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Theresas Gesicht überzog ein Hoffnungsschimmer.
„Simon, das ist ein Wink des Schicksals. Durch dieses Angebot gewinnen wir mindestens zwei Tage. Bitte ruf ihn an und sag ja!“
Am nächsten Morgen rief Kerner McArthur an und nahm das Angebot dankend an. Bittere Tränen gab es, als Kerner seiner Familie mitteilen musste, dass man Rex nicht mitnehmen konnte. Theoretisch gab es zwar die Möglichkeit, aber es war nicht möglich, in der kurzen Zeit bis zur Abreise alle Formalitäten für den Rüden zu erledigen. Nachdem Rex aber auch Richard, seinen Nachfolger, als Bezugsperson anerkannte, beschloss er, den Rüden bei ihm zu lassen. Der Hund war an ein freies Leben im Camp und im Busch gewohnt und würde in einer Wohnung in der Stadt verkümmern. Am Tag der Abreise unternahm Richard mit Rex eine längere Kontrollfahrt durch den Busch. Etwas, was er schon häufiger praktiziert hatte und wobei Rex immer freudig mitgegangen war. Als Richard den Rüden diesmal aufforderte in den Jeep zu springen, verweigerte er den Gehorsam und hielt sich dicht an Kerner. Erst als Simon Kerner ihm streng befahl einzusteigen, fügte er sich. Den Blick, den der Rüde ihm zuwarf, als der Jeep vom Hof fuhr, würde Kerner nie vergessen. Wahrscheinlich war das eine Trennung auf Dauer. Clara hatten sie gesagt, Rex würde bald nachkommen. Womit sich das Mädchen nach vielen Tränen trösten ließ.
Simon Kerners Blick ging suchend in Richtung Flughafenterminal. Sie hatten einen Krankentransport vom Flughafen zur Uniklinik in Würzburg organisiert. Zu ihrer Freude erfuhren sie, dass bei kleineren Kindern die Mutter mit im Krankenzimmer übernachten durfte. Dieses Angebot wollten sie natürlich annehmen, zumal sie ja noch keine Wohnung hatten. Clara würde so vom ersten Tag an eine kompetente ärztliche Rundumversorgung bekommen und war nicht dem Stress der Trennung von ihrer Mutter ausgesetzt. Damit war auch das Problem der Wohnungssuche nicht mehr ganz so brandeilig. Eberhard Brunner bot Kerner an, so lange in seiner Wohnung zu leben, bis er etwas Geeignetes gefunden hatte. Durch die Aufstellung der Soko und die damit verbundenen organisatorischen Anstrengungen würde Brunner sowieso häufig unterwegs sein. Brunner hatte es sich aber nicht nehmen lassen, den Freund und sein Gepäck vom Flughafen abzuholen.
Da entdeckte Kerner, vom Terminal kommend, einen Transporter heranfahren. Das Zeichen des Roten Kreuzes war schon von der Ferne aus zu erkennen.
Der geräumig Rettungswagen hielt neben dem Flugzeug und zwei Rettungsassistenten stiegen aus. Sie stellten sich kurz vor, dann fragte der Ältere: „Es soll um den Transport eines kleinen, an Leukämie erkrankten Mädchens gehen. Wie ist ihr Gesundheitszustand? Ist sie ansprechbar?“ Er warf einen Blick zur Flugzeugluke.
Kerner erläuterte ihm den Gesundheitszustand seiner Tochter. „Sie ist häufig matt und schläft viel. Sie hat auch den Flug weitgehend verschlafen.“
„Okay“, stellte er fest. „Dann wollen wir sie mal holen.“ Er gab seinem Kollegen einen Wink. Der ging zum Heck des Wagens und öffnete die Doppeltür. Gemeinsam zogen die beiden Männer eine fahrbare Liege heraus, die sie aufklappten. In dem Augenblick erschien Theresa oben in der Luke und sah auf Kerner herab.
„Sie ist wach“, erklärte sie halblaut.
Simon Kerner legte dem älteren der beiden Sanitäter seine Hand auf den Arm. „Warten Sie. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Clara selbst aus dem Flugzeug heraustragen. Der Flug und die ganzen Erlebnisse der letzten Zeit haben sie ziemlich angegriffen.“
„Das geht selbstverständlich in Ordnung.“
„Gut, dann gehe ich jetzt rein und hole sie. Meine Frau wird ja bei Clara mitfahren?“
„Selbstverständlich“, erwiderte der jüngere der beiden. Kerner sprang die paar Stufen zum Flieger hinauf.
Clara lag bleich auf dem umgeklappten Sitz. Theresa saß dicht bei ihr und strich ihr mit der Hand über die Stirn. Clara hatte wieder deutlich fühlbar erhöhte Temperatur.
„Schatz, wir sind schon in Deutschland gelandet“, erklärte sie ihrer Tochter, die gerade ausgiebig gähnte. „Du hast fast den ganzen Flug verschlafen. Wie geht es dir?“
„Wo ist Daddy?“, wollte sie wissen.“
„Hier bin ich“, sagte Kerner und trat einen Schritt nach vorne. „Draußen wartet schon ein Wagen, der Mama und dich nach Würzburg bringt. Komm, mein Schatz, ich nehme dich auf den Arm und trage dich raus.“
„Müssen wir lange mit dem Auto fahren? Werden wir da auch Tiere sehen?“
Simon Kerner musste etwas schmunzeln. „Nein, Clara, größere Tiere werden wir hier nicht sehen. Vielleicht ein paar Vögel. Die Fahrt dauert höchstens eine gute Stunde, dann sind wir da.“ Obwohl sich Clara sicher das Zeitmaß Stunde nicht wirklich vorstellen konnte, gab sie sich zufrieden und ließ sich von ihrem Vater auf den Arm nehmen. Im Vorbeigehen winkte das Mädchen den beiden Piloten und der Stewardess zu, die im vorderen Teil der Kabine standen und zurückwinkten. Kerner und Theresa bedankten sich bei der Crew, dann traten sie auf die Treppe des Fliegers hinaus.
Als Kerner die erste Stufe betrat, sah er blinkendes Blaulicht, das sich vom Terminal her näherte. Wenig später kam mit Schwung ein schwarzer SUV neben dem Rettungswagen zum Stehen. Der Motor und das Blaulicht erloschen, dann wurde die Fahrertür aufgerissen und Eberhard Brunner sprang heraus. Kerner war mittlerweile freudig die restlichen Stufen hinuntergestiegen.
Mit dem Kind auf dem Arm wandte er sich Brunner zu. „Hallo, lieber Freund, ich grüße dich! Schön, dass du kommen konntest!“ Er warf einen Blick auf den SUV. „Aber warum denn nicht gleich mit Sirene …?“
Der grinste und erwiderte: „Da haben so ein paar Sonntagsfahrer gemeint, sie müssten mir im Weg herumzuckeln. Ein bisschen Heulton und schon waren sie wach!“ Er lachte. „Wenn man schon die Möglichkeit hat … Nicht ganz legal, aber wer viel fragt, bekommt viele Antworten …“
Die beiden klopften sich gegenseitig zur Begrüßung auf die Schulter. Es war jetzt fast drei Jahre her, dass Brunner in einem Urlaub Kerner im Nationalpark besucht hatte. Dann betrachtete er Clara, die ihn mit großen Augen musterte.
„Hallo Clara, du bist aber groß geworden. Ich bin der Onkel Eberhard …, aber du wirst dich nicht mehr an mich erinnern. Da warst du noch ganz klein.“ Dann nahm er Theresa herzlich in den Arm.
„Ich hätte mir gerne ein Treffen unter anderen Vorzeichen gewünscht.“ Sie nickte und hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
Der ältere Rettungsassistent näherte sich und räusperte leise. „Ich denke, wir sollten langsam los. Wir werden schon im Krankenhaus erwartet.“
„Aber selbstverständlich, Sie haben recht“, gab Kerner zurück. „Wissen Sie, wir haben uns nur schon lange nicht mehr gesehen …“
Kerner gab Clara einen Kuss, dann hob er sie auf die Liege, wo sie in sitzender Position in den Wagen geschoben wurde. Einer der Männer sicherte sie mit zwei Gurten. Theresa verabschiedete sich von Kerner ebenfalls mit einem Kuss, dann stieg sie ein und setzte sich auf den Sessel neben ihrer Tochter. Das Letzte, was Kerner von seinen beiden Frauen sah, waren zwei winkende Hände. Einen Moment später rollte der Rettungswagen vom Rollfeld.
Kerner und Brunner luden die Gepäckstücke in den Kofferraum und auf die Rückbank des SUV, dann fuhren auch sie los.
„Was ist mit dem Zoll?“, wollte Kerner wissen.
„Kein Problem, ich habe das geregelt. Mit einem Dienstausweis des Landeskriminalamts kommt man ganz gut durch. Du bist im Augenblick ein hoher Polizeibeamter aus Südafrika, der zu einer Konferenz nach Bayern kommt.“ Wenig später passierten sie eine Kontrollstelle, die, wie Brunner erläuterte, üblicherweise von Beamten der Bundespolizei benutzt wurde, die auf dem Flughafen Dienst taten. Nachdem Brunner seinen Dienstausweis vorgezeigt hatte, wurde er durchgewunken. Zehn Minuten später waren sie auf der Autobahn A 3 in Richtung Würzburg.
„Ich denke, ich verzichte jetzt mal auf Sonderrechte, damit wir uns in Ruhe unterhalten können“, eröffnete Brunner das Gespräch. „Jetzt sag mal, wie geht es der Kleinen? Das ging in den letzten Tagen ja alles ratzfatz. Wie kann es sein, dass ein so kleines Mädchen aus heiterem Himmel Blutkrebs bekommt? Als ich das hörte, hat es mich regelrecht umgehauen!“
Simon Kerner schaute aus dem Fenster, wo die zwischenzeitlich für ihn ungewohnte Landschaft vorüberzog.
„Wenn ich, respektive die Ärzte, das wüssten, wären wir um einiges schlauer. Das kann unterschiedliche Ursachen haben: genetische Disposition, Einfluss von Strahlen, Viren, Schwächung des Immunsystems und, und, und. Such dir was aus. Endgültig kann dir niemand sagen, woher Claras Leukämie kommt. Fakt ist, der Krebs ist nachgewiesen, ist ziemlich aggressiv und muss schleunigst behandelt werden. Das erschien uns in Afrika zu riskant. Würzburg hat ja diesbezüglich einen ausgezeichneten Ruf. Insbesondere bei derart jungen Kindern wie Clara.“
„Ihr habt da aber auch gewaltig was aufgegeben“, stellte Brunner fest.
Kerner drehte sich dem Freund zu. „Eberhard, wenn dein Kind lebensbedrohlich erkrankt, wirst du alles menschenmögliche unternehmen, um ihm zu helfen. Da ist es völlig egal, ob deine Existenz über den Jordan geht oder nicht.“
„Völlig klar“, gab Brunner zurück. „Ich meinte ja nur … Immerhin bist ja damals nach Afrika gegangen, weil du hier durch den Tod von Steffi den Halt verloren hattest und dort eine neue Existenz aufbauen wolltest. Was willst du jetzt machen? du musst doch deine Familie ernähren und die Behandlung von Clara dürfte ziemlich viel Geld verschlingen.“
Bei Erwähnung seiner ehemaligen Partnerin, die so tragisch ums Leben gekommen war, schwieg Kerner einen Moment gedankenverloren, dann riss er sich zusammen und fuhr fort: „Das ist jetzt erst mal sekundär. Wir haben einiges angespart. Im Busch kannst du ja nicht viel Geld ausgeben.“ Er atmete tief durch. „In den Staatsdienst kann ich natürlich nicht mehr zurückkehren. Aber ich habe mir überlegt, bei der Rechtsanwaltskammer in Bamberg einen Antrag auf Zulassung als Rechtsanwalt im Bereich Würzburg, Main-Spessart und des Oberlandesgerichts Bamberg zu stellen. Bei meinen Qualifikationen dürfte das eigentlich kein großes Problem sein. Ich könnte mir vorstellen, dass sich der eine oder andere noch an mich erinnert. – Aber jetzt muss erst einmal alles unternommen werden, um Clara zu helfen. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass wir einen Rückenmarkspender benötigen. Aber das ist wie die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“
„Wie geht es euch dabei? Ich kann mir vorstellen, dass es sehr quälend ist, wenn das eigene Kind von einer derart lebensbedrohenden Krankheit befallen wird.“
„Ja, das nimmt uns beide sehr mit! Ich möchte für die beiden da sein, bin aber jetzt erst mal gezwungen, mich um die Organisation unseres Lebens zu kümmern. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass ich bei dir für einige Zeit wohnen kann.“
„Wie du bereits sagtest, sind Clara und Theresa im Augenblick in der Klinik gut aufgehoben. Wenn du bei mir wohnst, hast du den Rücken frei und kannst eine geeignete Wohnung suchen. Ich habe dir ja schon gesagt, dass diese Soko ihren Dienstsitz im Main-Spessart-Bereich haben wird. Da wird es sicher die Notwendigkeit schneller Einsätze geben. Da muss ich vor Ort sein und deshalb ist an tägliches Pendeln nicht zu denken.“ Er stellte das Gebläse eine Stufe niedriger. „Bevor du denkst, ich würde die Wohnung nur wegen dir behalten, kann ich dich beruhigen. Ich hätte sie auf jeden Fall behalten. Wie Wohnungssituation in Würzburg ist extrem schwierig. Ich bin froh, wenn sie bewohnt ist und nicht ständig leer steht. Deine ganzen Möbel etc. kannst du einlagern, bis du eine feste Bleibe gefunden hast.“
Sie fuhren eine Strecke wortlos dahin, weil der Verkehr Brunners Aufmerksamkeit beanspruchte. Plötzlich schob sich der Verkehr, trotz der Dreispurigkeit der Autobahn, zusammen und verdichtete sich.
„So ein Mist“, schimpfte Brunner. Seine Hand bewegte sich in Richtung Schalter des Sondersignals.
„Lass es gut sein“, bat Kerner. „Vielleicht dauert es nicht lange.“ Er setzte sich bequemer hin. „Deine Erzählungen über dein neues Aufgabengebiet sind etwas diffus. Was soll diese Soko bezwecken? An diesem Dienstwagen kann ich schon ersehen, dass du dich jetzt in einer höheren Liga bewegst.“
„Das ist eine Polizeiaktion, die politisch von ganz oben angeordnet wurde und natürlich weitgehend geheim ist. Wir haben im Spessart, in den Grenzgebieten zu Hessen und in Teilen Frankens ziemlichen Ärger mit zwei arabischen Clans, die sich dort wie ein Krebsgeschwür eingenistet und breitgemacht haben. Sie handeln mit allen möglichen Waren und Gütern und zahlen mit ihren legalen Geschäften auch Steuern. Das Problem ist, dass viele dieser Menschen keinerlei Interesse haben, unseren Staat anzuerkennen. Sie machen ihre eigenen Gesetze, die sich überwiegend an die Scharia halten. Die Frauen werden oftmals unterdrückt und es wird auch die Zwangsehe praktiziert. Nicht hier in Deutschland, dazu sind sie zu schlau. Die Familien lassen die Mädchen entführen und die Hochzeit findet dann in Syrien, dem Irak oder einem anderen arabischen Land statt. Es gibt natürlich auch Mädchen, die sich dieser Praxis widersetzen. Vielleicht weil sie einen deutschen Mann oder einen anderen Nichtmuslim kennengelernt haben. Diese Frauen sind in ständiger Gefahr, vom eigenen Vater oder einem Bruder oder einem Cousin zur Rettung der Familienehre ermordet zu werden.
Vor kurzem hatten wir einen Prozess vor dem Schwurgericht in Würzburg. Ein junger Moslem hatte seine Schwester erschossen, weil sie sich in einen Deutschen verliebt hatte und sich weigerte einen entfernten Verwandten, der ihr von der Familie zugedacht war, zu heiraten. Fünfzehn Jahre wegen Totschlags hat die Kammer ihm aufgebrummt.“ Brunner gab Gas, weil sich die Schlange jetzt zügiger weiterschob, dabei fuhr er fort: „Der Oberstaatsanwalt, der dieses Verfahren angeklagt hatte, ein Dr. Christian Haenisch, wurde jetzt vom Ministerpräsidenten zum Staatssekretär im Innenministerium ernannt. Spezialauftrag: Unter Federführung des Landeskriminalamtes Bekämpfung der illegalen Machenschaften der beiden Clans hier in Bayern. Zerschlagung der illegalen Untergrundstrukturen der beiden Familienclans, Schutz von verfolgten Frauen und letztlich Beweisbeschaffung zur gerichtlichen Verfolgung dieser Straftaten. Federführend durch meine Soko!“
Simon Kerner stieß bewundernd die Luft aus. „Da hat sich Bayern aber was vorgenommen!“
„Das kannst du laut sagen!“
Brunner gab mehr Gas, weil sich der Stau langsam auflöste, ohne dass ersichtlich wurde, warum er sich eigentlich gebildet hatte.
„Dir ist schon klar, das ist eine verdammt gefährliche Sisyphusarbeit!“, äußerte Kerner seine Einschätzung. „Warum hast du dir das angetan? War es dir bei der Mordkommission zu langweilig?“
„Dr. Haenisch hat mit mir in zahlreichen Strafverfahren zusammengearbeitet. Er wollte mich ausdrücklich für diesen Job haben.“
Kerner schwieg.
„Wir bekommen für die Soko jede personelle und technische Unterstützung, die wir benötigen. Da werden wirklich Nägel mit Köpfen gemacht. Der Staatssekretär wird auch nicht in München residieren. Er wird irgendwo im Spessart, im Zentrum der Bandentätigkeit, ein geeignetes Haus beziehen. Wir sind auch für seinen persönlichen Schutz zuständig. Du kannst dir ja vorstellen, wir stechen da in ein böses Hornissennest.“
Das blaue Wegweiserschild zeigte noch zwanzig Kilometer bis zur Abfahrt Würzburg – Heidingsfeld. Die restliche Strecke legten sie schweigend zurück.
Brunner fuhr zuerst bei sich zuhause vorbei, um Kerner die Möglichkeit zu geben, sein Gepäck unterzubringen und sich kurz frisch zu machen. Währenddessen räumte er selbst einige Sachen in einen Koffer zusammen, damit er sich an der neuen Dienststelle umziehen konnte. Als Kerner aus der Dusche kam, zeigte Brunner ihm seinen Kleiderschrank.
„Ich habe dir, soweit es ging, Platz gemacht.“ Er wies auf einen kleinen Tresor, der in den Schrank eingebaut war. „Der ist für meine Dienstwaffe, wenn ich nach Feierabend zuhause bin. Aber …“, er drückte in die Tastatur eine Zahlenkombination ein und die gepanzerte Tür schwang auf, „… hier verwahre ich auch meine private Zweitwaffe.“ Er griff in den Tresor und brachte einen Revolver zum Vorschein, der in einem Corduraholster steckte. „Für alle Fälle. In meinem Beruf weiß man ja nie …“ Er zog den kurzläufigen Revolver heraus und klappte die Trommel auf. „Er ist immer geladen. Munition liegt auch dabei.“ Er deutete auf eine Munitionsschachtel. „Ich werde ihn nicht mitnehmen, sondern hierlassen.“ Er legte die Waffe wieder zurück. „Falls du mal Bedarf hast … Die Kombination ist simpel.“ Er nannte ihm die Zahlenreihe.
„Besser nicht, das wäre illegal“, gab Kerner zurück. „Ich habe gerade andere Sorgen.“
Wenig später händigte Brunner seinem Freund einen Schlüssel für seine Wohnung aus, dann fuhr er ihn zur Universitätskinderklinik. Er bat Kerner, Theresa und Clara liebe Grüße auszurichten, dann verabschiedete er sich. In den nächsten Tagen würde er wohl nicht nach Hause kommen.

Die Stimme
Der Anruf mit dem speziellen Klingelton kam wieder kurz nach Mitternacht. Der Angerufene nahm das Gespräch an, wohl wissend, wer sich am anderen Ende der Leitung befand.
„Ja“, meldete er sich knapp. „Ich habe deinen Anruf schon seit geraumer Zeit erwartet.“ Seine Stimme klang streng.
Wegen der Verfremdung waren ihr keine Emotionen anzumerken.
„Du weißt, dass ich mit diesen Informationen Kopf und Kragen riskiere. Außerdem sind die aktuellen Entwicklungen noch nicht hundertprozentig abgeschlossen.“
Er nahm den Einwand zur Kenntnis, ging aber nicht weiter darauf ein. „Sprich!“
„Ihr solltet Folgendes wissen: Es muss dem Landeskriminalamt schon vor längerer Zeit gelungen sein, einen Spitzel undercover in die Familie von Mustafa al-Asmani einzuschleusen. Jedenfalls haben sie Informationen über einen Teil bestimmter Geschäfte dieser Familie. Ich vermute, dass sie das auch bei euch versuchen werden – oder vielleicht schon getan haben. Diese Information ist streng geheim, davon weiß nur ein kleiner Kreis in der Führungsspitze, da diese Menschen ihr Leben riskieren. Ich bin sicher, dabei handelt es sich um Männer mit Migrationshintergrund, da sie ja weder durch Aussehen noch durch Sprache auffallen dürfen.“
„Bis jetzt haben wir bei uns keinerlei Aktivitäten eines Spitzels festgestellt. Alle unsere Geschäfte sind reibungslos über die Bühne gegangen. Nie wurde ein Deal gestört oder verhindert.“
„Sie haben jetzt diese Soko eingerichtet. Dahinter steckt ein massiver politischer Wille, sonst hätten sie nicht ihre Aktivitäten auf die Ebene eines Staatssekretärs gehoben. Vermutlich warten sie auf den großen Coup, um zuzuschlagen. Sie werden sicher ihre Undercover-Leute nicht wegen einer Kleinigkeit verbrennen.“
„Gut, wir sind gewarnt“, gab der Angerufene zurück, „und werden die Augen offenhalten.“
„Ihr solltet aber jetzt nicht anfangen alle Familienmitglieder misstrauisch zu beobachten. Wenn sie merken, dass ihr gewarnt wurdet, werden sie die eingeschleuste Person sofort zurückziehen. Ach, noch etwas. Meine Quellen sind für mich nicht mehr so leicht zugänglich, ohne mich verdächtig zu machen. Es kann sein, dass der Informationsfluss ein wenig ins Stocken gerät. Es wäre daher sinnvoll, sich auch von anderer Seite Informationen zu beschaffen.“
Die Antwort ließ ein paar Sekunden auf sich warten. Dann kam sie mit aller Bestimmtheit. „Du strengst dich ganz einfach weiterhin an. Sie werden versuchen, unsere Geschäfte zu stören, das müssen wir unterbinden. Ich wiederhole mich: Vergiss nicht, was du uns zu verdanken hast!“
Er wartete keine Antwort ab, sondern legte auf. Nachdenklich betrachtete er die Muster der beiden wertvollen Wandgobelins, die das Zimmer zierten. Schließlich trank er sein Glas Tee leer und stand auf, um sich ins Bett zu legen. Die Tatsache, jemand in vorderster Spitze der Verbrechensbekämpfung zu haben, war nicht mit Gold aufzuwiegen. Dieser Mensch würde loyal bleiben, solange er wusste, dass er wirksame Druckmittel in einem Bankschließfach liegen hatte. Wann diese Schuld beglichen war, entschied er. Er wusste natürlich, dass diese Person der Familie keine echte Loyalität entgegenbrachte. Andere hätten es wahrscheinlich das Ergebnis von Erpressung genannt. Auf solche Leute konnte man sich allerdings oftmals besser verlassen als auf Familienbande. Er zuckte mit den Schultern, löschte das Licht und verließ den Raum. Er lag noch lange wach. Mittlerweile verdienten sie ihr Geld auch mit legalen Geschäften. Nicht immer, aber immer häufiger. Eine Störung auf diesem Weg zur Seriosität konnten sie absolut nicht gebrauchen. Man musste vorsichtig sein. Trotzdem war ein warnender Fingerzeig in Richtung dieser neuen Polizeitruppe angezeigt. Es war sicher nicht schwierig, herauszufinden, wo dieser Staatssekretär und der Leiter dieser Sonderkommission wohnten.

Zehn Tage später:
Simon Kerner las mit zufriedener Miene das Schreiben, das er sich an Brunners Adresse schicken ließ. Vor knapp zwei Wochen hatte er den Antrag gestellt, heute gegen Mittag wurde er bereits vom Postboten eingeworfen.
„Gratuliere, Herr Rechtsanwalt Dr. Simon Kerner“, stellte er im Selbstgespräch für sich fest. „Jetzt benötigt der Herr Rechtsanwalt ein Büro und dann vor allen Dingen Klienten.“
Mittlerweile hatte sich Kerner einen dunkelgrünen Jeep Wrangler zugelegt, um wieder mobil zu sein. In einem früheren Leben, bevor er nach Südafrika ausgewandert war, fuhr er immer einen Land Rover Defender. Nachdem aber seine damalige Lebensgefährtin in seinem Wagen auf dramatische Weise zu Tode gekommen war, lehnte er diese Marke aus emotionalen Gründen ab. Obwohl er im Augenblick natürlich kein Geländefahrzeug benötigte, hatte er sich in Afrika derart an diesen Fahrzeugtypus gewöhnt, dass er sich auch hier einen Jeep gekauft hatte.
Im Augenblick stand er mit einer Anwaltskanzlei in Karlstadt in Verhandlung, deren Inhaber aus Altersgründen aufhören wollte. Er hoffte, dass sein Ruf als Jurist in Main-Spessart noch nicht vergessen war. Von daher hoffte er, die Mandanten des ausscheidenden Anwalts übernehmen zu können und neue hinzuzugewinnen. Er machte von der Zulassung ein Foto und schickte es mittels seines Mobiltelefons an den Kanzleiinhaber. Große Erläuterungen musste er dazu nicht schreiben. Die Botschaft war selbsterklärend. Er steckte das Handy wieder ein, das er zwei Tage nach ihrer Ankunft in zweifacher Ausführung kaufte, eines für Theresa und eines für sich. Zunächst würden sie die Geräte als Prepaidhandys benutzen. Für Vertragsangelegenheiten hatte er jetzt nicht die Zeit.
Theresa würde sich freuen, wenn sie gleich erfuhr, dass sie wieder die Möglichkeit hatten, sich eine Existenz zu schaffen. Simon Kerner verließ die Wohnung seines Freundes und stieg ins Auto. Sein täglicher Besuch bei seiner Tochter lag an. Zuvor wollte er eine Kleinigkeit einkaufen, um Clara und Theresa eine Freude zu machen. Er kam an einer Buchhandlung vorbei und nahm für Theresa etwas Lesestoff mit. Wenig später fuhr er durch die Schranke an der Einfahrt zum Universitätsklinikum in der Josef-Schneider-Straße. Die Kinderkrebsstation lag nur ein paar Meter entfernt. Es dauerte etwas, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Da die Besuchsmöglichkeiten für Eltern ganztägig gegeben waren, konnte er direkt zu Claras Zimmer durchgehen. Er machte sich in einem dafür vorgesehenen Bereich steril, dann klopfte er leise an und trat ein. Mutter und Kind belegten im Augenblick ein gemeinsames Zimmer. Sein erster Blick ging zu seiner Tochter, die in ihrem Bett am Fenster lag. Sie schlief. Theresa, die neben dem Bett saß, legte die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, zur Seite und kam ihm entgegen. Sie umarmten sich kurz, dann fragte Kerner: „Wie geht es ihr heute?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Die Chemotherapie schlaucht sie schon gewaltig. Sie hat kaum Appetit. Sie schläft viel. Der Professor meint, das würde ihr helfen Kraft zu schöpfen. Wenn man ihm Glauben schenken kann, verträgt sie die Chemo ganz gut und es sei schon gelungen, das Wachstum der Krebszellen etwas zu bremsen.“