
Rote Flecken erschienen auf seinem Hals, und Josephine fühlte sich kurz schuldig, weil sie so geradeheraus gewesen war. Seit vollen fünf Minuten saß er in dem Stuhl und hatte nicht ein einziges Mal den „zufällig-absichtlichen Ganzkörpercheck“ gebracht.
„Meine Mama ist nicht mehr da“, sagte er. „Aber mein Daddy würde Sie mögen.“
Sie lachte leise vor sich hin. „Ganz bestimmt, Kleiner.“
Er machte weiter, tat sein Bestes, um sie zu beeindrucken, aber Josephine federte das Ganze etwas ab. Selbst, wenn er sie herumkriegen würde – und das würde nie passieren –, würde er vermutlich gar nicht wissen, was er mit ihr anfangen sollte.
So plauderte sie weiter mit ihm, während sie sein goldbraunes Haar zurechtstutzte.
Eigentlich musste kaum etwas geschnitten werden, aber diese Woche waren schon ein paar solcher Kunden da gewesen. Neugierde, vermutete sei. Alle alleinstehenden Männer kamen vorbei, um sie in Augenschein zu nehmen. Solange ihr das Kunden einbrachte, war das ganz in Ordnung für Josephine. Und wenn ein kleines bisschen Flirten die Männer dazu bewog, wiederzukommen, tat sie ihnen den Gefallen gerne.

Im Empfangsbereich des Herrensalons blätterte Noah blind durch die Seiten der Zeitschrift Blue Ridge Country. Seine Ohren waren ganz auf das Gespräch hinter der klappbaren Trennwand eingestellt. Selbst wenn er den blauen Ford draußen nicht erkannt hätte, hätte er doch Bryce Collins Stimme erkannt. Er war ein guter Junge, beinahe zehn Jahre jünger als Noah, aber er tat sein Bestes für die Neue in der Stadt.
Viel Glück dabei, dachte er und rutschte auf der alten Kirchenbank hin und her, die im Wartebereich als Sitzgelegenheit diente. Ihm stand es noch bevor, die neueste Mitbewohnerin in Copper Creek zu sehen, aber er hatte gehört, dass sie eine echte Augenweide sein sollte. Und wenn sie, wie es hieß, 26 war, war sie eher in seinem Alter als in Bryces. Die Mutter des Jungen würde sich bei seiner Dreistigkeit im Grab umdrehen.
Was Noah anging, war er nur wegen eines Haarschnitts hier. Er hatte seinen Teil Verabredungen schon gehabt und hatte nicht vor, sich niederzulassen, sehr zum Unwillen seiner Mutter. Er war einfach nur froh, lediglich wegen eines Haarschnitts nicht mehr nach Ellijay fahren zu müssen.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Erst kürzlich war er nach einem kurzen Einsatz mit den Marines zurückgekehrt, aber sein raspelkurzer Militärschnitt war schon lange herausgewachsen. In seiner Abwesenheit hatte sich hier nicht viel verändert, aber das gefiel ihm irgendwie. Er hatte die Zeit gebraucht, um erwachsen zu werden und sich zu überlegen, ob Copper Creek und das Familienunternehmen das waren, was er wirklich wollte. Als er nach Hause gekommen war, war er sich sicherer denn je gewesen, dass das der Fall war.
Im Nebenraum ging das Gespräch weiter, und Noah fühlte sich wie angezogen von der gedämpften, sinnlichen Frauenstimme. Ihre handwerklichen Fähigkeiten als Friseurin konnte er noch nicht beurteilen, aber das Ding mit den Waffen einer Frau hatte sie auf jeden Fall voll drauf. Der arme Junge hatte keine Chance.
Obwohl ihre Art ganz dem Südstaatencharme entsprach, entdeckte er einen Hauch Zynismus in ihrem Lachen, in ihren schnellen Antworten. Zynismus war ein Schutzmechanismus – das wusste er aus erster Hand von seiner Oma. Sag dir, man kann den Leuten einfach nicht vertrauen, dann wirst du nicht enttäuscht werden, wenn sie dich im Stich lassen.
Seine Neugier auf die Neue wuchs. Er fragte sich, was diesen Unterton in ihre Stimme gebracht hatte.
Es war kein Geheimnis, warum sie gerade in der Herrenfrisurenbranche gelandet war. Was sie konnte, musste er noch herausfinden, aber das machte nicht viel aus. Solange sie ihre Kunden nicht glatzköpfig hinausschickte, würde sie alleine durch ihre Art, mit Leuten umzugehen, für eine volle Kundenkartei sorgen.
Das Summen des Haarschneiders verstummte. Dann war das Ratschen des Klettverschlusses zu hören. „Das wär’s!“
„Sieht super aus, Josephine. Ich werde auf jeden Fall wiederkommen.“
„Sag all deinen Freunden, sie sollen vorbeikommen. Für Weiterempfehlungen gebe ich zehn Prozent Rabatt.“
„Ich werd’s mir merken.“
Mit einem dämlichen Grinsen kam Bryce um die Trennwand herum und grub seinen Geldbeutel aus der Hosentasche. Dann fiel sein Blick auf Noah, und seine Ohren wurden schlagartig rot. „Was liegt an, Noah?“
„Nicht viel. Ich habe gerade Feierabend. Wie geht’s deinem Daddy? Ich habe ihn schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ach, dem geht es ganz gut. Hauptsächlich ist er mit seiner Arbeit beschäftigt.“
Der Junge redete weiter, aber gerade da kam die neue Friseurin nach vorne. Sie schaute Noah mit ihren blauen Augen an – zwei Portionen Himmel –, und er wurde blind und taub für alles andere.
Ihre roten Lippen schwangen sich zu einem trägen Lächeln. „Bin gleich bei Ihnen.“
„Nur keine Eile“, krächzte Noah, dessen Kehle plötzlich ausgetrocknet war. Seine Augen folgten ihren schlanken Kurven, bevor sie hinter dem Tresen verschwand.
Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, während sie Bryce abkassierte. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, das kunstvoll um ihr hübsches Gesicht zerzaust war.
Obwohl hübsch ihr nicht gerecht wurde. Ihre alabasterfarbene Haut war fast blass im Kontrast zu ihren üppigen Lippen. Sie hatte dem Bräunungswahnsinn nicht nachgegeben, dem der Rest des Landes verfallen war, und das stand ihr. Lange, dunkle Wimpern strichen über ihre Wangen, als sie in die Schublade griff.
Kein Wunder, dass der arme Bryce in sie verschossen war. Sie war eine Granate. Eine Sirene. Selbst ihre Bewegungen – das wissende Zucken ihres Kinns, der selbstbewusste Hüftschwung – verströmten rohe Sexualität. Aber es waren ihre Augen, die ihn trafen wie ein Blitz. Blasses Eisblau. Und irgendwie älter als der Rest ihrer Person. Hinter diesen Augen steckten Geheimnisse, und plötzlich wollte er sie alle erfahren.
Josephine schickte ein weiteres Lächeln in seine Richtung. „Ich bin gleich so weit. Geben Sie mir nur eben ein Momentchen zum Aufkehren.“
Noah wurde bewusst, dass Bryce gegangen war. Die Glastür war immer noch im Schließen begriffen, und die klingelnden Glöckchen darüber vermischten sich mit seiner Erinnerung. Er wusste nicht einmal mehr, ob er sich ordentlich von dem Jungen verabschiedet hatte.
Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über sie gehört hatte. Paul Truvy war ihr Vater, und er hatte ihr seinen Besitz vererbt, als er letzten Herbst gestorben war. Sie hatte in Cartersville bei einem Herrenfriseur gearbeitet und war zu Frühlingsanfang von dort heraufgekommen, um hier ihren eigenen Salon zu eröffnen.
Sie hatte Beamus Jenkins, dem stadtbekannten Trinker, nach Feierabend an ihrem ersten Samstag einen Haarschnitt gratis verpasst. Am nächsten Morgen war er das erste Mal seit zwanzig Jahren wieder in der Kirche aufgetaucht. Möglicherweise machte noch mehr die Runde, aber Noah war kein Typ für Gerüchte.
Die Baufirma seiner Familie hatte für die erste Phase des kleinen Renovierungsprojekts, die ihr Geschäft auf die Beine brachte, ein Gebot abgegeben. Sein Bruder, Seth, hatte den Kostenvoranschlag gemacht; er erinnerte sich daran, dass er die Akte im Büro hatte liegen sehen. Aber ein Mitbewerber hatte den Zuschlag bekommen.
Er schaute sich im Empfangsbereich um. Hier war immer noch viel Arbeit nötig, soweit er das von hier aus sehen konnte. Der ursprüngliche Holzboden musste aufbereitet werden, und der klappbare Wandschirm, der den Eingangsbereich vom Arbeitsbereich abtrennte, war nicht genug. Durch die Eingangstür ging Luft verloren. Das würde ein echtes Problem werden, wenn das schwülwarme Sommerwetter erst einmal da war.
Er würde eine Trennwand einbauen, etwa drei viertel hoch. Den Boden würde er gerade so weit abschleifen, dass der alte Schmutz und die Flecken weg waren, aber die Maserung und der Charakter des Holzes erhalten blieben. Eine schöne Espressofarbe würde einen netten Kontrast zu der alten Backsteinmauer zu seiner Rechten bilden.
Josephine kam hinter dem Paravent hervor. „Kommen Sie mit durch, Schätzchen.“
Sein verrücktes Herz machte einen Luftsprung wegen des Kosenamens. Er stand auf und folgte ihr zu dem Stuhl. Dabei zerbrach er sich den Kopf darüber, was er nur sagen sollte. Er fühlte sich, als hätte ihm einer eins mit einem Kantholz über die Birne gezogen.
Seine Augen funktionierten immerhin ganz großartig. Josephine war zierlich, fiel ihm auf, jetzt, wo er auf den Füßen stand. Mindestens einen Kopf kleiner als er mit seinen knappen 1,90. Starke, gerade Schultern und eine schlanke Taille. Kurven wie eine Bergstraße.
Er setzte sich in den Stuhl und begegnete im Spiegel ihrem Blick.
Seine Stimme schien sich in seiner Kehle verhakt zu haben. Was stimmte bloß nicht mit ihm? Er war vielleicht kein goldzüngiger Plauderknabe, aber wortkarg war er nun auch nicht. Noah zollte Bryce stummen Respekt dafür, dass er sich so zusammengerissen hatte. Das war mehr, als er gerade fertigbrachte.
„Ich bin Josephine Dupree.“ Mit einem Schwung legte sie ihm den schwarzen Umhang um.
„Noah Mitchell.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Noah.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, und er spürte die Berührung bis in die Zehenspitzen. „Was kann ich für Sie tun?“
Er riss seine Augen von ihrem Spiegelbild los und starrte sein eigenes an. „Da müssen vielleicht drei, vier Zentimeter ab.“ Seine Stimme brach, als wäre er siebzehn. Hitze kroch ihm den Hals hoch, während er sich räusperte. „Ist schon eine Weile her.“
Sie drehte seinen Stuhl um, und auf einmal fiel ihm ein, dass er sich auch für eine Haarwäsche eingetragen hatte. Das bereute er jetzt. Besonders, als sie die Lehne seines Stuhls absenkte, sich über ihn beugte und ihre großzügigen Kurven näher kamen.
Sein Herz schlug bis in seine geschwollene Kehle hinein. Er schloss die Augen. Da bemerkte er ihren Geruch. Süß, ein bisschen würzig. Berauschend.
Das Wasser wurde angestellt. Ihre Finger strichen durch sein Haar, gefolgt von einem Schwall warmen Wassers. Sein Puls machte einen Sprung, und er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Sein Körper summte wie eine Stimmgabel.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Mitchell.
„Sie haben wirklich schönes Haar“, sagte sie mit dieser rauchigen Stimme. „Viele Männer würden alles geben für so dickes, volles Haar.“
Sein Mund arbeitete. Was sollte er sagen? Danke? Ebenso? Während er über seine Erwiderung nachdachte, vergingen die Sekunden, bis es zu spät war, überhaupt irgendetwas zu sagen. Vielleicht dachte sie, er sei schwer von Begriff.
Sie fuhr mit ihren Fingern durch sein Haar, während sie es mit Wasser benetzte. Sein Herz donnerte gegen seinen Brustkorb, und ein Schaudern rann ihm über den Nacken. Herr im Himmel. Man könnte meinen, du wärst noch nie von einer Frau angefasst worden.
Er rutschte im Stuhl herum.
„Zu heiß?“
Er räusperte sich. „Ähm, nein. Ist gut so.“ Vier Worte. Jetzt hast du aber ‘nen Lauf, Kumpel.
Das Wasser wurde abgestellt, und ihre Finger begannen damit, das Shampoo in sein Haar einzuarbeiten.
Er hielt seine Augen geschlossen und ließ zu, dass ihr Duft seine Sinne überwältigte. Er konnte ihre Körperwärme spüren, als sie sich vorbeugte, um seinen Hinterkopf zu erreichen. Ihr Atem strich über die Härchen an seinen Schläfen und brachte jede seifige Haarwurzel dazu, sich aufrecht hinzusetzen.
Dann lief wieder Wasser, und sie begann, den Schaum abzuwaschen. Fast fertig. Er bemerkte, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Er entspannte sie und wischte sich seine verschwitzten Handflächen auf den Oberschenkeln ab.
Als sie das Wasser abstellte, wartete er auf das Handtuch. Er brauchte Raum zum Atmen. Aber stattdessen fingen ihre Finger wieder an, sich durch sein Haar zu arbeiten, und ein angenehmer Moschusduft mischte sich unter ihren Geruch.
„Riecht das Zeug nicht einfach himmlisch? Es ist mein Lieblingsprodukt. Ihre Haare werden sich hinterher anfühlen wie Seide.“
„Riecht großartig.“
„Wie haben Sie von meinem Geschäft erfahren?“
„Äh, vom Hörensagen, glaube ich. Sie hatten den Laden gerade gekauft, als ich von einem Auslandseinsatz wiedergekommen bin.“
„Danke für Ihren Dienst, Noah. Welche Truppe?“
„Marines. Meine Familie hat übrigens ein Gebot für Ihren Renovierungsauftrag abgegeben. Mitchell Home Improvement.“
Ihre Finger kneteten seinen Nacken, eine Minimassage, die ungefähr das Beste war, das er je gefühlt hatte. Er schluckte schwer, wollte sich gleichzeitig in ihre Berührung fallen lassen und aus dem Stuhl flüchten.
„Oh, tut mir leid. Sawyers Angebot war etwas niedriger, und ich muss auf jeden Penny achten.“
„Es ist eine gute Firma. Sind gute Leute.“
„Ich hole gerade neue Angebote für die nächste Phase ein. Einer eurer Jungs macht einen Kostenvoranschlag für mich. Billy heißt er, glaube ich. Ich habe ein sehr begrenztes Budget, weil ich gerade erst angefangen habe.“
Sie stellte das Wasser an und begann damit, den Conditioner auszuspülen.
Plötzlich wollte er diesen Job mehr als seinen nächsten Atemzug. Dieser Tage kümmerte er sich vorwiegend um größere Aufträge. Sie hatten mehrere sehr fähige Mannschaften, und im Büro war auch immer eine Menge zu tun. Aber in diesem Fall war er versucht, die Sache persönlich in die Hand zu nehmen – sozusagen.
„Ich werde mir das Angebot anschauen. Mal sehen, ob sich was machen lässt.“
„Das ist aber nett von Ihnen. Ich habe vor, so bald wie möglich anzufangen. Ein Stuhl wird mich nicht lange im Geschäft halten.“
„Sie wollen sich vergrößern?“
„Yes, Sir. Ich habe einige Stühle und Becken aus zweiter Hand aus einer Geschäftsauflösung in Atlanta. Außerdem muss am Boden was gemacht werden, und ich brauche hier drin noch ein, zwei Wände.“
„Sieht aus, als hätte es in der Decke da vorne irgendwann einen Wasserschaden gegeben.“
„Das kommt von meinem Badezimmer oben. Der Schaden ist behoben, aber die Decke muss repariert werden.“
„Sie wohnen da oben?“ Die Wohnung hatte jahrelang leergestanden. Er konnte sich nicht vorstellen, in welchem Zustand sie sich befand.
„Vorerst.“ Sie drehte den Wasserhahn zu und tupfte sein Haar mit einem Handtuch ab, bevor sie die Lehne wieder gerade stellte. „Um ehrlich zu sein, also, wenn ich von dem einen Angebot ausgehe, das ich schon bekommen habe, werde ich wohl eine Art Deal aushandeln müssen.“
Lebhafte Visionen von Küssen im Mondlicht schossen ihm durch den Kopf. Er blinzelte sie weg. „Was denn für eine Art Deal?“
Sie pumpte den Stuhl hoch und rubbelte mit dem Handtuch über seinen Kopf, um das restliche Wasser aufzunehmen. Dann bewegte sie sich an seine Seite und zog einen Kamm durch sein Haar. „Ich habe gedacht, ich könnte vielleicht eine helfende Hand reichen. Sie wissen schon, abends und an meinem freien Tag.“