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»Was mich viel mehr bedrückt, ist die Tatsache, dass dieser Abschaum offenbar genau wusste, wann der Gefangenentransport hier eintreffen würde. Die konkreten Uhrzeiten haben nur wenige Personen gewusst. Diese Verbrecher müssen von Insidern Informationen bekommen haben, womöglich sogar aus der Justizvollzugsanstalt.« Kerner schüttelte den Kopf.
Rothemund zuckte mit den Schultern. »Ich werde nach unserem Gespräch mit dem Leiter der Anstalt telefonieren. Es wird dann sicher interne Ermittlungen geben, aber es wird vermutlich nicht viel dabei herauskommen. Es gibt auch noch einige andere Möglichkeiten. Eventuell waren die Verteidiger oder deren Umfeld durchlässig. Der Gerichtstermin war ja zwangsläufig einer ganzen Anzahl von Leuten bekannt. Für eine entsprechende Summe ist eine unterbezahlte Sekretärin womöglich bereit, ein paar Informationen weiterzugeben.«
Rothemund wechselte das Thema. »Du denkst an die Pressekonferenz heute Nachmittag, die ich kurzfristig in Abstimmung mit der Frau Landgerichtspräsidentin einberufen habe? Der Vorfall wird heute Abend in allen Medien sein. Einige private TV-Anstalten haben sich auch angekündigt. Wir machen das im großen Besprechungsraum. Ich werde kurz einleiten, dann übergebe ich dir das Wort. Du schilderst lediglich den Sachverhalt mit den formaljuristischen Konsequenzen. Ich werde noch eine schriftliche Presseerklärung vorbereiten. Lies sie dir vorher bitte durch. Mir wäre recht, wenn du dich an das Konzept halten würdest. Emotionen sollten wir möglichst raushalten – zumindest vor der Presse. Du kannst sicher sein, dass der Generalstaatsanwalt und das Justizministerium jede veröffentlichte Zeile kritisch lesen werden. Da können wir uns keine Blöße leisten.«
Kerner verzog ärgerlich das Gesicht. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, mich mit dieser Pressemeute herumzuschlagen.«
Rothemund machte eine entschiedene Handbewegung. »Lieber Simon, da kommen wir leider nicht drum herum. Das gehört zum Geschäft. Das weißt du. – Übrigens, Kommissar Brunner wird auch dabei sein. Er soll ein paar Einzelheiten zum Anschlag berichten, dann haben die Herrschaften genügend Stoff für ihre Artikel. Ich werde abschließend erklären, dass wir das Ganze als ein verlorenes Scharmützel im Kampf gegen das organisierte Verbrechen betrachten, den Krieg aber selbstverständlich nicht verloren geben.« Rothemund legte eine kurze Pause ein, dann sprach er noch einen anderen Punkt an, der ihm seit dem Attentat auf der Seele brannte.
»Simon, die heutigen Ereignisse werfen auch Fragen auf, die deine berufliche Lebensplanung unter einem anderen Blickwinkel erscheinen lassen. Du hast dich ja auf mein Anraten hin auf die wegen Erkrankung des derzeitigen Amtsinhabers frei werdende Direktorenstelle beim Amtsgericht Gemünden am Main beworben. So wie ich die Signale aus dem Justizministerium beurteile, hast du gute Chancen, die Stelle auch zu bekommen. Dabei haben deine Erfolge in Bezug auf die Strafverfolgung der unterfränkischen Mafia eine wesentliche Rolle gespielt. Wir hatten ja darüber gesprochen, dass du einige Zeit in die Provinz hinausgehst, dir dort Erfahrungen als Behördenleiter aneignest und dann, wenn ich in einigen Jahren diese Behörde verlasse, mein Nachfolger wirst.«
Kerner nickte. Rothemund war ihm Freund und Mentor zugleich. Er hatte die überdurchschnittlichen Fähigkeiten Kerners als Jurist schon bald erkannt und gefördert. Kerner hatte gleich nach seinem Dienst als Zeitsoldat bei der Bundeswehr ein Jurastudium begonnen und innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen. Sein Examen hatte er mit einer Spitzennote abgelegt und war sofort bei der Staatsanwaltschaft in Würzburg eingesetzt worden. Zwischendurch hatte er einige Jahre als Richter am Amtsgericht Bamberg gearbeitet, um dann wieder an die Würzburger Behörde zurückzukehren. Dort hatte er es bis zum Oberstaatsanwalt und Vertreter des Behördenleiters gebracht. Eine Bilderbuchkarriere.
»Wir sind bei diesen Überlegungen natürlich davon ausgegangen, dass bis dahin das Verfahren gegen Emolino beendet und der Kerl verurteilt ist. Das wäre ein hervorragender Abschluss deiner Tätigkeit hier gewesen. Da die Entscheidung über die Stellenbesetzung in diesen Tagen fallen wird, solltest du dir Gedanken machen, ob du die Bewerbung unter den gegebenen Umständen aufrechterhalten willst. Du bist wie kein anderer in der Materie der Verfolgung dieses Verbrechers drin. Ich könnte mir vorstellen, dass man im Ministerium einer Entscheidung gegen den Direktorenposten nach den heutigen Ereignissen Respekt zollen wird. Meine Nachfolge ist für dich damit sicher nicht vom Tisch. Simon, im Augenblick wirst du hier gebraucht.«
Kerner erhob sich. »Ich muss dir ehrlich sagen, dass mir meine Karriere im Augenblick ziemlich egal ist. Glaube mir, Emolino zur Strecke zu bringen ist nach den heutigen Geschehnissen mein Hauptanliegen, noch mehr als zuvor.«
Er zog seine Robe aus und warf sie sich über den Arm.
»Armin, nimm es mir bitte nicht übel, dass ich dieses Thema zunächst hintanstelle. Jetzt müssen wir erst einmal diese Pressekonferenz hinter uns bringen. Danach werde ich nach Hause fahren. Ich benötige dringend zehn Stunden Schlaf. Die Vorbereitung auf den Prozess und jetzt das alles hier – das geht ganz schön an die Substanz.«
»Mach das, Simon. Aber denk daran, der Kampf muss weitergehen! Wir benötigen dafür motivierte Männer. Männer wie dich!« Er legte dem Oberstaatsanwalt väterlich seine Hand auf die Schulter und brachte ihn zur Tür.
Nachdem Kerner das Büro verlassen hatte, blieb der Leitende Oberstaatsanwalt noch eine ganze Weile mitten im Zimmer stehen und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Von seinem Dienstzimmer bis zu der Stelle, von der der Schütze den Anschlag auf den Gefangenentransport durchgeführt hatte, war es Luftlinie nur eine kurze Strecke. Auch er hatte den Knall der Explosion und die Erschütterung des Gebäudes deutlich mitbekommen. Dieser Anschlag hatte ihm wieder einmal drastisch vor Augen geführt, wie verletzlich und angreifbar die Justiz dieser Republik war.
Er riss sich aus seinen Gedanken. Um Kerner machte er sich keine größeren Sorgen. Der würde sich seine Worte durch den Kopf gehen lassen und eine Entscheidung treffen, die der Sache dienlich war, da war er sich sicher. Nach einigen Tagen würde er den Schock überwunden haben und mit der ihm eigenen Zähigkeit die Ermittlungen gegen den Emolino-Klan weiterbetreiben. Als sein Vorgesetzter musste er nur ein wenig aufpassen, dass Simon Kerner die Sache nicht zu persönlich nahm.
Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer im Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Über seine Verbindungen konnte er vielleicht schon einen Tipp erhalten, wie die Chancen Kerners im Auswahlverfahren um den Direktorenposten standen.


Die Pressekonferenz dauerte fast zwei Stunden. Nach den offiziellen Statements verlangten die Journalisten noch persönliche Interviews. Wie erwartet, hatte Kerner der Pressemeute völlig beherrscht Rede und Antwort gestanden. Er war Profi, seine Befindlichkeit war seine private Angelegenheit.
Nur einmal reagierte er etwas irritiert. Eine Journalistin fragte ihn, ob es zutreffend sei, dass er sich an eine andere Justizbehörde versetzen lassen wollte. Innerlich stieß Kerner einen Fluch aus, weil diese Behörde, was die Geheimhaltung von Personalinformationen betraf, offenbar löchrig wie ein Schweizer Käse war. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken und gab eine diplomatische Antwort, die man auslegen konnte, wie man wollte.
Er betrat sein Büro und warf verärgert die Unterlagen aus der Pressekonferenz auf den Besprechungstisch in der Ecke. Eigentlich hatte er jetzt sofort nach Hause fahren wollen, aber auf seinem Schreibtisch lagen einige rote Akten, die alle den Merkzettel »Eilt sehr« trugen. Seufzend ließ er sich in seinen Bürosessel fallen. Eine halbe Stunde würde er wohl noch investieren müssen.
In diesem Augenblick klopfte es an seine Tür. Kerner runzelte die Stirne. Welche Störung gab es jetzt schon wieder? Unwirsch brummte er ein halblautes »Herein«.
Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner steckte den Kopf herein und musterte den Mann hinter dem Schreibtisch.
»Kann ich noch einmal kurz …?« Der Kriminalbeamte war Leiter des Dezernats für das organisierte Verbrechen der Kripo Würzburg und hatte in dieser Eigenschaft an der Pressekonferenz teilgenommen. Der Fall Emolino gehörte schon seit Jahren zum Dauerbrenner seiner Abteilung. Er war nach der Pressekonferenz noch von einigen Journalisten in Beschlag genommen worden und hatte deshalb nicht mehr mit Kerner sprechen können.
»Wird sich wohl nicht verhindern lassen«, erwiderte der Oberstaatsanwalt jetzt gespielt brummig.
Der Kriminalbeamte grinste und schloss die Türe. Ohne Umstände näherte er sich der Sitzgruppe am Besprechungstisch und ließ sich unaufgefordert in einen der Sessel fallen. Brunner und Kerner kannten sich seit dem Tag, an dem Kerner in der Staatsanwaltschaft das Morddezernat übernommen hatte. Die beiden hatten sich im Laufe der Jahre kennen und schätzen gelernt und, das konnte man ohne Übertreibung sagen, dabei eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Die brummige Reaktion des Staatsanwalts beachtete Brunner gar nicht. Die brutale Hinrichtung des Kronzeugen in dem Verfahren gegen Emolino hatte auch den Kriminalisten schwer getroffen. Schließlich war dadurch die Ermittlungsarbeit mehrerer Monate weitgehend nicht einmal mehr das Papier wert, aus dem die Akten bestanden.
Kerner unterschrieb noch schnell einen Antrag auf eine richterliche Durchsuchungsanordnung, dann klappte er die Akten zu und legte sie in den Postauslauf. Ein Mitarbeiter würde sie später abholen. Er legte seinen Füllfederhalter in die Ablageschale und sah Brunner wortlos an.
»Ich hoffe, die Frage lautet: Wie machen wir weiter … und nicht ob? Oder?« Brunner beugte sich nach vorne und musterte Kerner durchdringend. Er war einige Jahre jünger als Kerner. Ebenfalls sportliche Figur, militärisch kurz geschnittene Haare, gekleidet in legerem Denim – damit entsprach er durchaus dem Klischee eines Serienkommissars aus dem Fernsehen. Das war aber auch alles, was er mit diesen Krachbumm-Typen, wie er sie nannte, gemeinsam hatte. Brunner war ein sehr fähiger Ermittler. Ein Kriminalbeamter mit menschlichem Tiefgang, psychologischem Einfühlungsvermögen und hoher Intelligenz.
»Simon, du hast mir ja anvertraut, dass du einen beruflichen Karriereschritt anstrebst. Ich hoffe aber, dass das mit den Ereignissen des heutigen Tages hinfällig ist. Wir können und müssen diesem verdammten Verbrecher und seiner sogenannten Familie das Handwerk legen! Früher oder später macht er einen Fehler und dann …«
Er machte eine bezeichnende Handbewegung mit seiner flachen Hand an seinem Kehlkopf vorbei. »Je dichter wir ihm aufs Fell rücken, desto eher wird das passieren. Die angrenzenden Dons in Bayern und Hessen sind massiv beunruhigt, wie ich aus Kollegenkreisen erfahren habe. Durch unsere intensiven Ermittlungen gegen Emolino bleibt das Interesse der Behörden auch an ihren Aktivitäten für sie unerfreulich wach. Das ist schlecht fürs Geschäft. Wenn Emolino so weitermacht, bekommen wir möglicherweise sogar Tipps aus dem Milieu. Er dürfte einigen Herren unangenehm aufstoßen. Also, Simon, kneifen gilt nicht!«
Kerner rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Eberhard, das hat nichts mit Kneifen zu tun, das weißt du. Im Prinzip hast du natürlich recht. Nimm es mir aber bitte nicht übel, wenn ich darüber noch ein paar Tage nachdenke. So eine Entscheidung kann man nicht übers Knie brechen.« Er wechselte das Thema. »Was willst du jetzt als nächsten Schritt unternehmen?«
»Auf jeden Fall den ganzen Klan weiter observieren. Wir sind im Augenblick noch in der glücklichen Lage, in der Sonderkommission ausreichend Beamte zu haben, sodass wir uns das leisten können. Allerdings brauchen wir schnelle Erfolge, andernfalls wird man uns die Männer abziehen. Diese Bande darf meiner Meinung nach keine Zeit haben, Luft zu holen!«
Kerner nickte. »Was machen eigentlich die parallelen Ermittlungen der Steuerfahnder? Wegen des Prozesses habe ich mich in den letzten Tagen nicht mehr darum kümmern können. Wir benötigen möglichst schnell wieder einen Grund für einen Haftbefehl, wenn Emolino jetzt freikommt. Ich befürchte, dass er sich sonst ins Ausland absetzt. Die nötigen Verbindungen zur amerikanischen Mafia hat er ja, wie wir wissen.«
Brunner erhob sich und schlenderte zum Fenster, von dem man einen guten Blick auf die angrenzenden Grünanlagen hatte.
»Die haben bei der letzten Durchsuchung von Emolinos Büro, als der Kerl in Untersuchungshaft saß, kistenweise Beweismaterial mitgenommen. Akten, Computer und dieses ganze Zeug. Das dauert Wochen, bis sie alles gesichtet haben. Wenn das mit Mallepieri geklappt hätte, wäre das alles überflüssig gewesen. Jetzt müssen die Jungs wieder ran.«
Der Oberstaatsanwalt nickte zufrieden, dann stand auch er auf und stellte sich neben Brunner. »Bleiben wir an diesem Dreckskerl dran, wie du gesagt hast. Vielleicht kriegen wir ihn auf der Schiene Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Bei Al Capone hat es damals ja auch so geklappt. Observiert ihn weiter und sorgt dafür, dass er die Überwachung auch mitbekommt. Irgendwann verliert er vielleicht die Geduld, dreht durch und macht einen Fehler! Der Bursche ist es nicht gewohnt, dass man ihm auf die Pelle rückt. Das ist Majestätsbeleidigung, das schwächt sein Ansehen in der eigenen Familie und die Beziehung zu den anderen Mafiafamilien. Man darf nicht vergessen, auch die Tatsache, dass sich einer seiner Männer uns als Zeuge gegen ihn zur Verfügung gestellt hat, ist eine große Blamage. Don Emolino, das Alphatier, ist angeschlagen.«
»Du kannst dich darauf verlassen«, gab Brunner zurück. »Meine Männer sind vor Ort und lassen ihn nicht aus den Augen. Sobald er das Haus verlässt, kleben wir an ihm wie die Kletten. – Was machst du jetzt?«
»Ich fahre nach Hause und schlafe mich erst mal aus. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich fertig. Dieser Mist geht ziemlich an die Substanz.«
Der Kommissar nickte verständnisvoll. Er kannte den Zustand sehr gut, wenn man mit aller Energie in einem Fall ermittelt hatte und einem dann der Verbrecher um Haaresbreite durch die Maschen schlüpfte.
»Du hörst wieder von mir.« Er winkte knapp, dann drehte er sich um und verließ das Dienstzimmer.
Kerner blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete das intensive Grün der Bäume, die nur wenige Meter von seinem Fenster entfernt wuchsen. Er konnte nur hoffen, dass die Männer im Transporter nichts mehr mitbekommen hatten. Da schloss er Mallepieri nicht aus. So einen Tod wünschte man niemandem.
Schließlich gab er sich einen Ruck und vertrieb die grüblerischen Gedanken. Er zog sein Anzugjackett an und verließ das Dienstzimmer. An der bewachten Pforte vorbei verließ er das Haus. Der diensthabende Justizwachtmeister nickte ihm freundlich zu.
Wenig später saß er in seinem schwarzen Land Rover Defender. Wie immer hatte er ihn auf der Straße geparkt, da er mit dem hohen, sperrigen Geländefahrzeug in der Tiefgarage Platzprobleme hatte. Die Stellplätze waren alle für Normalmaße ausgelegt. Dadurch befand er sich jetzt in der glücklichen Lage, über seinen Wagen verfügen zu können. Andere Justizbedienstete, die in der Tiefgarage geparkt hatten, konnten wegen des durch die Explosion verbogenen Tores mit ihren Fahrzeugen nicht das Haus verlassen. Der Eingang zur Tiefgarage musste erst wieder provisorisch gerichtet werden.
Von seinen Kollegen wurde er häufig belächelt, weil er mit einem derart unbequemen Fahrzeug fuhr, aber das störte ihn nicht. Simon Kerner war passionierter Jäger. Eine Leidenschaft, die ihn unter anderem dazu veranlasst hatte, seinen Wohnsitz mehr als fünfzig Kilometer von Würzburg entfernt zu wählen. Am Rande des Spessartdorfes Parten-stein hatte er sich ein Einfamilienhaus gemietet. So hatte er mit dem Wagen nur fünf Minuten in das von ihm angepachtete Hochwildrevier, wo er, wann immer ihm Zeit blieb, seiner Jagdleidenschaft frönte.
Zehn Minuten später war er auf der B 27 in Richtung Gemünden unterwegs und gab Gas. Der flotte Turbodiesel röhrte auf, und einhundertsechzig Pferdestärken trieben den schweren Geländewagen mühelos voran.


Francesco Edoardo Emolino saß in Gemünden am Main im Hinterzimmer des Eiscafés Gelati, das ihm, wenn er nicht in seiner Villa war, als Büro diente, und schaufelte einen Berg Pasta in sich hinein. Um den Hals hatte er sich eine großzügig bemessene Stoffserviette gebunden, die verhindern sollte, dass er sich die ölige Tomatensoße auf sein Hemd tropfte. Emolino genoss das heimische Essen nach dem seiner Meinung ungenießbaren Fraß in der Justizvollzugsanstalt sichtlich.
Ihm gegenüber saß sein neuer Consigliere Michelangelo Trospanini, der nach dem Verrat Mallepieris in der Rangordnung der Familie aufgestiegen war.
Trospanini stammte aus Neapel und war ein nichteheliches Kind. Seine Mutter kam kurz nach seiner Geburt zu Verwandten nach Deutschland. Nachdem sie wenig später einen Deutschen heiratete, bekamen sie und ihr Kind die deutsche Staatsbürgerschaft. Michelangelo Trospanini war aber im Herzen immer Italiener geblieben. Seine absolute Loyalität gehörte Don Emolino.
Auf dem Stuhl daneben saß Ricardo, Emolinos Sohn. Ricardo, 26 Jahre alt, arbeitete seit zwei Jahren pro forma in der Eisdiele als Geschäftsführer. De facto war er ein Lebemann, der ständig zu viel Geld ausgab. Er war zwar mittlerweile bis zu einem gewissen Grad in die Geschäfte seines Vaters eingeweiht, hatte aber noch keine Vollmachten. Jeder Versuch Emolinos, den Jungen in seinem Sinn zu erziehen, war bisher an dessen Dickköpfigkeit gescheitert. Dabei hatte der Junge durchaus Potenzial. Um seine Eignung zu prüfen, hatte Emolino ihm schon verschiedene Aufträge erteilt.
Vor vier Wochen hatte er beispielsweise in Frankfurt einem Letten, der für die Russenmafia arbeitete und Emolino im Wege stand, eiskalt zwei Kugeln in den Kopf geschossen. Emolino empfand dabei innere Befriedigung, weil sich sein Sprössling dabei wie ein Profi verhielt und keine Spuren hinterließ.
Ansonsten aber war der Junge nach Meinung seines Vaters noch zu leichtsinnig und in seiner persönlichen Entwicklung nicht ausgereift. Ein typischer Beweis für diese Unreife war für Emolino die Tatsache, dass Ricardo gerne sehr teure italienische Sportwagen fuhr, ständig wechselnde Frauenbekanntschaften pflegte und jede Menge Geld für teure Kleidung ausgab. Für einen Mann mit italienischen Wurzeln zeigte er wenig Familiensinn und ließ sich viel zu sehr treiben. Nur an seinem Rauhaardackel Fredo, den er ständig mit sich herumschleppte, hatte er auf infantile Weise einen Narren gefressen.
Irgendwann war Don Emolino der Kragen geplatzt und er hatte ihm den Geldhahn zugedreht. Jetzt musste Ricardo mit seinem nicht allzu üppigen Geschäftsführergehalt auskommen. Ein Umstand, weswegen er im Augenblick nicht besonders gut auf seinen Vater zu sprechen war. Das war Don Emolino allerdings ziemlich gleichgültig.
Ricardo war sich darüber im klaren, dass er irgendwann Nachfolger seines Vaters werden würde. Wenn sich der Alte weiterhin so vehement mit der Polizei anlegte, würde seine Zeit vielleicht viel schneller kommen, als er dachte. Bis dahin galt auch für ihn: Der alte Don war der Chef, und er hatte sich zu beugen.
Die beiden Männer sahen zu, wie es sich der Chef des Familienklans schmecken ließ. Sie wagten es nicht, ihn dabei zu stören.
»Habt ihr mal rausgesehen?«, quetschte er schließlich undeutlich hervor, weil er mit vollem Mund sprach. Mit den Zinken der Gabel wies er zum Fenster. »Diese verdammten Bullen. Seit ich aus dem Gefängnis bin, steht ständig eine Zivilstreife vor der Tür. Seht euch doch nur mal diese beiden Figuren darin an. Denen sieht man doch den Schnüffler schon von weitem an. Seit Stunden steht der Wagen auf der anderen Seite des Platzes und rührt sich nicht von der Stelle. Denken die vielleicht, ich sehe sie nicht?«
Trospanini ließ sich vom Zorn seines Paten nicht anstecken. »Das konnte man doch erwarten, Don Francesco. Sie werden es nicht so einfach hinnehmen, dass das Verfahren gegen dich wegen dieses … Unfalls nicht fortgesetzt werden konnte. Vermutlich wollen sie uns absichtlich provozieren.«
Emolino stieß ein fettes Lachen aus, wobei einige Brocken aus seinem Mund auf die Tischdecke fielen. »Ich habe wirklich keine Lust, mir die gute Laune verderben zu lassen. Sollen die sich doch die Ärsche breitsitzen.
Ich hätte gar zu gerne mal das Gesicht dieses Oberstaatsanwalts gesehen, als man ihm in seinem Büro mitteilte, dass sich sein großartiger Kronzeuge im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst hat.« Die Vorstellung daran ließ seinen Ärger verfliegen.
Er schob sich eine weitere Gabel Spaghetti in den Mund und nuschelte im Kauen: »In der Verhandlung jedenfalls hat er bei seinem Plädoyer, als er die Einstellung des Verfahrens beantragen musste, geguckt, als hätte er in eine Zitrone gebissen.«
Unvermutet erschien eine steile Falte zwischen seinen buschigen Augenbrauen, und seine stechenden Augen bekamen einen bösartigen Schimmer.
»Dieser Verräter Mallepieri ist einen viel zu leichten Tod gestorben. Wenn er mir in die Hände gefallen wäre …«
Trospanini und Ricardo mussten nicht lange überlegen, was er damit meinte.
Francesco Emolino betrieb das Gelati am Marktplatz von Gemünden seit mehr als fünfzehn Jahren. Auch nach der Übertragung der Geschäftsführung auf seinen Sohn änderte sich nichts an der Tatsache, dass er der Boss im Hintergrund blieb. Von Gemünden aus hatte er im Laufe der vielen Jahre ein dichtes Netz von Geschäftsverbindungen über den gesamten unterfränkischen Raum gespannt, das unter seiner Kontrolle stand.
Bis die Ermittler der Sonderkommission Spessartblues offiziell auftraten und Durchsuchungen der Geschäftsräume und der Wohnung von Emolino durchführten, ahnte kein Mensch in der Region, dass dieser eher kleine, nach außen stets freundliche, unscheinbare Mann einer der einflussreichsten Mafiosi in Deutschland war. Hier, in seiner Heimatstadt Gemünden, hatte außer dem inneren Zirkel der Familie niemand von den fragwürdigen Geschäften des freundlichen Sizilianers Kenntnis. Schon seit mehr als dreißig Jahren besaß er die deutsche Staatsbürgerschaft und war in der Gemeinde ein durchaus angesehener Bürger.
Als Francesco Emolino vor einigen Wochen aufgrund der unerwarteten Aussage seines Consigliere Mallepieri verhaftet wurde, schlug diese Nachricht in Gemünden wie eine Bombe ein. Unter der Bevölkerung gab es einen Aufschrei der Empörung. Das Lohrer Echo, das führende Presseorgan der Region, erging sich einige Zeit in Lobgesängen über den armen Mann, der offenbar Opfer einer Rufmordkampagne geworden war. Keiner wusste, dass der Don dem Chefredakteur des Blattes vor zwei Jahren mit einem größeren zinslosen Darlehen aus einer üblen Patsche geholfen hatte. Ein Gefallen, der nun zur Rückzahlung anstand.
Als Emolino vor dem Schwurgericht angeklagt wurde und die Schuldvorwürfe allmählich ans Tageslicht kamen, verstummten die Unterstützer nach und nach.
Der Freispruch von Francesco Emolino wurde von den Bürgern in der Spessartregion mit unterschiedlicher Resonanz aufgenommen. Dann drang die Kunde von der Ermordung des Kronzeugen bis in den Spessart, und einige Menschen in der Gegend wurden sehr nachdenklich. Noch dazu, als sich die überregionale Presse auf den Fall stürzte und Stück für Stück das Geflecht der Beziehungen und Seilschaften publik wurde. Ein Einfluss, der bis in die höchsten politischen Kreise der Europäischen Union reichte. Jetzt wurde vielen klar, dass der Alte in seinem Eissalon wie eine Spinne im Netz saß und an den Fäden zog.
Don Emolino, wie er von seiner Familie stets respektvoll genannt wurde, war in der Wahl der Mittel, was die Durchsetzung seiner Wünsche und Ansprüche betraf, keineswegs zimperlich. Mallepieris Aussagen gingen hier bis ins Detail. Die Staatsanwaltschaft wusste von ihm, dass zahlreiche Auftragsmorde auf Emolinos Konto gingen. Sie wären aber nur durch die persönliche Aussage des Kronzeugen zu beweisen gewesen. Hinzu kamen Straftaten wie Erpressung und Bestechung, die Mallepieri ebenfalls bezeugt hätte. Nicht allein durch Mallepieri wusste man, dass sich das Imperium des Don Emolino auf Rauschgifthandel, Wucherkreditgeschäfte und Prostitution stützte. Nur hatte man ihm bisher nichts nachweisen können. Alles lief über Scheinfirmen und Geldwäsche im großen Stil. Mit Bestechung und Korruption erreichte er, dass die an diesen Geschäften Beteiligten eisern schwiegen. Zu groß war außerdem die Furcht, dass sich sonst ihre Lebenserwartung drastisch reduzieren könnte.