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„Sie meinen … bei der Renovierung?“
Sie hielt inne. Ihre Augen fixierten seine im Spiegel. Sie glitzerten amüsiert. „Ich kann mehr als nur hübsch in der Gegend herumstehen, das sollten Sie vielleicht wissen.“
Hitze stieg ihm in die Wangen. „Das habe ich nicht gemeint …“
Ihr Lachen war leise und lasziv, und ihre Augen verzogen sich zu Halbmonden. „Entspannen Sie sich, ich bin kein Handwerker, aber ich kann einen flachen Schraubenzieher von einem Kreuzschlitz unterscheiden. Und ich lerne schnell. Ich habe gehofft, ein paar Hände zusätzlich könnten die Kosten ein wenig senken.“
Sie lehnte sich näher an ihn heran, um seinen Pony mit dem Kamm zu durchfahren, und brachte ihren berauschenden Duft mit. „Meinen Sie, Sie wären offen für so etwas in der Art?“
Den Mann würde er gerne treffen, der das nicht wäre.
Trotzdem, aus geschäftlicher Sicht wäre er dumm, das anzunehmen. Alles Mögliche konnte dabei schiefgehen. Vermutlich würde sie seine Arbeitsgeschwindigkeit eher bremsen. Zweifellos würde sie ihn unglaublich ablenken. Und da war noch nicht mal die Frage nach der Versicherung geklärt.
Aber während sie ihm die Haare schnitt, ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, sah er ihr in die Augen, die auf der Hut waren. Da war mehr, als man auf den ersten Blick sehen konnte. Er wollte alles wissen, was es über Josephine Dupree zu wissen gab, und ihm fiel keine bessere Art und Weise ein, das zu erfahren, als so. Wenn ihn das zu einem Trottel machte, mochte das so sein.
„Ich würde es mir auf jeden Fall überlegen“, sagte er. Und dein Lächeln reicht mir als Anzahlung.
„Freut mich, das zu hören.“
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit. Das nutzte Noah aus, um sie in Ruhe zu betrachten. Selbst so aus der Nähe war ihre Porzellanhaut makellos. Ihre dunklen Wimpern waren wahnsinnig lang und gebogen. Zarte Augenbrauen wölbten sich spitzbübisch über mandelförmige Augen. Sein Blick senkte sich auf ihre vollen roten Lippen. Die reinste Vollkommenheit.
Oh ja. Komme, was da wolle, diesen Auftrag würde er übernehmen.
KAPITEL 4
Sweetbriar Ranch Gegenwart
Noah öffnete Rangos Box und führte ihn auf den Putzplatz. Der Atem des Pferdes stand neblig in der Luft, obwohl es fast Mittag war. Eine Wolkenbank schluckte das Sonnenlicht, und Tannenduft hing schwer in der Luft.
Rango wieherte leise. Gestriegelt zu werden stand ganz weit oben auf der Liste dieses Pferdes, zusammen mit Fressen. Noah führte das Paint Horse in den Stand und ließ den Führstrick los. „Steh.“
Alle Pferde auf der Sweetbriar Ranch waren darauf trainiert, stehen zu bleiben, wenn der Strick auf dem Boden hing. Rango allerdings war noch ziemlich neu und neigte nach wie vor dazu davonzuwandern.
Er begann, das schwarzweiße Fell des Pferdes zu striegeln. „Bist ein bisschen in die Kletten geraten, was? Manchmal habe ich das Gefühl, du machst das mit Absicht, Großer.“
Rango seufzte. Die restlichen elf Pferde waren bereits gefüttert, gestriegelt und auf der Weide. Wenn es noch kälter wurde, würde er ihnen die Decken auflegen müssen.
Sein Telefon summte in seiner Hosentasche, und er schaute aufs Display. Endlich. Um Punkt zehn Uhr hatte er heute Morgen im Gericht angerufen und darauf gewartet, dass sie die Aktenlage überprüften und sich wieder bei ihm meldeten.
„Mitchell hier.“
„Hallo, Mr. Mitchell, hier spricht Cheryl vom Gericht.“
„Hallo, Cheryl. Danke, dass Sie sich so schnell melden. Was haben Sie herausgefunden?“
„Also, ich habe die Akten durchsucht und herausgefunden, dass Sie ganz recht hatten – Ihre Scheidung ist nie vollzogen worden. Ich fürchte, Sie sind immer noch verheiratet.“
Sein Herzschlag hüpfte. „Immer noch verheiratet“, murmelte er sich selbst zu. Egal, wie oft er den Gedanken jetzt gedacht hatte, er schien nicht ganz bei ihm anzukommen.
„Ich fürchte, so ist es. Das Verfahren ist immer noch in der Schwebe, das ist also gut. Es geht im Grunde nur darum, frischdatierte Papiere und die entsprechenden Unterschriften zu bekommen. Ihr nächster Schritt wäre, Ihren Anwalt zu kontaktieren.“
„Das mache ich. Vielen Dank, Cheryl.“
„Gern geschehen. Schönen Tag noch.“
Noah verschwendete keine Zeit. Er bekam Joe an den Apparat, der ihm ein frischdatiertes Scheidungsurteil bis zum Ende des Tages versprach. Noah bedankte sich bei ihm und legte auf.
Morgen würde er in die Stadt fahren, die Papiere abholen, sie unterschreiben, sie von Josephine unterzeichnen lassen und sie wieder abgeben.
Nein, nicht morgen, dachte er, als er in Gedanken seinen Terminkalender durchging. Nachmittags traf er sich schon mit einem möglichen Einstaller, und dann kam der Chiropraktiker, der sich ein paar Pferde vornehmen sollte.
Und am Mittwochnachmittag traf er sich mit Mary Beth, um die Zeitplanung für das Sommerlager durchzugehen. Außerdem zogen kalter Regen und Wind aus einer größeren Sturmfront auf das Gebiet zu. Er würde die Pferde einstallen müssen, bevor das Unwetter eintraf. Da würde er keine Zeit haben, ganz bis in die Stadt zu fahren. Sein Seufzen kam aus seinem tiefsten Inneren. Am Donnerstag hatte er, gesetzt den Fall, das Wetter machte mit, zwei Trailreitgruppen am Nachmittag.
Er würde nicht vor Freitag vom Berg herunterkommen können. Eine komplizierte Gefühlsmischung überkam ihn. Es war so bizarr, daran zu denken, dass Josephine und er immer noch verheiratet waren.
Aber nicht mehr lange. Wenn die Richter gnädig waren, würde nächste Woche alles vorbei sein. Außer der Steuergeschichte. Die würde er neu einreichen müssen, und dafür würde er Walts Hilfe brauchen. Das wurde ja alles immer besser hier.
Er suchte die Nummer von Josephines Salon in seinem Handy und wählte sie, in der Hoffnung, sie wäre zu beschäftigt, um den Anruf entgegenzunehmen. Endlich lief einmal etwas so, wie er sich das wünschte. Ihre leise Stimme mit dem gedehnten Südstaatenakzent ertönte und gab Anweisungen zum Hinterlassen einer Nachricht. Seine Gedanken sprangen wieder zu dem Samstag zurück, als er sie in ihrem Geschäft konfrontiert hatte.
Sie hatte sich kein bisschen verändert, weder im Aussehen noch in ihrer Art. Sie flirtete sich immer noch durchs Leben und trat dabei Herzen in den Dreck. Ein kleiner Teil seines Selbst – der Teil, der sich an ihr zartfühlendes Herz für die Bedürftigen erinnerte und an die rohe Verletzlichkeit, die sie so gut zu verstecken wusste – wehrte sich gegen den Gedanken. Aber er brachte diese Stimme zum Schweigen. Er wollte Josephine nicht mehr mögen.
Ein Piepen erklang in seinem Ohr, und seine Kurzangebundenheit kam wie von selbst. „Ich bin’s. Ich habe gerade mit dem Gericht telefoniert, und es ist alles noch … offen. Joe stellt die Papiere neu aus. Ich schaffe es nicht vor Freitagnachmittag in die Stadt. Also musst du irgendwann diese Woche zu ihm hingehen und sie unterschreiben.“ Er legte auf, ohne sich weiter groß zu verabschieden.
Rango drehte sich um und stupste ihn mit der Schnauze an. Noah nahm die Bürste zur Hand und fuhr damit über die Flanke des Pferdes. Er fragte sich, mit wie vielen Männern Josephine sich verabredet hatte, seitdem sie getrennter Wege gingen. Seitdem sie dachten, sie wären geschieden. Er sagte sich, dass es nicht von Bedeutung war. Sie gehörte nicht länger ihm, selbst wenn das Gesetz das anders sah.
Aber er konnte nicht leugnen, dass sie seit Samstag aus seinen Gedanken nicht wegzukriegen war. Die Erinnerungen – so gute, so schlechte – waren näher an der Oberfläche, als ihm bewusst gewesen war. Das Ganze hatte die Vergangenheit aufgewirbelt. Und die Vergangenheit sollte auf jeden Fall besser begraben bleiben.
Er sah zu den Dachbalken der Scheune hinauf, als könnte er direkt in den Himmel sehen.
Was für ein mieser Trick ist das hier eigentlich?

Josephine spielte die Nachricht ein drittes Mal in Folge ab. Draußen war es dunkel geworden. In ihrer verriegelten Ladentür hing das „Geschlossen“-Schild. Noah sprach durch den Telefonlautsprecher zu ihr. Seine Stimme war hart. Kalt.
Sie hatte zwischen zwei Kunden gesehen, wie der Anruf reinkam. Sie hatte nichts weiter zu tun gehabt, als staubige Ecken zu fegen, aber sie brachte es nicht über sich, ans Telefon zu gehen. Stattdessen stand sie da wie versteinert, während er seine Informationen loswurde. Nur die Fakten, Ma’am, nichts als die Fakten.
Die Nachricht kam zum Schluss; sie endete mit seiner kurzen Anweisung, die Papiere zu unterzeichnen.
Immer noch verheiratet. Der Gedanke spielte grausam Katz und Maus mit ihrem Verstand, foppte sie. Verheiratet, geschieden, was machte das schon? Sie lebte ohnehin wie eine Nonne. Nicht, dass die Menschen in Copper Creek das glauben würden. Sie hatte ihre Lektion endlich gelernt.
Die hätte sie schon vor Jahren lernen sollen. Warum um Himmels willen sie zugelassen hatte, dass Noah ihr etwas anderes weismachte, war reine Spekulation.
Sie hatte ihn verletzt, und wofür? Scham, vertraut und verdient, überkam sie, und sie begrüßte sie. Vielleicht war sie kein faules Ei, wie ihr Vater sie genannt hatte, aber selbst nach einem Jahr Therapie traute sie sich nicht an eine neue Beziehung heran. Sie würde sich selbst niemandem mehr antun. Nie wieder.
Zum hundertsten Mal wünschte sie sich, sie könnte in die Vergangenheit zurückreisen und Sawyer’s Construction beauftragen anstatt Noah. Das hätte ihnen beiden eine ganze Menge Ärger erspart.
Sie versuchte, die Gedanken abzuschütteln, drehte die Lüftung herunter und machte sich auf den Weg in ihre stille Wohnung. Dort angekommen, stellte sie das Radio an, um die einsamen Ecken zu füllen.
Sie musste Noah aus ihrem Kopf herauskriegen, aber er war wie eine Klette, die sich in einer Haarsträhne verfangen hatte. Sie zog ihren Terminkalender für Samstag heraus. Bewohnerinnen des Hope House, des lokalen Mädchenheims, kamen, um sich von ihr verwöhnen zu lassen, und das hatten sie auch verdient. Am Samstagabend sollte das Frühlingsfest der Highschool stattfinden, und sie hatte all ihre Stylisten einbestellt, die kostenlose Hochsteckfrisuren und Make-up machen würden. Sie hatte zwei Nagelpflegerinnen aus dem Umland aufgetan, die bereit waren, ihre Zeit zu opfern. Sie konnte es kaum erwarten, die Mädchen alle aufgebrezelt und selbstbewusst vor sich zu sehen.
Die Planung hielt sie auf Trab, bis ihre Augen müde wurden. Sie machte sich bettfertig, kroch unter die Decke und wünschte sich, eine kühle Brise würde durchs Fenster hereinwehen. Stattdessen wehte eine Vision von Noahs Gesicht herbei. Diese kühlen Augen, die auf sie gerichtet waren. Sein wütend zuckender Unterkiefer.
Seine Stimme auf dem Anrufbeantworter erklang wieder in ihrem Kopf, ihr Ton so voller Abscheu, dass es ihr körperliche Schmerzen bereitete. Er würde Freitag in die Stadt kommen, sagte er. Obwohl es offensichtlich war, dass es ihm lieber wäre, wenn das alles gestern erledigt gewesen wäre.
Vielleicht konnte sie die Zeit nicht zurückdrehen und Dinge anders machen. Vielleicht konnte sie sie nicht wie durch einen Zaubertrick zu geschiedenen Leuten machen. Aber sie konnte ihm die Fahrt den Berg herunter einsparen und das Ganze um ein paar Tage beschleunigen. Um Noahs willen. Vielleicht auch um ihrer selbst willen. Am Mittwoch nach Ladenschluss würde sie ihm die Papiere persönlich überbringen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.
KAPITEL 5
In Gedanken bereits bei dem Abend, der vor ihr lag, drehte Josephine den Schlüssel ihres Ford Focus um. Der Motor des Autos stotterte, das machte er öfter. Er musste durchgecheckt werden, aber das schob sie schon länger vor sich her.
Sie versuchte es wieder. „Komm schon, Kleiner. Du schaffst das.“ Sie musste mit der Sache abschließen. Weil sie dauernd an Noah Mitchell denken musste, konnte sie sich kaum auf etwas anderes konzentrieren.
Der Motor sprang an, und sie seufzte aus tiefstem Herzen. Mit dem Packen Papiere aus der Anwaltskanzlei auf dem Beifahrersitz bog sie aus der Parklücke und verließ die Stadt. Noah wohnte jetzt auf der Sweetbriar Ranch, eine gute halbe Autostunde den Berg hoch.
Die Sonne hing über dem Horizont, und ihr graute schon jetzt vor der Rückfahrt über die sich windenden Bergstraßen im Dunkeln. Aber nicht so sehr, wie ihr davor graute, Noah wiederzusehen.
Ihr Herz tat einen Extraschlag. Zu sagen, ihr graute davor, war zu einfach für die komplexen Gefühle, die er in ihr aufrührte. Immerhin würde er froh sein, sie zu sehen. Natürlich nicht, weil er ihre Gesellschaft schätzte, sondern weil es den Scheidungsprozess beschleunigte. Nicht einen Moment lang glaubte sie, ihre gute Tat könnte ihr enormes Versagen ausgleichen.
Kurz nachdem sie in der Bergregion angelangt war, begann es zu regnen, und sie stellte die Scheibenwischer an, während sie langsam Kehre um Kehre bewältigte. Schön war es hier oben. Tannen und Bergpanoramen und die Art Stille, die einen seine eigenen Gedanken hören ließ.
Sie fragte sich, ob Noah sich zum Abendessen hinsetzte. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, ob er allein war. In der Stadt hatte sie Gerüchte über ihn und seine Reitlehrerin, Mary Beth Maynor, gehört. Was, wenn Josephine einen gemütlichen Abend oder ein romantisches Abendessen für zwei unterbrach?
Auf dem Lenkrad begannen ihre Handflächen zu schwitzen. Mary Beth war ein liebes Kirchenmädchen mit einer guten, anständigen Erziehung. Sie war hübsch, ein hübsches Mädchen von nebenan, mit ihrem glatten dunklen Haar und einem freundlichen Lächeln. Sie wäre gut für Noah.
Der Gedanke schloss sich wie eine Faust um Josephines Herz.
Kein Wunder, dass ihn die ganze Situation so aufgeregt hatte. Wenn er mit Mary Beth zusammen war, betrog er sie so unwissentlich, und es gab keinen loyaleren Menschen auf der Welt als Noah.
Die Straße wand sich weiter, krümmte sich nach Norden und Süden, Osten und Westen, bis ihr flau im Magen wurde. Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden, und es hatte sich eingeregnet, die Tropfen trommelten auf ihr Autodach.
Sie bremste, als sie sich der Old Hollow Road näherte, einer Schotterstraße, die steil nach rechts abfiel. Ein Wegweiser deutete Richtung Sweetbriar Ranch. Die Straße ging noch eine Weile weiter, bevor sie eine weite Ebene voller sanfter Hügel erreichte, die von einem weißen Lattenzaun umfriedet war. Ein Schild am Eingang sagte ihr, dass sie angekommen war.
Kies knallte unter ihren Rädern, als sie langsam über die Auffahrt rollte. Im schwindenden Licht wirkte die Landschaft eintönig, aber sie stellte sich die Hügel grün vor, überall darauf verteilt die Pferde, die sie hier schon einmal gesehen hatte, in glücklicheren Zeiten. Sie überquerte eine Holzbrücke über einen Bach, der sich durch die Weiden schlängelte.
In seiner Jugend hatte Noah auf der Ranch als Stalljunge gearbeitet, wenn im Bauunternehmen seiner Familie wenig los gewesen war. Sie war überrascht gewesen, als sie hörte, dass er die Anlage gekauft hatte. Sosehr er Pferde liebte, Baustellen waren einfach Teil seiner DNA. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er das aufgab. Irgendwie hatte sie sich auch dafür die Schuld zugeschrieben.
Sie erreichte einen Hügelkamm, von wo aus ein kleines Häuschen in Sicht kam. Im Fenster brannte ein Licht, und Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein. Sie bremste vor dem Haus und schnappte sich das Bündel Papiere, dann sauste sie durch den kalten Regen in den Schutz der Veranda.
Nach dreimaligem Klopfen jedoch sank ihr Magen in die Kniekehlen. Sie war doch sicher nicht den ganzen Weg umsonst gefahren. Was, wenn er eine Lücke in seinem Zeitplan gefunden hatte und wegen der Papiere in die Stadt gefahren war? Er würde fuchsteufelswild werden, wenn er den ganzen langen Weg auf sich genommen hatte, um dann festzustellen, dass sie weg war.
Im schwindenden Licht ließ sie ihren Blick über das Umland gleiten und entdeckte den Schatten einer Scheune an einem entlegenen Ende des Grundstücks. Dort glomm ein schwaches Licht. Natürlich.
Sie stürzte zum Auto zurück, kämpfte mit dem Motor und gewann beim zweiten Versuch. Sie klappte die Sonnenblende herunter und verzog das Gesicht bei ihrem Anblick: zusammengefallenes Haar, das Gesicht nassglänzend vom Regen und ein dünnes helles Jäckchen mit dunklen Tropfspuren. Ach, egal. Er würde sowieso nicht begeistert sein, sie zu sehen, ganz gleich, wie sie aussah.
Sie folgte der Auffahrt bis zur Scheune, wo sie seinen Pick-up entdeckte. Als sie ausstieg, hörte sie im Inneren der Scheune ein lautes Wiehern, gefolgt von Noahs tiefer Stimme. Sie hechtete zum Unterstand und blieb in der Tür stehen.
Noah führte gerade ein braunes Pferd in eine Box. Er trug einen dunklen Regenmantel und hatte sich die Kapuze ins regennasse Gesicht gezogen. Ein Rappe stand wartend im Mittelgang. Seine Ohren drehten sich aufmerksam in ihre Richtung, und er wieherte so leise, dass sie es kaum hören konnte.
Bei dem Klang drehte sich Noah um und entdeckte sie in der Türöffnung. Irgendetwas leuchtete in seinen Augen auf, Überraschung vielleicht und noch etwas anderes, bevor sie sich zu Schlitzen verengten.
Seine Kiefermuskeln verkrampften sich, während sein Blick über sie glitt. „Was machst du hier?“
„Ich … ich habe die Papiere hergebracht.“
Sein Blick fiel auf den Packen in ihrer Hand.
„Ich dachte, es könnte den Ablauf beschleunigen, wenn ich sie vorbeibringe.“
Das sanfte Licht konnte seine harten Gesichtszüge nicht abmildern. „Du hättest anrufen sollen. Ich muss die Pferde hereinholen.“
Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Stift. „Wenn du sie einfach unterschreibst, bin ich gleich wieder weg. Ich kann sie Joe morgen gleich als Erstes vorbeibringen.“
Er schenkte ihr ein ironisches Lachen. „Wenn du glaubst, dass ich das unterschreibe, ohne es gelesen zu haben, spinnst du wirklich.“
Hitze stieg ihr ins Gesicht. „Es sind die gleichen Unterlagen, auf die wir uns schon vorher geeinigt hatten. Ich habe sie nur abgeholt.“
Er ging rückwärts aus der Box und schloss die Tür. „Trotzdem. Ich schaue sie mir an.“
Sie verlagerte ihr Gewicht und drückte den Papierstapel an sich. „In Ordnung. Also, dann werde ich sie einfach unterschreiben und hier bei dir lassen, denke ich.“ Dann konnte er sie abgeben, wenn er Zeit hatte. So viel zu ihrem Ausflug auf den Berg.
Mit gerunzelter Stirn griff er nach der Führleine des Rappen.
Josephine wartete geduldig, während er das Pferd offenbar tief in Gedanken versunken in die Box führte.
Sie fühlte sich entlassen, nahm die Kappe ihres Stifts ab und blätterte zur letzten Seite. Sie legte den Stapel auf den Deckel eines Eimers in der Nähe und unterschrieb mit zitternder Hand auf der entsprechenden Linie.
Keine große Sache, Josephine. Du hast doch sowieso gedacht, es wäre längst erledigt. Nur eine Formalität. Doch das Gefühlsknäuel in ihrem Inneren drohte zu platzen.
Sie richtete sich wieder auf. „Okay. Ich lasse das dann einfach hier.“ Als er nicht antwortete, wandte sie sich zum Gehen. Der Regen war stärker geworden, und sie verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, um sich gegen die bevorstehende Nässe zu schützen.
„Warte.“
Josephine drehte sich um, während Noah mit schnellen Handgriffen die Pferdedecke des Rappen abnahm.
Als er fertig war, richtete er seinen finsteren Blick auf sie und seufzte schwer. „Ich will nicht wieder in die Stadt fahren. In zwanzig, dreißig Minuten bin ich hier fertig, wenn du ein bisschen warten kannst.“
Sie wurde nirgendwo anders gebraucht. „Ich warte im Auto.“
Er öffnete seinen Mund, und sie fragte sich, ob er sie gleich in sein Haus einladen würde. Aber falls er das in Erwägung gezogen hatte, hatte er es sich anders überlegt. „Gut.“
Sie ließ den Stift neben den Papieren liegen und stürzte zurück in die Wärme ihres Autos. Durch die Rinnsale auf der Windschutzscheibe beobachtete sie, wie Noah in der Dunkelheit der Weide verschwand. Eine Weile später tauchte er mit drei weiteren Pferden wieder auf.
Während er in der Scheune war, veränderte sich der Klang des Regens. Josephine erkannte, dass der Wolkenbruch in Graupel überging. Sie dachte an die Bergstraße und drängte Noah in Gedanken zur Eile.
Ein paar Minuten später graupelte es gleichmäßig weiter, und Noah war immer noch in der Scheune. Wenn es irgendeine Hoffnung gab, sicher in die Stadt zurückzukommen, war es jetzt oder nie. Sie rannte zurück in die Scheune, inzwischen zitternd vor Kälte und Nässe.
Noah entfernte gerade die Decke eines kastanienbraunen Pferdes.
„Noah … Ich glaube, ich lasse dir die Papiere besser einfach hier.“
„Ich bin beinahe fertig.“
„Der Regen ist in Eisregen übergegangen. Wenn ich jetzt nicht fahre …“ Sie ließ ihn seine eigenen Schlüsse ziehen.
Er durchbohrte sie mit einem nicht gerade freundlichen Blick. Seine Hände arbeiteten schnell, effizient. „Schön. Dann fahr.“
Nett. So viel zu ihren Bemühungen. Sie spürte ein Fünkchen Irritation, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zu ihrem Auto. Der Wind wehte ihr das nasse Haar ins Gesicht, wo es auf ihren Wangen kleben blieb. Sie war nass bis auf die Haut und zitterte am ganzen Körper. All das für nichts. Es würde eine langsame, dunkle Fahrt den Berg hinunter werden.
Sie drehte den Schlüssel um. Ihr Bauch krampfte, als der Motor nicht beim ersten Versuch ansprang. Und beim zweiten auch nicht. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, die ihre Aufmerksamkeit weckte – Noah, der wieder auf dem Weg zur Weide war und nichts von ihrer steigenden Besorgnis ahnte.
„Komm schon, Kleiner, du kannst es doch.“ Sie versuchte es wieder. Diesmal gab der Motor nur ein leises Klicken von sich. Ihr Herz setzte aus. „Nein. Nein, nein, nein.“ Das war ein neues Geräusch, und vermutlich kein gutes. Sie schlug mit dem Handballen aufs Lenkrad.
Nach ein paar weiteren vergeblichen Versuchen lehnte sie sich im Sitz zurück und gab auf. Ihre Augen tasteten die Dunkelheit nach Noah ab, aber bis er mit zwei Pferden an der Hand wiederkam, waren zwanzig Minuten vergangen.
Der Eisregen brannte wie Stiche auf ihrer Haut, als sie auf ihn zu rannte. Blinzelnd krümmte sie sich gegen den Wind zusammen. In ihrer Eile rutschte sie auf dem eiskalten Boden aus und konnte sich gerade noch fangen.
Sie sah, wie er sie bemerkte. Sein Rücken streckte sich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was machst du denn immer noch hier?“, brüllte er über den Wind.
„Mein Wagen springt nicht an.“
Er kam mit den Pferden im Schlepp zu ihr herüber und bat wortlos mit ausgestreckter Hand um die Schlüssel.
Mit zusammengekniffenen Lippen reichte sie sie ihm.
Er führte die Pferde in ihre Boxen und arbeitete zügig, während sie in einer schattigen Ecke der Scheune zitternd wartete.
Glaubte er wirklich, sie sei nicht imstande, einen Schlüssel umzudrehen? Oder vielleicht glaubte er, sie log. Vielleicht glaubte er, das sei eine Art Komplott, um bei ihm gut Wetter zu machen. Ha.
Er ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei in den peitschenden Schneeregen. Als er ihr Auto erreichte, öffnete er die Tür und stieg ein, wobei er möglicherweise mit dem Knie gegen das Lenkrad stieß. Ein Fuß blieb fest auf dem Boden.
Wartend sah sie ihm unter dem Vordach der Scheune zu, aber er steckte den Schlüssel noch nicht einmal ins Zündschloss. Er saß einfach nur da und starrte aus dem Fenster. Sogar von hier aus konnte sie sehen, wie sich sein Brustkorb heftig hob und senkte.
Das Licht im Wageninneren beschien sein Gesicht, akzentuierte seine markanten Wangenknochen und die feine Linie seiner Nase.
Sie zog die Schultern hoch und flitzte über den Hof, um an der offenen Autotür anzuhalten. „Was machst du?“
Er sagte nichts. Die Muskeln in seinem Gesicht verkrampften sich.
„Willst du es nicht versuchen?“ Früher war sie gut darin gewesen, seine Gedanken zu lesen. Aber das war zu Zeiten, als er sie noch angeschaut hatte, als sich seine Gefühle noch offen auf seinem Gesicht gezeigt hatten. Jetzt waren da nur noch tote Augen und eine unbeschriebene Tafel.