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„Was ist denn passiert?“, fragte sie.
Zac nahm einen Lappen und begann damit den Tresen abzuwischen. „Du bist einfach gegangen, das ist passiert.“
„Was soll das heißen … ich bin einfach gegangen?“
„Du warst aus heiterem Himmel und ohne eine Erklärung plötzlich weg.“
Ihr Kopf wollte einfach nicht glauben, was er da gerade gesagt hatte. Sie bekam keine Luft und brachte nur ein völlig schockiertes „Nein!“ heraus.
„Doch“, widersprach er. „Ich war übers Wochenende weg, und als ich zurückgekommen bin, warst du nicht mehr da.“ Seine Stimme war jetzt belegt. „Du hast nicht einmal eine Nachricht hinterlassen und sofort deine Handynummer geändert. Ich hatte keine Ahnung, wo du warst. Den Ring hast du allerdings dagelassen. Vielen Dank dafür übrigens.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Unmöglich. So etwas würde ich doch niemals tun.“ Sie liebte Zac, und es war die Art von Liebe, für die man lebte – und die Art, für die man auch bereit war zu sterben. Das musste er doch wissen!
Irgendetwas war passiert. Da musste noch mehr sein. „Was erzählst du mir nicht?“, fragte sie.
Er fixierte sie mit seinem Blick und antwortete: „Ich sage dir alles, was ich weiß. Und mir ist genauso sehr bewusst, dass das herzlich wenig ist.“
Das Essen gerann in ihrem Magen zu einem festen Klumpen, und sie schob ihren Teller von sich weg.
Er stand jetzt am Herd und wählte sorgfältig seine Worte: „Als ich dich nicht mehr erreichen konnte, habe ich gedacht, dass es aus wäre zwischen uns und du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Ich habe die Floristin und den Fotografen wieder abbestellt, und auch die Hochzeitstorte, und dann habe ich jeden der geladenen Gäste von der Gästeliste angerufen und gesagt, dass die Hochzeit abgesagt sei.“
Von ihrer Mitte her breitete sich ein tiefer Schmerz aus, und in ihren Augen brannten Tränen. Wie furchtbar! Aber sie konnte ihn doch unmöglich einfach so abserviert haben. Das hätte sie ihm niemals angetan. Doch nicht Zac!
„Aber das hast du.“
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Ihr Gesicht war inzwischen ganz heiß geworden, so als hätte sie zu lange in der Sonne gesessen.
„Da muss etwas … ich weiß nicht, wie … das ergibt alles irgendwie keinen Sinn.“
„Na, dann sind wir ja schon zwei, die es nicht verstehen“, sagte Zac, warf den Lappen zurück in die Spüle, wandte sich ihr wieder zu und holte einmal tief Luft. Und dann noch einmal. Sein Brustkorb hob und senkte sich, und sie bekam eine Ahnung, wie heftig der Schmerz sein musste, den sie ihm zugefügt hatte.
Kein Wunder, dass er sie so anders behandelte. Kein Wunder, dass sein Bruder so wütend auf sie war. Er wollte Zac nur schützen. Sie hätte am liebsten weitergeleugnet, was er da gesagt hatte. So sehr, wie sie Zac liebte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie ihn so hatte sitzenlassen.
Aber dann erinnerte sie sich an andere Situationen, lange bevor sie Zac kennengelernt hatte, in denen sie sich genauso verhalten hatte – einfach weggegangen war. So war sie gewesen. In anderen Zeiten, als ihre Gefühle für Zac sie bis ins Mark geängstigt hatten.
Sie beobachtete, wie er langsam seine Fassung zurückgewann, und wäre am liebsten zu ihm hinübergegangen, um ihn zu trösten. Sie wünschte sich, dass er sie auf den Tresen hob, als würde sie nichts wiegen. Sie wollte ihn küssen, bis all sein Schmerz weg war, bis sie beide vergessen hatten, was passiert war.
Aber er wollte weder ihren Trost noch ihre Küsse.
„Ich … ich kann gar nicht glauben, dass ich das getan haben soll. Aber wenn es so ist …“
„Das ist so“, unterbrach er sie.
„Dann tut es mir schrecklich leid. Es kommt mir völlig unwirklich vor. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich liebe dich, Zac.“
Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und sein Kinn bebte. „Sag das bitte nicht mehr. Das nützt jetzt niemandem.“
Sie blinzelte ein paar Tränen weg und erklärte: „Aber es ist wahr. Ich fühle mich immer noch, als ob in ein paar Tagen unsere Hochzeit ist. Ich möchte immer noch den Rest meines Lebens nur mit dir verbringen.“
Vor Anspannung wurde sein Mund zu einer dünnen Linie. „Wenn dein Gedächtnis wieder da ist, wirst du das nicht mehr wollen. Du warst nämlich drauf und dran, einen anderen Mann zu heiraten – schon vergessen?“
Die Sehnen an seinem Hals standen vor, sein Unterkiefer war völlig verspannt, und sein Blick war verschlossen. „Hör zu, lass uns jetzt lieber überlegen, wie wir an die Informationen kommen, die wir brauchen, damit du wieder zurückkannst in dein Leben, zu deinem Job und deinem …“
Verlobten.
Seine Lippen wurden noch schmaler, als er ihren Teller und ihr Glas nahm und beides ebenfalls in die Spüle stellte. „Ich bin im Büro. Vielleicht solltest du dich jetzt lieber ein bisschen ausruhen“, sagte er.

SIEBEN
Zac legte den Kopf an die Lehne seines Schreibtischstuhls und kämpfte gegen den heftigen Drang, seinen Laptop quer durch den Raum zu schleudern.
Dass die Recherche so schwierig werden würde, hätte er nicht gedacht. Es war doch nur eine Hochzeit, Himmelherrgott. Und Hochzeiten mussten doch öffentlich gemacht werden, weil es sich dabei um einen öffentlichen Akt handelte. Doch er konnte auf keiner einzigen Webseite in ganz Portland irgendeinen Hinweis auf Lucys Hochzeit finden. Er hatte ihren Namen in den beiden großen Tageszeitungen in Portland gesucht, ihn unter den Stichworten Hochzeiten und Verlobungen gegoogelt und auch in den sozialen Netzwerken nachgeschaut, ob sie sich in den vergangenen sieben Monaten irgendwo angemeldet hatte, aber ohne Erfolg.
Natürlich ohne Erfolg! Schließlich war es ja ihre Absicht, nicht von dir gefunden zu werden.
Er holte einmal tief Luft und atmete dann ganz langsam wieder aus. Dabei ging sein Blick hinüber zum Sofa, wo Lucy den Kampf gegen ihre Müdigkeit aufgegeben hatte. Es hatte ihm gar nicht gepasst, dass sie ihm vor einer Weile in sein Büro gefolgt war, um bei seiner Recherche dabei zu sein. Für ihn war es wichtig, so viel Abstand wie möglich zu ihr zu halten, und das machte sie ihm wirklich nicht leicht, wenn sie ihn mit ihren sanften blauen Augen ansah und Dinge sagte, nach denen er sich so gesehnt hatte, seit sie fortgegangen war.
Sie war unfähig, sich zu verstellen, sodass er in ihrer Miene und Körperhaltung lesen konnte wie in einem offenen Buch. Er sah die Schuldgefühle in ihrem Blick, und ihre hängenden Schultern signalisierten Bedauern. In der Küche hatte sie erst ihre Arme nach ihm ausgestreckt, als wollte sie ihn trösten, sie aber dann genauso schnell wieder sinken lassen. Zum Glück.
Wie oft hatte er die Tage unmittelbar vor ihrem Verschwinden rekapituliert und versucht, einen Grund dafür zu finden. Sicher, er hatte damals wirklich den Kopf voll gehabt mit anderen Dingen, und für sie waren kaum Zeit und Aufmerksamkeit übrig geblieben. Hatte er sie dadurch vergrault? Oder hatte sie ihn im Grunde nie richtig geliebt? Auf diese Fragen würde er nur dann eine Antwort bekommen, wenn ihr Gedächtnis zurückkam.
Sie gab ihm aus dem Hintergrund immer wieder leise Tipps für seine Recherche, aber er merkte genau, dass sie hin- und hergerissen war. Sie wollte ihm zwar helfen, machte aber auch keinen Hehl daraus, dass sie es absolut nicht eilig hatte, wieder zurück nach Portland zu kommen.
Wirklich schade. Vor sieben Monaten hatte sie genau das gewollt, nur weg aus Summer Harbor. Er würde also alles tun, um herauszufinden, wo sie jetzt wohnte, und sie dann zurück nach Portland bringen.
Entschlossen machte er sich wieder an die Arbeit und versuchte, ihre leisen Schlafgeräusche zu ignorieren. Die Verletzung und die Medikamente sorgten dafür, dass sie sofort einschlief, sobald sie sich irgendwo niederließ – im Moment mit dem Kopf an der Sofalehne unter der Flickendecke, unter der sie auch in der vergangenen Nacht geschlafen hatte. Sie lag ganz klein zusammengerollt da, als fröre sie. Was sollte er nur tun?
Mit gerunzelter Stirn nahm er die Recherche wieder auf.
Wo konnte er sonst noch ansetzen? Gab es etwas, woran er noch nicht gedacht hatte? Das Aufgebot vielleicht. Das musste doch eigentlich irgendwo veröffentlicht sein, oder? Er suchte weiter und schöpfte neue Hoffnung, als er herausfand, dass es tatsächlich so war. Aufgebote wurden auch im Netz veröffentlicht.
Er scrollte rasch auf der Seite ganz nach unten zu den Links der einzelnen Countys und überflog die Liste einmal, dann noch einmal, aber das County Cumberland war nicht dabei. Es bot diesen Online-Service also nicht an. Wieder sank ihm der Mut. Wieso gab es nur so viele Hindernisse bei dieser Suche?
Er würde also warten müssen, bis das Standesamt des Countys morgen geöffnet hatte und er dort anrufen konnte. Dann würde er den Namen von Lucys Verlobtem erfahren und den Kerl ausfindig machen. Diese Verzögerung gefiel ihm gar nicht, aber vielleicht würde er ja heute noch mehr in Erfahrung bringen.
Sein Blick ging wieder hinüber zur schlafenden Lucy auf dem Sofa mit ihrem zerzausten Haar und den dunklen Wimpern, die so lang waren, dass sie auf den Wangen auflagen. Ihr Kopf ruhte auf ihrer einen Hand. Wie sie so dalag, sah sie unglaublich verletzlich aus. Sie war völlig verändert, seit er sie in Portland aufgelesen hatte, wirkte so verloren und durcheinander und sprach dadurch heftig seinen Beschützerinstinkt an. Doch es war nicht mehr seine Aufgabe, sie zu beschützen.
Jetzt regte sie sich im Schlaf, stöhnte leise und gab einen zarten Seufzer von sich. Wo war nur die zupackende, quirlige Lucy geblieben? Die Lucy, die schon in dem Moment, als sie damals das Lokal betrat, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte? Es kam ihm vor, als hätte die Zeit stillgestanden, als sie seine Welt betreten hatte, auch wenn es nicht so war.
Seine Brüder waren an diesem Abend alle im Roadhouse gewesen. Es war der erste warme Tag im Jahr. Jetzt konnte man langsam glauben, dass es tatsächlich Frühling wurde. Es lag eine fröhliche Stimmung in der Luft – fast so etwas wie Frühlingsjubel.
Die Red Sox hatten im Eröffnungsspiel die Phillies besiegt, und die Stadt war in Feierstimmung. Aus der Musikbox dröhnte Countrymusik, und ein paar Mutige tanzten auf der freien Fläche davor. Im Hinterzimmer fand gerade eine lautstarke Billardpartie statt, in der an diesem Tag gut besetzten Küche herrschte Hochbetrieb, und die Kellnerinnen flitzten mit lecker duftenden Tabletts voller Chicken Wings, Fischplatten oder Muschelsuppen durchs Lokal.
Bei dem ständigen Kommen und Gehen von Menschen und dem dadurch entstehenden Gewusel wusste er nicht einmal so genau, wieso er zum Eingang geschaut hatte, als sie das Lokal betrat. Das zarte, elfenhafte Gesicht war von dunklem Haar umrahmt und schien von innen zu leuchten. Sie trug enge Jeans, ein schwarzes Glitzertop, hochhackige Stiefel, in denen ihre Beine endlos wirkten, und eine strassbesetzte Tasche über der Schulter.
Er war zwar kein Modeexperte, aber für Summer Harbor war sie etwas zu edel gekleidet. Sie war allein, wirkte aber so selbstsicher, dass man den Eindruck hatte, es machte ihr nichts aus. Sie schien ganz zufrieden so.
Im Eingangsbereich blieb sie kurz stehen, überlegte offenbar, ob sie sich irgendwo hinsetzen sollte, und er wollte schon gerade hinter dem Tresen hervorkommen, um sie zu fragen, ob er ihr helfen könne, als er sah, dass Beau sie auf seinem Weg ins Billardzimmer abfing. Sie wechselten ein paar Worte, und dann setzte sie sich an einen kleinen Tisch auf der anderen Seite des Raumes.
In dem Moment brauchte eine Kellnerin seine Hilfe, sodass er eine Weile abgelenkt war, und dann musste er noch die Bestellung eines Gastes korrigieren, Getränke nachfüllen und im Billardzimmer ein verschüttetes Getränk aufwischen.
Als er das nächste Mal Zeit hatte, seinen Blick durchs Lokal schweifen zu lassen, war der Tisch, an dem sie gesessen hatte, leer. Die Enttäuschung darüber fühlte sich an wie ein Klumpen Blei im Bauch. Kurz darauf sah er sie dann aber auf der Tanzfläche, wo sie mit fließenden Bewegungen zu dem Song „Country Girl“ tanzte. Schön sah das aus. Sie war klein und kompakt, mit Kurven an den richtigen Stellen, und ihr zerzaustes Haar flog ihr um die Schultern.
Er mochte Frauen in allen Größen und Formen, aber weil er selbst so groß war, hatte er ein Faible für größere Frauen, am liebsten gertenschlank und mit kurzem Haar. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihm dadurch vielleicht etwas entging.
Mehrere Frauen aus dem Ort, die er kannte, tanzten in der Nähe der Unbekannten, und sie plauderte mit ihnen, als wären sie alte Freundinnen. Sie lächelte über etwas, was eine von ihnen gesagt hatte, und er bemerkte, dass sich dabei zwei allerliebste Grübchen auf ihren Wangen bildeten.
Er war fasziniert, und offenbar sah man es ihm an, denn Riley fragte ihn: „Na, hast du was Bestimmtes im Auge?“, und ließ sich auf einen leeren Barhocker vor ihm nieder.
Sein jüngerer Bruder war gebaut wie ein Panzer – mit einem gewaltigen Brustkorb und muskelbepackten Armen aus seiner Zeit als Hummerfischer. Mit nicht ganz 1,80 m war er allerdings auch der kleinste der drei Callahan-Brüder.
„Die ist süß, was?“, bemerkte Riley, als er dem Mädchen beim Tanzen zuschaute.
Der Begriff „süß“ wurde ihr allerdings nicht annähernd gerecht. Der schnelle Song war jetzt zu Ende, und es setzten die langsamen ersten Takte von „I Don’t Dance“ ein. Als Jared Watkins, ein ehemaliger Schulkamerad von ihm, die Unbekannte einfach in die Arme nahm und mit ihr zusammen weitertanzte, verspürte Zac einen Anflug von Ärger.
„Sie ist aus dem Süden“, sagte Riley wie nebenbei.
Zac riss sich von ihrem Anblick auf der Tanzfläche los und fragte: „Woher weißt du denn das?“
„Sie hat mich gefragt, wo die Toiletten sind, und sie hat einen wunderschönen Südstaatenakzent – Tennessee vielleicht.“
„Nee, glaub ich nicht“, sagte Beau, der jetzt neben Riley auftauchte. „Habt ihr diese Stiefel gesehen? Ich sage Texas.“
„Nie im Leben“, widersprach Riley und lachte laut auf.
„Kannst du noch mal nachfüllen, Bruderherz?“, fragte Beau Zac und fuhr fort: „Zehn Dollar, wenn ich recht habe.“ Und mit diesen Worten zog er eine Zehndollarnote aus seinem Portemonnaie und legte sie auf den Tresen.
„Ich halte dagegen“, sagte Riley und legte ebenfalls einen Zehndollarschein auf den Tisch. „Bist du auch dabei, Zac?“
„Klar“, meinte Zac, füllte Beaus Glas neu und holte dann ebenfalls einen Zehner aus seinem Geldbeutel. „Dann habe ich wenigstens einen Grund, sie anzusprechen.“
„Als ob du den bräuchtest“, sagte Riley grinsend. „Du machst ihr doch schon schöne Augen, seit sie zur Tür hereingekommen ist.“
Daraufhin zog Beau eine Augenbraue hoch und sagte: „Wie süß. Bist du verliebt, Brüderchen?“
Doch Zac warf ihm nur einen Blick zu, während er zu einem Gast ein Stück weiter am Tresen ging, um dessen Getränkebestellung aufzunehmen.
„Na, dann beeil dich mal, bevor Jared sie dir wegschnappt.“
Zacs Blick ging noch einmal zur Tanzfläche, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte, um dort einen Teller mit Meeresfrüchten zu holen. Als er zurückkam, nahm er den Anruf der Frau eines Gastes an, die ihn bat, ihrem Mann auszurichten, er möge doch bitte auf dem Heimweg noch Milch aus dem Supermarkt mitbringen. Nachdem er den Auftrag erfüllt hatte, war der langsame Tanz zu Ende, und auf der Tanzfläche wurde wieder munter gehopst – das Objekt seines Interesses mittendrin.
Während er weiter Gäste bediente, unterhielt er sich mit seinen Brüdern, und als er ein paar Songs später aus dem Augenwinkel ein Glitzern wahrnahm und sich umdrehte, kam das Mädchen gerade auf den Tresen zu. Ihre Augen strahlten, als sie ihn sah.
Er bekam einen ganz trockenen Mund, und sein ganzer Körper schien zu surren wie eine Neonröhre.
Mit lässiger Anmut und hocherhobenen Hauptes kam sie näher, und er merkte selbst, dass seine Mundwinkel wie automatisch nach oben gingen. Seine Brüder nahm er jetzt nur noch am Rande wahr und hörte sie wie durch einen Filter sprechen, doch er machte sich gar nicht die Mühe zuzuhören.
Während sie auf ihn zukam, schaute sie ihn unentwegt an. Dann zog sie ganz ruhig einen Hocker unter der Bar hervor, hob die eine Hüfte an und … setzte sich daneben.
Sie schwankte kurz, fing sich aber gerade noch und lehnte sich dann über die Bar.
„Uuups“, sagte sie mit vom Tanzen geröteten Wangen.
Das war der Moment, in dem er sich ein wenig in sie verliebte.
Sie setzte sich richtig auf den Hocker, räusperte sich und blickte dann zu ihm auf. Ihre Augen waren blau mit winzigen silbernen Punkten darin. Hypnotisierend.
„Da habe ich mir wohl die Beine ein bisschen müde getanzt“, sagte sie und biss sich auf die Lippe. „Nein, das ist gelogen. In Wirklichkeit bin ich ab und zu einfach ein bisschen tollpatschig. Ziemlich oft sogar. Also gut – meistens.“
Er quittierte dieses Geständnis mit einem schiefen Grinsen und war wie verzaubert von ihrem weichen Südstaatenakzent. „Das kann ich kaum glauben, Georgia. Kann ich dir irgendetwas zu trinken bringen?“
Überrascht sah sie ihn an und fragte: „Woher weißt du denn, woher ich komme?“
Wegen der lauten Musik hörte er nur leise, wie seine Brüder aufstöhnten, und er steckte, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, die Geldscheine in die Tasche, die auf dem Tresen lagen. „Ich habe ein Ohr für Dialekte. Wahrscheinlich, weil ich hier tagtäglich mit so vielen Menschen aus dem ganzen Land in Kontakt komme.“
„Kann ich bitte einen Eistee haben?“, fragte sie.
„Kommt sofort“, sagte Zac und füllte erst Eiswürfel und dann das Getränk in ein Glas.
In dem Moment tauchte ein gemeinsamer Freund seiner Brüder auf, und Zac war froh, als sich die drei verzogen und ihn mit Georgia allein ließen.
Er stellte ihr den Eistee hin, legte dann seine Ellbogen auf den Tresen und betete, dass er einen Moment lang Ruhe mit ihr hatte.
„Was führt dich denn nach Summer Harbor?“, erkundigte er sich.
„Ach, ich bin zurzeit unterwegs“, antwortete sie nur vage.
„Auf der Durchreise?“
Sie legte den Kopf auf die Seite und antwortete: „Das weiß ich noch nicht so genau, aber die Stadt fühlt sich gut an. Vielleicht bleibe ich eine Weile.“ Dabei rührte sie mit dem Strohhalm in ihrem Glas, sodass das Eis darin klimperte.
Das war das Beste, was ihm in dieser Woche zu Ohren gekommen war.
„Wie heißt du denn?“, erkundigte er sich weiter. „Oder soll ich dich einfach weiter Georgia nennen?“
Sie seufzte, sah ihn eine ganze Weile intensiv an und antwortete dann: „Ja bitte.“
Fragend zog er eine Augenbraue hoch, woraufhin sie ganz große Auge machte und tiefrot wurde.
„Das habe ich jetzt aber nicht wirklich laut gesagt, oder?“, sagte sie erschrocken und peinlich berührt.
„Doch, irgendwie schon“, antwortete er.
„Das mache ich manchmal. Ein Punkt auf der langen Liste von Dingen, mit denen ich mich selbst zum Affen mache.“
Er lachte leise. Alles an ihr war so … herrlich spontan, und ihrem Akzent hätte er die ganze Nacht zuhören können.
Jetzt reichte er ihr die Hand und stellte sich vor: „Zac Callahan.“
„Lucy Lovett“, entgegnete sie mit zerknirscht-bekümmertem Blick. Ihre Hand war klein und warm, und er merkte selbst, dass er sie nur sehr zögernd wieder losließ. „Lovett – so wie Audrey Lovett, die Schauspielerin?“
„Ja, genau so. Sie ist sogar meine Großtante.“
„Nein. Das kann doch nicht wahr sein. Meine Mutter hat ständig Filme mit ihr geschaut.“
Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite und betrachtete ihr herzförmiges Gesicht mit den großen blauen Augen etwas genauer.
„Du siehst ihr auch ähnlich“, sagte er schließlich.
„Danke. Ja, sie war zu ihrer Zeit ein richtiger Star.“
Sein Blick ging jetzt ein Stückchen weiter nach unten zu der Halskette, mit der sie die ganze Zeit herumspielte – ein zierliches Silberherz mit einem eingravierten Kreuz. Ob es wohl zu viel erhofft war, dass sie auch noch den gleichen Glauben hatte wie er?
„Deine Halskette gefällt mir“, sagte er als eine Art Versuchsballon.
Sie schaute nach unten und sagte: „Danke. Die habe ich von meiner Mutter zur Taufe bekommen.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam“, erklärte er.
„Du hast auch von deiner Mutter eine Halskette zur Taufe bekommen?“, fragte sie mit einem herausfordernden Lächeln.
„Nein, ich meinte unseren Glauben“, sagte er und musste über ihren schrägen Humor lächeln.
„Na ja, ich stamme eben aus einer frommen Gegend, in der an jeder Ecke eine Kirche steht“, erklärte sie.
„Das finde ich gar nicht so schlecht.“
„Das ist es auch nicht.“
Dann sah sie ihm ins Gesicht und fragte: „Bist du eigentlich tatsächlich so groß, oder stehst du hinter dem Tresen auf einem Podest?“
„Ich bin tatsächlich so groß. Kann ich dir noch irgendetwas bringen? Eine Kleinigkeit zu essen vielleicht?“
„Ich habe schon eine Muschelsuppe gehabt, die richtig gut war. Arbeitest du schon lange hier?“
„Seit ich mit der Highschool fertig bin. Als sich der Eigentümer zur Ruhe gesetzt hat, habe ich den Laden übernommen.“
„Das ist ja toll.“ Sie schaute sich im Lokal um, ließ den Blick über die hohe, rustikale Balkendecke schweifen, dann an der Wand mit all den bunten Nummernschildern aus allen Bundesstaaten entlang und weiter zu den abgetretenen Holzdielen auf dem Boden. Sie wirkte ein bisschen zu schick und vornehm für das Lokal.
„Hier kennt doch sicher noch jeder jeden, und das hier ist ein allgemeiner Treffpunkt, oder?“
„Ja, das kann man so sagen“, antwortete er.
Erst lächelten nur ihre Augen, dann auch ihr Mund, und schließlich sagte sie: „Es ist echt nett hier. Hier ist ’ne Menge Energie, aber es ist auch herzlich und einladend.“
Einladend. Er wusste, dass Männer eigentlich nicht schwärmten, aber er hatte jetzt wirklich Mühe, nicht ins Schwärmen zu geraten. „Freut mich, dass es dir gefällt“, sagte er.
„Wenn du der Mittelpunkt der Geselligkeit in dieser Stadt bist, dann hast du ja bestimmt auch jede Menge Kontakte, oder? Weißt du vielleicht, wo ein Mädel wie ich hier in der Gegend einen Job finden könnte – falls es eine Weile bleiben wollte?“
„Was suchst du denn?“
„Ach, da bin ich flexibel“, antwortete sie achselzuckend. „Ich habe gern mit Menschen zu tun, also wäre alles mit Kundenkontakt gut. Ich habe einen Abschluss in Soziologie, aber damit kann man ehrlich gesagt nicht so viel anfangen.“
„Soziologie, sagst du? Auf welchem College warst du denn?“
Ihr Blick wurde unsicher, und sie sah ihn nicht an, als sie sagte: „Äh, Harvard.“
Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. „Dann bist du wahrscheinlich für alles hier überqualifiziert.“
Aber sie winkte ab. „Also, ich nehme, was ich bekommen kann. Und wie gesagt, wahrscheinlich bleibe ich auch gar nicht lange in der Gegend.“
„Ich weiß zufällig, dass jemand für das Touristenzentrum gesucht wird. Früher war es das Naturkundemuseum, aber die Stadt hat vor kurzem beschlossen, es mit der Touristeninformation zusammenzulegen. Das hier ist eine Kleinstadt, und die Meinungen darüber gehen stark auseinander, aber die Einzelheiten erspare ich dir. Meine Tante leitet das Zentrum, und sie sucht jemanden, der Touristen begrüßt, Karten verkauft, informiert, Tipps gibt – aber wie gesagt, dafür bist du wahrscheinlich überqualifiziert …“
„Ach, ich glaube, das könnte mir Spaß machen, und außerdem würde ich dadurch auch mehr über die Gegend hier erfahren. Irgendwann musst du mir mal etwas über die Kontroverse erzählen, die du erwähnt hast. So etwas finde ich immer spannend.“