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Plötzlich wurde ihr die Kehle eng, und ihr kamen die Tränen. „Du solltest mich eigentlich noch gar nicht sehen“, sagte sie mit erstickter Stimme.
Er hätte sie doch erst sehen sollen, wenn sie im Mittelgang der Kirche zum Altar schritt, wo er mit Staunen im Blick auf sie wartete. Darauf hatte jede Braut ein Recht. Sie hatte sich sogar gewünscht, dass am Altar das Licht richtig hell eingestellt würde, damit sie seinen Gesichtsausdruck auch wirklich gut sehen konnte.
Als sie jetzt daran dachte, runzelte sie wieder die Stirn. Die Kirche, in der die Trauung stattfinden sollte, war doch in Summer Harbor – und sie war in Portland. Das war alles so verwirrend. Sie massierte sich die Schläfen und sagte nach einer Weile: „Ich bin wohl ein bisschen durcheinander.“
„Wo hast du dir denn den Kopf gestoßen?“, fragte er.
„Auf der Damentoilette“, antwortete sie und deutete hinter sich. „In dem Lokal dort. Der Fußboden war nass, und ich bin wahrscheinlich … ausgerutscht.“
„Ich meine, wo am Kopf du dich gestoßen hast“, erklärte er.
„Ach so. Hier“, antwortete sie, nahm seine Hand und legte sie vorsichtig auf die Beule.
„Na, da hast du dir ja ein ganz schönes Ding eingefangen. Warst du bewusstlos?“, fragte er mit zusammengepressten Lippen.
„I … ich weiß es gar nicht. Ich glaube schon. Vielleicht?“ Nicht einmal daran konnte sie sich erinnern!
Er zog seine Hand wieder weg, und sofort vermisste sie die beruhigende Berührung. Wieso wollte er sie nicht anfassen? Wieso hielt er sie nicht einfach fest? Sie brauchte Trost, merkte er das denn nicht?
„Lucy … du bist bewusstlos gewesen, dir ist immer noch schwindelig, und du hast Erinnerungslücken. Du musst das abklären lassen.“
„Bitte nicht …“, flehte sie ihn an, und ihr kamen wieder die Tränen.
„Es muss sein. Ich komme auch mit“, sagte er.
Aber wo war die Wärme in seiner Stimme geblieben? Wo seine zärtlichen Berührungen?
„Und was ist mit der Hochzeit?“, fragte sie. „Wir müssen doch den Leuten zu Hause Bescheid sagen. Ich kann gar nicht fassen, dass mir so etwas passiert.“ Ihr Atem ging jetzt in kurzen, heftigen, schnellen Stößen.
„Beruhige dich doch, Lucy. Du musst langsamer atmen, sonst hyperventilierst du und fällst wieder in Ohnmacht. Glaubst du, dass du es bis zu meinem Wagen schaffst?“
Sie wollte in kein Krankenhaus!
Bitte, Gott, tu mir das doch nicht an!
Sie wollte einfach nur nach Hause ins Bett und sich die Decke über den Kopf ziehen, wollte von Zac ins Bett gebracht werden, so, wie er es manchmal tat, wenn sie völlig geschafft war. Und in diesem Moment war sie wirklich völlig geschafft.
„Kannst du gehen, Lucy?“, fragte er jetzt und klang dabei so ungehalten und genervt, dass es sich für sie anfühlte, als stieße er ihr einen Dolch in die Brust.
„Ich will aber in kein Krankenhaus“, wiederholte sie noch einmal und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme dabei bebte.
„Doch“, entgegnete er. „Es muss sein, und ich bringe dich jetzt dorthin.“
Sie wiegte sich vor und zurück, wie, um sich selbst zu beruhigen, aber es funktionierte nicht. Sie wusste ja, dass er recht hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Wenn Zac bei ihr blieb, würde sie es schon schaffen … oder?
„Bringst du mich danach nach Hause?“, fragte sie zaghaft.
„Ja“, versprach er.
Sie versuchte die Erinnerungen an damals auszuschalten, aber sie kamen trotzdem wieder hoch. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, das Piepsen der Überwachungsgeräte, der kalte, sterile Boden – und ihre Mama, oder das, was noch von ihr übrig war, still und blass in dem Bett.
„Könntest du nicht jemanden herholen, um mich zu untersuchen?“, versuchte sie es noch einmal und sah ihn hoffnungsvoll an. „Den netten Rettungssanitäter von vorhin vielleicht.“
„Wir sind in Portland, Lucy. Ich kenne hier niemanden.“
„Ach ja …“
„Und genau das ist auch der Grund, weshalb du dich untersuchen lassen musst. Du weißt ja noch nicht einmal, wo du bist, um Himmels willen.“
Sein Ton war so barsch, dass sie wieder zusammenzuckte und ihr die Tränen kamen. Er klang verärgert, so als interessierte es ihn kein bisschen, was mit ihr los war, dass sie vielleicht eine Hirnblutung hatte und jeden Moment tot umfallen konnte!
Er stand auf und sagte: „Es muss sein, Lucy. Also komm, lass uns fahren.“ Und dann hob er sie mitsamt ihrem bauschigen Brautkleid hoch, zwar behutsam, aber kein bisschen liebevoll, sondern irgendwie steif und mechanisch. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und schloss die Augen. Vielleicht war dieser Albtraum ja vorüber, wenn sie wieder aufwachte.

DREI
Zac stützte die Ellbogen auf seine Knie und schaute zu, wie die Schwester Lucy den Venenzugang herauszog. Sie hatten ihr etwas für den Magen gegeben, etwas gegen die Kopfschmerzen und auch etwas zur Beruhigung. Lucys Augen waren geschlossen, und ihre Stirn war nicht mehr ganz so angespannt, seit die Medikamente zu wirken begannen.
Die Schwester ging wieder, und Zacs Blick glitt über Lucys Gesicht – ihre zarten geschwungenen Augenbrauen, die helle Haut und ihren roten Kussmund. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, hatte immer noch dieselben verletzlichen blauen Augen, die an ihm zerrten, ihn richtiggehend wie an einer Schnur mit Haken zu sich hinzogen. Sie hatte die Haarspangen aus ihrem langen dunklen Haar gezogen, das ihr jetzt in üppigen Wellen über die Schultern fiel und einen Teil des hässlichen Krankenhausnachthemdes verdeckte. Wie froh war er gewesen, als sie endlich nicht mehr das Brautkleid anhatte!
Das Brautkleid. Als er sie dort am Hafen in dem Brautkleid auf der Bank hatte sitzen sehen, hätte er sich beinah wieder umgedreht und wäre gegangen. Es war erst sieben Monate her, dass sie verschwunden war. Wie hatte sie es nur geschafft, sich so schnell wieder zu verlieben und sogar zu verloben? Vielleicht war sie ja auch schon vorher verliebt gewesen. Vielleicht war das sogar der Grund, weshalb sie ihn verlassen hatte. Dieser Gedanke fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
Er lehnte sich auf dem Stuhl neben ihrer Liege zurück und verschränkte mit gerunzelter Stirn die Arme vor dem Körper.
Was, um Himmels willen, machte er hier eigentlich? Sie hatte einen Bräutigam, den sie liebte, und irgendwo in einer Kirche waren Menschen versammelt, die sich fragten, wo sie blieb.
Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Was hatte sie unmittelbar vor ihrer Trauung allein auf der Damentoilette eines kleinen Restaurants zu suchen gehabt?
Lucy war nicht die Einzige, die Fragen hatte.
Doch seine Fragen musste er fürs Erste beiseitestellen. Gleich würde auch noch ein Arzt kommen und jede Menge Dinge wissen wollen. Lucy hatte alle Formulare und Fragebögen selbst ausgefüllt und beim Aufschreiben ihrer Adresse ohne zu zögern die ihrer Wohnung in Summer Harbor notiert.
Sie hatte offenbar keine Ahnung über das Ausmaß ihres Gedächtnisverlustes, und auch, wenn sie ihn dermaßen hatte hängenlassen kurz vor der Hochzeit, hatte er das Gefühl, sie beschützen zu müssen, indem er ihr alles möglichst schonend beibrachte.

Lucys Augenlider öffneten sich flatternd. Es ging ihr schon viel besser. Wie gut, dass es wirksame Medikamente gab. Sie hatte ein bisschen das Gefühl zu schweben, aber das gefiel ihr eigentlich ganz gut. Jedenfalls war es besser als diese Panik, die den ganzen Körper erfasst hatte.
Ihr Blick ging zu Zac, der vornübergebeugt auf dem Stuhl neben ihrem Bett saß. Gott sei Dank, er war noch da. Doch obwohl sie nicht richtig klar sehen konnte, bemerkte sie seine finstere Miene, und das tat ihr weh. Er war sonst immer so lieb, zärtlich und beschützend zu ihr gewesen.
„Warum bist du eigentlich wütend auf mich?“, fragte sie ihn jetzt flüsternd.
Er blickte mit einem Ruck auf, und seine Miene wurde weicher. „Geht es dir besser?“ „Ja, viel besser.“
„Gut“, sagte er. Dann stand er auf und ging auf der Längsseite des Zimmers auf und ab.
Er war sehr groß, hatte breite Schultern und überragte sie mit seinen 1,95 Metern um mehr als einen Kopf. Wenn er sie in die Arme schloss, fühlte sie sich auf eine Weise geborgen und geliebt, wie sie es nicht mehr erlebt hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Seine souveräne Art konnte einen ganzen Raum einnehmen, was im Moment auch tatsächlich der Fall war, weil er immer wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging.
Irgendwann blieb er stehen, sah sie an und sagte: „Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen musst, Lucy.“
Sie zog sich die Bettdecke hoch bis ans Kinn und fragte: „Was denn?“
„Diese … Hochzeit“, setzte er an und zeigte auf das Brautkleid, das an einem Bügel im offenen Schrank hing. „Also, das waren nicht wir beide, die da geheiratet haben.“
Sie blinzelte wieder, um ihn etwas deutlicher zu sehen und zu begreifen, was er da gerade gesagt hatte. „Was um Himmels willen willst du denn damit sagen?“, fragte sie völlig entgeistert.
Er holte tief Luft und erklärte dann ganz schnell: „Wir sind nicht mehr zusammen, Lucy.“
Wieso sagte er denn so etwas? Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihr kamen die Tränen, und sie hatte einen dicken Kloß im Hals.
„Schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst, aber der Arzt wird dir Fragen stellen, und du musst einfach wissen, dass du eine ziemlich große Erinnerungslücke hast.“
Sie fühlte sich, als ob dort, wo sonst ihr Herz war, ein riesiges schwarzes Loch klaffte. Das konnte unmöglich sein. Auf gar keinen Fall hatten sie sich getrennt. Zac liebte sie doch und sie ihn auch – sehr sogar.
Deshalb schüttelte sie nur immer wieder den Kopf und sagte: „Nein.“
Er kam näher ans Bett heran, blieb unmittelbar davor stehen, die Hände in den Hosentaschen, und sagte: „Doch, es ist so. Du hast eine Erinnerungslücke von mindestens sieben Monaten.“ Auch das sagte er in diesem furchtbar sachlich-nüchternen Tonfall, den sie schon immer schlimm gefunden hatte.
„Warum tust du das?“, fragte sie und musste ein Aufschluchzen unterdrücken.
„Weil du es wissen musst, und auch der Arzt muss es wissen, damit er herausfinden kann, was …“
Sein Blick blieb plötzlich bei der Zeitung hängen, die er am Kiosk gekauft hatte. Er nahm sie in die Hand und fragte: „Welches Datum haben wir heute, Lucy?“
„Heute ist … es ist … ich weiß es nicht. Der Tag unserer Hochzeit, also der 17. November.“ Daraufhin schaute sie ihm lange in die Augen. Beide sagten sie nichts, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schutzlos und verwundbar gefühlt hatte.
„Wir haben gerade eben draußen am Hafen gesessen, Lucy. Hat sich das für dich wie November angefühlt?“
Sie überlegte angestrengt, konnte sich aber schon nicht mehr daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Hatte sie gefroren?
„Es ist nicht November, Lucy, sondern Juni.“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte unmöglich sein. Sie hatte doch gerade ihre Wohnung für Thanksgiving dekoriert. Sie hatte die festliche Tischdecke herausgeholt und die braunen Kerzen und den großen Plüschtruthahn, der Truthahngeräusche machte, wenn man ihm auf den Bauch drückte. Den hatte Zac ihr vor ein paar Tagen geschenkt, und sie hatten beide so gelacht über das alberne Geräusch.
Er hielt ihr jetzt die Zeitung vor die Nase, und sie musste sich richtig anstrengen, um das Datum darauf zu erkennen. Es war der 15. Juni eines Jahres, an dessen Beginn sie sich nicht einmal erinnerte.
In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr wurde heiß, und sie merkte, wie ihr im Nacken der Schweiß ausbrach. Sie wünschte, die Schwester würde kommen und die Dosis ihres Medikamentes gegen die Panik verdoppeln, denn allem Anschein nach ließ die Wirkung gerade nach.
„Jetzt beruhige dich doch …“, sagte Zac.
„Mir fehlen sieben Monate? Sieben Monate?“ Bei diesem Gedanken wurde ihr noch schwindeliger. Was war in diesen sieben Monaten passiert?
Ihr wurde eng um die Brust, und sie massierte die Stelle mit der Hand, wo es richtig wehtat. „Wir haben Schluss gemacht?“, fragte sie noch einmal ungläubig.
„Ja“, antwortete er darauf nur kurz und knapp.
Er war das Einzige, was in ihrem Leben jemals richtig gut gelaufen war, das Einzige, ohne das sie nicht leben konnte. Ihr Blick fiel auf das Brautkleid.
„Aber wenn wir gar nicht mehr zusammen sind, wieso habe ich denn dann ein Brautkleid angehabt? Kannst du mir das sagen?“
Sein Mund war schmal wie ein Strich, als er antwortete: „Nein, ich weiß es nicht.“
„Aber das kann nicht sein. Du denkst dir das alles doch nur aus, oder?“
„Warum sollte ich das denn tun, Lucy?“, entgegnete er mit beinah tonloser Stimme.
„Wir sind doch verlobt!“, brach es aus ihr heraus.
„Sind wir das wirklich, Lucy? Wo ist denn der Ring, den ich dir gegeben habe?“
„Na hier“, antwortete sie, hielt ihre Hand hoch und sah den Ring, den sie am Finger hatte, zum ersten Mal. Einen Ring mit einem Diamanten, und zwar einem sehr großen – jedenfalls nicht der Verlobungsring von Zac.
Sie stieß eine Art Wimmern aus und wurde wieder von Panik erfasst. „Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie verzweifelt.
In dem Moment kam ein Pflegehelfer herein und sagte: „So, ich bringe Sie jetzt in die Radiologie zum CT.“ Er arbeitete schnell und umsichtig, kontrollierte noch einmal Lucys Personalien und kümmerte sich um die Infusion, bevor er das Bett in Bewegung setzte.
Lucy drehte sich noch einmal zu Zac um, und ihre Blicke begegneten sich. Reglos und mit versteinerter Miene stand er da, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Und dann war er genau so schnell verschwunden wie ihr Gedächtnis.

VIER
„Was ist denn das Letzte, woran Sie sich erinnern, Miss Lovett?“
Es war Mitternacht, und der Arzt stellte ihr jetzt seit etwa zehn Minuten Fragen, aber ihre Gedanken waren so verschwommen. Das CT sei in Ordnung, und auch sonst sähe alles gut aus, hatte er gesagt. Aber wieso konnte es gut aussehen, wenn es das doch eindeutig nicht war?
Der Arzt war etwa Mitte dreißig, hatte wirres dunkles Haar, blaue Augen und trug eine Nickelbrille. Irgendwie hatte er Ähnlichkeit mit Harry Potter. Wie konnte es sein, dass sie sich an Harry Potter erinnerte, aber nicht an den Verlust des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte? Wie konnten ihr sieben Monate ihres Lebens einfach fehlen? Sie hatte einen Freund – sogar einen Verlobten –, an den sie sich nicht erinnern konnte. Was hatte sie in den letzten sieben Monaten gemacht? Wo hatte sie gelebt?
„Lucy …?“, sprach Zac sie jetzt mit leichter Ungeduld an. „Das Letzte, woran du dich erinnerst.“
Sie räusperte sich und dachte intensiv nach. „Also, wir sind vom Roadhouse – Zacs Restaurant – zu Fuß nach Hause gegangen. Es war kalt. An der Haustür haben wir uns voneinander verabschiedet.“
Ganz plötzlich blitzte eine Erinnerung auf, und sie sah Zac an. „Du hast noch den Kürbis hochgehoben, der als Deko vor der Haustür steht, und hast getan, als könnte er reden.“
Sie hatte gelacht über seine Mätzchen und war erleichtert gewesen, wenigstens wieder ein bisschen den Zac zu erleben, den sie kannte. Seit dem Tod seines Vaters wirkte er eigentlich ständig bedrückt.
Er hatte den Kürbis wieder hingestellt, sie in die Arme genommen und gesagt, er könne es gar nicht erwarten, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen.
Jetzt suchte sie seinen Blick und sah darin, dass auch er sich daran erinnerte, aber er schaute ganz schnell weg.
„Wie lange ist das her?“, fragte der Arzt Zac, ohne zu merken, wie angespannt die Atmosphäre im Raum war.
„Das war Ende Oktober“, antwortete Zac.
Der Arzt klappte die Patientenkarte zu und sagte dann: „Also … Sie haben offenbar eine schwere Gehirnerschütterung erlitten mit einer retrograden Amnesie. Das heißt, die Ursache für ihren Gedächtnisverlust ist eine Kopfverletzung.“
„Wird ihre Erinnerung zurückkommen?“, fragte Zac.
Der Arzt zuckte mit den Schultern und antwortete: „Das ist möglich, aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Das ist von Fall zu Fall verschieden. Manchmal hilft es, wenn die betroffene Person sich in einer vertrauten Umgebung aufhält, in Gesellschaft von Menschen, die sie kennt. Manchmal hilft aber auch das nicht. Ich würde sie gerne eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten …“
„Nein, Doktor“, widersprach Lucy vehement. Sie konnte gar nicht schnell genug hier wegkommen. „Ich möchte nicht bleiben. Ich muss nach Hause. Sie haben doch gesagt, das CT sei in Ordnung, oder?“
„Ja, völlig normal. Und ich habe auch nichts dagegen, Sie nach Hause zu entlassen, aber nur, wenn in den nächsten 24 Stunden sichergestellt ist, dass jemand bei Ihnen ist.“
Sie warf Zac einen flehenden Blick zu. Nicht einmal große Mengen Beruhigungsmittel hätten sie dazu bringen können, hierzubleiben.
Zacs Blick wurde wieder angespannt, und ein Muskel an seinem Kinn zuckte. „Also gut“, sagte er schließlich.
„Sie müssen Sie heute Nacht alle zwei Stunden wecken. Sie braucht viel Ruhe und darf sich nicht anstrengen, bis die Symptome wieder weg sind. Ich verschreibe ein Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen und etwas gegen die Übelkeit. Die Schwester gibt Ihnen noch ein paar Verhaltensrichtlinien mit auf den Weg, und bitte vereinbaren Sie unbedingt einen Kontrolltermin bei Ihrem Hausarzt.“
„Und was ist mit meinem Gedächtnis?“, fragte Lucy. „Wird es zurückkommen?“
Der Blick des Arztes ging erst zu Zac, dann wieder zu ihr, und daraufhin sagte er: „Wir müssen abwarten. Versuchen Sie, sich darüber keine allzu großen Sorgen zu machen, sondern ruhen Sie sich aus, und schonen Sie sich.“
Als der Arzt gegangen war, presste sich Lucy die Fingerspitzen gegen die Stirn und fragte verzweifelt: „Ich soll mir keine Sorgen darüber machen, dass ich mich nicht an die letzten sieben Monate meines Lebens erinnern kann?“
„Wenn du dich aufregst, nützt es doch auch nichts“, sagte Zac nur.
„Du hast gut reden! Du bist ja auch nicht derjenige, in dessen Leben eine riesige Lücke klafft.“ Oder der jemanden liebte, der sie offensichtlich hasste.
Zac ließ sich in den Sessel neben der Liege sinken und versuchte, sie zu beschwichtigen: „Wenigstens brauchst du nicht hierzubleiben. Wir holen jetzt die Rezepte für die Medikamente bei der Schwester ab und suchen uns dann ein Hotel in der Nähe. Morgen früh versuche ich dann herauszubekommen, wo du hier in Portland wohnst, und setze mich mit deinen … Freunden in Verbindung.“
Entsetzt richtete sich Lucy auf und sagte: „Aber du hast versprochen, dass du mich nach Hause bringst.“
Daraufhin schaute Zac sie nur ganz ruhig an und erklärte: „Damit habe ich dein jetziges Zuhause gemeint.“
„Aber an das Zuhause kann ich mich ja nicht einmal erinnern! Und auch nicht an die Menschen dort. Ich möchte wieder mit dir zurück nach Summer Harbor.“ „Lucy, das geht …“
„Das hier ist nicht mein Zuhause. Ich kann mich hier an absolut gar nichts erinnern!“, unterbrach sie ihn mit Nachdruck.
„Na ja, das könnte sich doch wieder ändern. Vielleicht wachst du ja morgen früh auf, und alles ist wieder da“, erklärte er.
„Oder meine Erinnerung an das, was in dieser Zeit passiert ist, kommt nie wieder.“
Da flackerte etwas in Zacs Blick auf, das sie unbedingt brauchte. Ganz tief in seinem Innern hatte er immer noch das Gefühl, für sie verantwortlich zu sein, oder? Nach all dem, was sie gemeinsam gehabt hatten.
„Bitte, Zac, nimm mich mit nach Hause, wo ich hingehöre.“ Wieder kamen ihr die Tränen, und als sie sie unterdrückte, bahnten sich ihre Empfindungen einen Weg über ihre Zunge. „Du musst mich mit nach Hause nehmen. Ich liebe dich doch“, sagte sie.
Da wurde sein Blick hart, und er entgegnete: „Sag das nicht, Lucy.“
„Aber es ist wahr!“, versicherte sie.
„Das meinst du nur, Lucy. Du hast hier ein neues Leben, einen Job, ein Zuhause und einen Verlobten, der wahrscheinlich völlig außer sich ist vor Sorge.“
„Aber ich kann mich an nichts von alledem erinnern! Ich erinnere mich nur an Summer Harbor, an meine kleine Wohnung und an dich.“ Ihre letzten Worte erstarben ihr auf den Lippen.
Zac sprang mit einem Ruck auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ging ein Stück von ihr weg. Er würde sie nicht hängenlassen. Nicht der Zac, den sie kannte. Oder vielleicht doch? Er stand mit angespannten Schultern und dem Gesicht zur Wand da.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis er sich schließlich umdrehte und sagte: „Also gut.“
Sie war ganz froh, dass sie seinen Blick dabei nicht sehen konnte, dazu war er zu weit entfernt. Aber ihre Phantasie füllte die Lücken in ihrer Erinnerung schon viel zu gut aus.
„Ich nehme dich wieder mit“, sagte er. „Aber wir versuchen herauszufinden, was passiert ist, und zwar unabhängig davon, ob dein Gedächtnis wiederkommt oder nicht. Dein Leben ist jetzt hier und nicht mehr in Summer Harbor.“
Nicht mehr bei mir.
Diese unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen und verschlugen ihr den Atem. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder hierher zurückkommen oder Zac verlassen wollte, aber sie war klug genug, sich erst einmal mit dem zufriedenzugeben, was er ihr anbot, und sein Verantwortungsgefühl nicht überzustrapazieren.
„Also gut, in Ordnung“, sagte sie deshalb.
Sie würde wieder nach Summer Harbor zurückkehren, herausfinden, was dort schiefgelaufen war, und es wieder in Ordnung bringen, denn sie wusste, dass sie niemals jemanden so lieben würde wie Zac Callahan.

FÜNF
Zac bog auf den Harbor Drive und fuhr dann auf der zweispurigen Küstenstraße weiter. Die Scheinwerfer seines Silverado durchdrangen die Dunkelheit und beleuchteten den Weg vor ihnen, aber er hatte den gesamten Rückweg nach Summer Harbor eigentlich nichts richtig wahrgenommen.
Es war halb vier morgens, und Lucy schlief schon eine ganze Weile. Sie trug viel zu große Sachen aus dem Fundus des Krankenhauses. Das Brautkleid hatte er auf die Rückbank gestopft.
Als sie durch Ellsworth gefahren waren, hatte er gespürt, wie sie sich ein bisschen bei ihm angelehnt hatte, und inzwischen lag ihr Kopf schwer an seinem rechten Arm. Der vertraute Apfelduft ihres Shampoos lag in der Luft, sodass er sich in die Zeit zurückversetzt fühlte, als sie noch zusammen gewesen waren.
Sie drehte ihr Gesicht noch weiter zu ihm hin, schmiegte sich enger an ihn und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Komm schon, Gott. Ich bin auch nur ein Mann. Was soll denn das? Wieso kommt sie jetzt wieder zurück in mein Leben?
Noch vor zwölf Stunden hatte er sich nur um seinen eigenen Alltag gekümmert, sich bereit gemacht für einen hektischen und arbeitsreichen Abend im Roadhouse, und jetzt brachte er seine Ex-Verlobte wieder mit nach Hause.
Er nahm die letzte Kurve und bremste ab, als das Roadhouse in Sicht kam. Sein Blick ging hinauf zu seiner dunklen Wohnung in der ersten Etage, als er auf dem Parkplatz vor dem Lokal anhielt und den Motor ausstellte.