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„Ich weiß“, gab Berger zurück, „ich muss mich auch vielmals entschuldigen, aber die Parkplatzsituation rund um den Würzburger Bahnhof ist einfach katastrophal.“
Der Mann im Rollstuhl machte eine ungeduldige Geste. „Das nächste Mal planen Sie Verzögerungen mit ein. So, jetzt sehen Sie zu, dass wir hier von diesem zugigen Bahnsteig runterkommen.“
Der Service-Mitarbeiter trat einen Schritt nach vorn. „Leider ist der Würzburger Bahnhof noch nicht mit einem Lift ausgestattet, so dass wir bedauerlicherweise einen kleinen Umweg nehmen müssen. Folgen Sie mir doch bitte.“
Einer der schweigsamen Begleiter des Rollstuhlfahrers hängte den Gepäcktrolley hinten an den Rollstuhl, dann steuerte der alte Mann das Gefährt hinter dem Servicemann her. Die Männer folgten. Über verschiedene Umwege erreichten sie schließlich den Bahnhofsvorplatz. Der Service-Mitarbeiter verabschiedete sich. Seine Aufgabe war erfüllt. Auch er erhielt ein großzügiges Trinkgeld, dann eilte er davon.
Auf dem Parkplatz steuerte Berger einen Kleinbus an, der auf Knopfdruck über eine Fernbedienung nach hinten eine Rampe ausfuhr, mit deren Hilfe Luccaliano bequem in das Fahrzeug fahren konnte. Dort wurden die Räder seines fahrbaren Untersatzes arretiert. Seine beiden Begleiter setzten sich neben den Fahrer. Luccaliano blieb während der Fahrt im Rollstuhl sitzen. Obwohl er mit unbeweglicher Miene aus dem Fenster sah, erfüllten ihn tief in seinem Innersten sehr gemischte Gefühle, als er draußen die Häuser der Stadt an den Scheiben vorbeihuschen sah.
Eine halbe Stunde später rollte der betagte Italiener über die barrierefreie Schwelle einer Penthousewohnung im Stadtteil Frauenland. Die auf dem Dach eines sechsstöckigen Bankhauses erbaute Wohnung war großzügig geschnitten und nahm das gesamte oberste Stockwerk des Gebäudes ein. Sie verfügte über eine Dachterrasse und genügend Räume, da auch Personal mit einziehen sollte.
Seniore Luccaliano zog den Hut vom Kopf und warf ihn auf den Sessel einer Polstergarnitur aus weißem Leder. Unter der Kopfbedeckung kamen militärisch kurz geschnittene weiße Haare zum Vorschein, die einen markanten Kontrast zu seinem gebräunten Teint bildeten. Ein Buch, das er zwischen Oberschenkel und Rollstuhllehne eingeklemmt hatte, legte er auf den Tisch. Offenbar hatte er im Zug darin gelesen. Langsam bewegte er sein Gefährt vor die westliche Wand des Wohnzimmers, die aus einer aus einzelnen Glassegmenten zusammengesetzten Fensterfront bestand. Durch die Scheiben konnte man einen Teil der Dachterrasse sehen. In der Ferne war die markante Skyline der Festung Marienberg zu erkennen. Luccaliano versank eine ganze Weile in der Betrachtung der Aussicht, dann drehte er den Rollstuhl abrupt um und stellte die Bremsen fest. „Adriano, helfen Sie mir bitte“, bat er auf Italienisch, dabei wies er auf die Fußstützen. Der mit „Adriano“ angesprochene Begleiter beeilte sich, diese einzuklappen, dann stemmte sich der alte Mann hoch.
Als Berger ihm dabei behilflich sein wollte, knurrte er nur kurz: „Meinen Stock!“ Als er, sich auf die Gehhilfe stützend, festen Stand hatte, löste er die Knöpfe seines Mantels und ließ ihn von den Schultern gleiten. Adriano fing ihn auf. Luccaliano trug unter dem Mantel einen maßgeschneiderten Anzug, der seine schlanke Figur betonte.
„Den Rollstuhl können Sie in den Flur schieben“, erklärte Luccaliano Berger. „Innerhalb der Wohnung werde ich ihn nicht benötigen. Wann kommt das Hausmädchen?“
„Magdalena Pawlowicz ist bereits heute früh eingetroffen. Sie hat das für sie vorgesehene Zimmer bezogen und ist jetzt unterwegs, um einige Lebensmittel einzukaufen. Sie haben uns ja Ihre entsprechenden Wünsche übermittelt. Ich denke, sie wird in der nächsten halben Stunde zurück sein. Möchten Sie sich vielleicht nach der langen Reise etwas ausruhen? Es ist auch einige Post für Sie eingetroffen.“
Luccaliano winkte ab. „Zeigen Sie zunächst einmal meinen Männern ihre Zimmer. Dann möchte ich das Bad sehen und anschließend die restliche Wohnung. Ich habe sie bisher ja nur auf Bildern gesehen.“
Bevor Luccaliano das Bad betrat, blieb er kurz stehen und kramte in seiner Hosentasche. Er zog einen Zettel hervor und übergab ihn Berger.
„Rufen Sie diese Nummer hier an. Sie gehört einem Ronald Schneider. Sagen Sie ihm, dass sein Cousin Michael aus Rom ihn sprechen möchte. Sicher wird er erst einmal überrascht sein, denn er weiß nicht, dass ich in Würzburg bin. Aber das macht nichts. Sagen Sie ihm, dass Sie ihn in drei Stunden zu Hause abholen.“
„Was ist, wenn er mir nicht glaubt? Wenn er Fragen hat?“
Luccaliano lachte leise. „Sagen Sie ihm, dass ich meine Planungen, die ich in meinem Brief angedeutet habe, früher als gedacht realisieren konnte. Glauben Sie mir, er wird kommen.“ Dann humpelte er ins Bad.
Riccardo Luccaliano hörte das Läuten der Klingel. Luigi, der zweite Begleiter des Italieners, ging zur Sprechanlage im Flur. Luccaliano warf einen prüfenden Blick auf den Couchtisch. Magdalena hatte trotz der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung gestanden hatte, alles zu seiner Zufriedenheit gerichtet.
Es dauerte einige Minuten, dann kam Ron Schneider ins Zimmer.
Der Italiener ging seinem Gast am Stock einige Schritte entgegen.
Ron Schneider blieb in der Tür stehen und musterte Luccaliano mit großen Augen. „Lieber Cousin, du siehst mich einfach sprachlos! Als ich vorhin den Anruf erhielt, konnte ich es gar nicht glauben. Du bist schon hier! Ich habe erst in einigen Monaten mit dir gerechnet. Also dann, herzlich willkommen in Würzburg! Ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen.“ Er ging auf Luccaliano zu und umarmte ihn.
„Tja, Ronald, manchmal entwickeln sich die Dinge schneller, als man denkt. Ich bin auch sehr glücklich, nach den vielen Jahrzehnten meiner Abwesenheit von Deutschland noch einen Verwandten in Würzburg gefunden zu haben. Schön, dass du dir die Zeit genommen hast, mich so spontan zu besuchen. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.“
„Oh, bitte, nenn mich Ron. Kein Mensch sagt Ronald zu mir. Ich weiß auch nicht, was sich meine Eltern bei dieser Namenswahl gedacht haben.“
Luccaliano lachte. „Also gut, Ron, komm rein in meine bescheidene Hütte und nimm Platz.“ Er wies zum Couchtisch. „Das Hausmädchen hat eine kleine Auswahl Kuchen besorgt, hoffentlich hat sie deinen Geschmack getroffen.“ Luccaliano hinkte hinter seinem Cousin zu einem Sessel und ließ sich hineinfallen. Schneider nahm auf der Couch Platz. Dabei warf er einen bewundernden Blick auf die Aussicht. „Von wegen ‚bescheidene Hütte‘. Das ist ja ausgesprochen luxuriös. Ich habe das Gefühl, dir ist es in all den Jahren in Italien sehr gut gegangen.“
In der Tür erschien eine junge Frau mit einer Kaffeekanne in der Hand.
Luccaliano stellte sie kurz vor. Ron Schneider nickte ihr zu, sie grüßte zurück.
„Lassen Sie die Kanne auf dem Tisch stehen“, bat der Italiener, nachdem sie eingeschenkt hatte, „wir bedienen uns selbst.“
„Gern“, erwiderte sie, dann zog sie sich zurück.
„Eine sehr nette junge Frau“, stellte Schneider fest.
„Ja, da hat Berger wirklich einen Glücksgriff getan.“
„Es ist schon erstaunlich, auf welchem Wege du mich ausfindig gemacht hast. Bis zu deinem ersten Brief hatte ich von deiner Existenz keine Ahnung. Soweit ich von meiner Mutter weiß, sind mein Vater und seine beiden Brüder im Krieg gefallen. Ich selbst habe ja keine Erinnerung an diese Zeit, da ich am Kriegsende gerade mal ein paar Monate alt war. Weil wir ausgebombt waren, lebten wir einige Jahre auf einem Bauernhof bei Verwandten.“
Luccaliano hörte ihm aufmerksam zu. Er nahm einen Schluck Kaffee, dann lehnte er sich in die Polster zurück.
„Die Erinnerungen an meine Kindheit waren relativ nebulös. Erlebnisse und Geschehnisse sind szenische Erinnerungsfetzen ohne jeglichen Zusammenhang. Auf der anderen Seite steht das Gesicht meines Vaters und meines Onkels Heinrich sehr genau vor meinem geistigen Auge. Ich weiß auch noch, dass meine Mutter bei einem Tieffliegerangriff ums Leben gekommen ist. Mein Vater war dann da und hat sich um mich gekümmert. Wir lebten einige Zeit bei Onkel Heinrich in einem Keller. Plötzlich, eines Tages, drangen Soldaten bei uns ein und haben Vater und Onkel abgeführt. Ich weiß noch, ich habe schrecklich geschrien und da waren außerdem noch diese fürchterlichen Explosionen und überall Feuer. Mein Vater und mein Onkel waren plötzlich weg und ich war alleine. Hier reißt meine Erinnerung ab. Da ist wie ein schwarzes Loch, aus dem allerdings immer wieder ein Gesicht auftaucht, ein böses Gesicht, das mir lange Jahre Albträume bereitet hat. Vermutlich sind das die Eindrücke, die ich von der Bombardierung Würzburgs zurückbehalten habe.“
„… und wie bist du dann nach Italien gekommen? Hatten wir Schneiders dort irgendwelche Verwandte? Ich weiß jedenfalls nichts davon.“
„Nein, das lief ganz anders. In der Rückschau kann es nur so gewesen sein, dass sich fremde Menschen um mich kümmerten. Ich erinnere mich, dass ich längere Zeit mit vielen anderen Kindern, die ebenfalls keine Eltern mehr hatten, in einem Haus lebte. Vermutlich ein Heim für Kriegswaisen. Später kamen immer wieder Paare und haben Kinder mitgenommen, um sie zu adoptieren.
Eines Tages interessierte sich ein Ehepaar auch für mich. Es handelte sich um Silvio und Maria Luccaliano, beide Italiener, die zu Zeiten Mussolinis aus politischen Gründen – Silvio war im Widerstand engagiert – in die USA emigriert waren. Nach dem Krieg kehrten sie in ihre Heimat zurück. Sie waren kinderlos und adoptierten mich. So wurde aus Michael Schneider Riccardo Luccaliano. Meine Adoptiveltern hatten schon vor dem Krieg eine kleine Pastafabrik besessen, die sie nach ihrer Rückkehr wieder aufbauten. Ich war der Kronprinz und habe später die Firma übernommen und zu einem Konzern ausgebaut. Vielleicht hast du schon von Pasta Grande gehört? Diese Pasta wird in meinem Hause hergestellt. Wir beliefern Feinkostgeschäfte in der ganzen Welt.“
Ron Schneider zeigte eine anerkennende Miene. „Natürlich habe ich davon schon gehört. Für diese Edelpasta wird ja auch bei uns Werbung gemacht.“
Luccaliano nickte. „Vor drei Jahren habe ich mich dann aus gesundheitlichen Gründen von der Firmenspitze zurückgezogen. Das Unternehmen ist schon seit geraumer Zeit eine Aktiengesellschaft und wird an der Börse notiert. Die Geschicke lenken jetzt ein Vorstand und ein Aufsichtsrat.“
„Dann vermute ich mal, dass du finanziell ausgesorgt hast?“
Riccardo Luccaliano nickte. „Das kann man so sagen. Doch wie du siehst, kann man sich für alles Geld dieser Welt keine neue Gesundheit kaufen.“
„Stimmt“, gab Ron Schneider zurück, „aber du kannst dir Hilfe fürs Haus und viele andere Annehmlichkeiten leisten, die dir das Leben erleichtern.“ Er machte eine Handbewegung, die die ganze Wohnung umfasste.
Luccaliano zuckte mit den Schultern. „Das ist richtig. Der Wohlstand weckt aber auch Begehrlichkeiten. Man ist gut beraten, sich Leibwächter zu halten. Adrianos und Luigis Job, wie du dir vermutlich schon gedacht hast. Deshalb finde ich es auch wunderbar, jetzt für einige Zeit in Deutschland zu leben. Hier kennt mich niemand und ich hoffe, das bleibt auch so.“
Das konnte Ron Schneider gut verstehen und er versprach, das seinige dazu beizutragen. Als sich Ron Schneider verabschiedete, war die Zeit weit fortgeschritten.
Luccaliano saß noch geraume Zeit vor seiner leeren Kaffeetasse und starrte sinnierend vor sich hin. Sein Cousin Ron schien ein netter Bursche zu sein, trotzdem hatte er ihm einige Motive für seine Heimkehr verschwiegen.
Plötzlich verzog er das Gesicht. Mit einem stechenden Schmerz brachte sich seine Krankheit in Erinnerung. Er rief nach Magdalena und bat um seine Medikamente. Nach dem Einnehmen der Tabletten lehnte er sich in die Polster zurück und wartete. Nach etwa zwanzig Minuten wirkten die Mittel und er konnte wieder frei durchatmen. Nun rief er Adriano und Luigi zu sich und bat sie um einen Bericht über den Fortgang der Planungen des Projekts.
28. Juli
Filipp Filißter, von seinen Bekannten nur Fili genannt, saß in seinem pompösen Büro in der Würzburger Innenstadt und brütete über Plänen. Filißter-Immobilien war eines der erfolgreichsten Immobilienbüros der Domstadt. Fili verdankte diese Stellung seinem nimmermüden Geist, der immer über irgendwelchen Plänen brütete. Planungen, die er natürlich in erster Linie im Interesse der Stadtentwicklung seiner Heimatstadt verfolgte. Eigentum verpflichtete. Dass er sich dabei auch ein beträchtliches Vermögen erarbeiten konnte, war ihm einfach so widerfahren. Allerdings hatte er sich auch nicht dagegen gewehrt.
Nachdenklich stieß er bei diesen Überlegungen mit dem Kugelschreiber gegen den postkartengroßen Bilderrahmen, der immer in Sichtweite vor ihm stand und sein Konterfei hinter Glas zeigte. Das Foto war nicht ganz aktuell, es präsentierte einen wesentlich jüngeren Fili – eine Aufnahme, die in der Gründerzeit von Filißter-Immobilien entstanden war und einen schlanken jungen Mann zeigte, der am Beginn seiner Karriere stand und freundlich in die Kamera lächelte. Fili betrachtete das Foto mit einer gewissen Wehmut. Heute müsste der Rahmen für die Stimmigkeit der Proportionen etwas großformatiger ausfallen. Die Jahre hatten ihm nicht nur Erfolg, sondern auch ein paar Pfunde Übergewicht eingebracht. Aber was sollte es: Ein Mann ohne Bauch war praktisch ein Krüppel. So verkündete es jedenfalls der Volksmund und der hatte ja bekanntlich meistens recht.
Das Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Sein „Herein“ war noch nicht verklungen, als Rosemarie Engelstoß, seine altgediente Sekretärin, ihren Kopf zur Tür hereinstreckte. Sie war, wie Fili, ergraut, trug aber eine flotte Kurzhaarfrisur. Ihr lindgrünes leichtes Kostüm trug den sommerlichen Temperaturen Rechnung und betonte ihre schlanke Figur. Vor ihrer Brust baumelte an einer Kette eine Lesebrille.
„Herr Filißter, draußen steht ein Herr Lupo. Er möchte Sie dringend sprechen. Er hat allerdings keinen Termin. Es gehe um eine eilige Immobilienangelegenheit, hat er gesagt, die keinen Aufschub duldet.“ Sie trat ganz ein und schloss die Tür, dann trat sie näher an ihren Chef heran und erklärte mit gedämpfter Stimme: „Der Mann ist mir völlig unbekannt. Ein sehr mürrischer Zeitgenosse. Italiener, wie ich vermute. Sein Deutsch ist allerdings ganz annehmbar.“
Fili überlegte eine Sekunde, dabei warf er beiläufig einen Blick auf seine Armbanduhr. Elf Uhr. Um zwölf wollte er zum Mittagessen zu Hause sein. Es blieb also noch etwas Zeit. Er nickte: „Also gut, Engelchen, ich lasse bitten.“ Eine Formulierung, die er nur bei Besuchern benutzte, die er beeindrucken wollte. Geschäftsverbindungen nach Italien standen zurzeit an oberster Stelle seiner Agenda. Die krisenbehafteten wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Stiefel führten dazu, dass sich manche Menschen von ihren Immobilien trennen mussten. Da half man als Geschäftsmann mit europäischen Verbindungen doch gern aus.
Der Mann, dem Engelchen, wie er seine Sekretärin gern nannte, die Tür aufhielt, war für einen Italiener recht groß. Mehr als eins achtzig, schätzte Filißter. Er war schlank, trug einen hochwertigen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelrote Seidenkrawatte. Seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert – vermutlich italienische Designerschuhe. Das schwarze Haar trug er dicht an den Kopf gegelt, sein Teint war gebräunt. Unter buschigen dunklen Augenbrauen musterten zwei dunkle Augen den Immobilienmakler. Diese Eindrücke hatte sich Filißter mit einem schnellen Blick verschafft. Es gehörte zu seinem Geschäft, Menschen blitzschnell einzuschätzen. Im Immobiliengeschäft, wo sich nicht wenige Scharlatane tummelten, war das die Basis des Erfolgs.
Filißter erhob sich und streckte dem Besucher die fleischige Hand entgegen. „Grüß Gott, Herr Lupo, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“
Sie schüttelten sich kurz die Hände und Filißter wies auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Der Mann nahm entspannt Platz.
„Herr Filißter, ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen.“ Dabei zog ein angedeutetes Lächeln über seine Gesichtszüge.
Der Immobilienmakler hob verwundert die Augenbrauen. Bis jetzt war ihm nicht bewusst, dass er Hilfe benötigte. Dann kam der Besucher sofort zur Sache. Schon nach wenigen Sätzen überzog Filißters Gesicht eine fahle Blässe und er riss ungläubig die Augen auf. Als er etwas entgegnen wollte, hob der Mann herrisch die Hand.
„Sie haben verstanden, was ich gesagt habe. Ich empfehle Ihnen eindringlich zu kooperieren. Sie sollten die Ernsthaftigkeit dieses Angebots keinesfalls in Frage stellen. Die Konsequenzen müssten Sie tragen.“ Er erhob sich langsam. Dabei beugte er sich leicht nach vorn und der Immobilienmakler konnte unterhalb seiner linken Achsel eine Ausbeulung erkennen, über deren Ursache er nicht rätseln musste. Filißter war regelmäßiger Konsument einschlägiger Fernsehkrimis.
„Ich werde Sie in zwei Stunden anrufen, dann erwarte ich eine positive Antwort. Ihre Mobilnummer habe ich ja.“ Er hob eine Visitenkarte Filißters in die Höhe, von denen an mehreren Stellen im Büro kleine Stapel herumlagen. Vor der Tür blieb er noch einmal kurz stehen und sah über die Schulter. „Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie eine sehr nette Frau haben?“ Ohne ein weiteres Wort verließ er Filißters Büro.
Fili saß wie versteinert in seinem Bürosessel und starrte auf den leeren Besucherstuhl. Hatte er das gerade nur geträumt? Er sog die Luft ein und roch den Hauch eines herben Rasierwassers, den sein Besucher hinterlassen hatte. Kein Traum, brutale Realität! Hastig griff er zum Telefonhörer und wählte seine Privatnummer. Nach dem zweiten Läuten ging seine Frau an den Apparat.
„Hallo Filischatz“, begann sie sofort zu sprechen, „du, es ist gerade ungünstig. Es stellt sich gerade Herr Rossatello, der neue Nachbar, vor, dem du das Haus gegenüber verkauft hast. Ein sehr netter Mann. Du hast mir gar nicht davon erzählt. Gibt es etwas Wichtiges?“
Fili Filißter wurde plötzlich ganz schlecht. Es war richtig, dass das Anwesen schräg gegenüber seinem Wohnhaus zum Verkauf stand. Es stimmte auch, dass ihn der Eigentümer beauftragt hatte, den Verkauf vorzunehmen. Allerdings hatte er noch mit niemandem einen Kaufvertrag abgeschlossen. Er musste an die Worte seines Besuchers denken. Jetzt gab es keinerlei Zweifel mehr an der Ernsthaftigkeit seiner Ausführungen.
„Ach Miez“ – er nannte seine Frau, die eigentlich Marianne hieß, immer bei ihrem Kosenamen – „ich wollte dir nur sagen, dass ich schon jetzt nach Hause komme.“
„Fein, dann kannst du Herrn Rossatello gleich kennenlernen.“
Filißter legte den Hörer auf, sprang hoch und ließ alles stehen und liegen. Sehr zum Erstaunen seiner Sekretärin rauschte er im Eiltempo aus seinem Büro. Sie konnte sich gar nicht erinnern, ihren Chef jemals so in Eile gesehen zu haben.
Fili Filißter warf sich in seinen Pkw, der in der Tiefgarage des Bürogebäudes stand. Das Haus gehörte auch ihm. Zwölf Minuten später steuerte er den Wagen auf sein Grundstück im Steinbachtal, ließ den Mercedes vor der Garage stehen und hastete durch eine schmiedeeiserne Seitentür in den großen Garten, um seinen Bungalow über die Terrasse zu betreten. Im Unterbewusstsein nahm er den Geruch des frisch gemähten Rasens wahr.
„Miez!“, rief er, da sie nicht im Wohnzimmer war. Keine Antwort. Völlig panisch rannte er jetzt in jeden Raum des Bungalows auf der Suche nach seiner Frau. Sie war nirgendwo zu finden. Es gab keine Nachricht, keinen Hinweis. Verzweifelt ließ er sich auf einen Küchenstuhl fallen. Plötzlich vernahm er Essensgeruch. Fili Filißter hob den Kopf und sah zum Herd. Im Backofen brannte Licht. Durch die Scheibe der Bratröhre konnte er eine Auflaufform erkennen. Jetzt war er absolut sicher, dass etwas geschehen war. Seine Frau hätte niemals ein im Ofen befindliches Gericht allein gelassen. Langsam drehte er den Ofen aus.
In diesem Augenblick läutete das Telefon. Der Immobilienmakler sprang auf und hastete ins Arbeitszimmer, griff sich den Hörer und bellte ein „Ja!“ in den Hörer.
„Hallo, Herr Filißter“, drang Lupos Stimme an sein Ohr, „Ihre Frau war so freundlich, der Einladung meines Kollegen zu einem Aufenthalt außer Haus zu folgen. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie unserer Bitte Folge leisten, werden Sie sie unversehrt zurückerhalten. So lange ist sie unser Gast. Sie wissen ja, was Sie zu tun haben. Ich werde Sie in zwei Stunden wieder anrufen.“ Es trat eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Ihre Frau lässt Ihnen noch etwas ausrichten. Sie sollen sich das vegetarische Gericht, das sich in Ihrem Backofen befindet, gut schmecken lassen. Miez, wie Sie sie nennen, hat es mit viel Liebe für Sie zubereitet.“ – Pause – „Wir hören voneinander.“ – Pause – „Da wäre doch noch eine Kleinigkeit. Die Polizei dürfte unser kleines Arrangement sicher nicht interessieren. Die Schlüssel zur Weinstube haben wir an uns genommen. Sie wissen ja warum.“ Das Gespräch wurde unterbrochen.
Filißter erhob sich und eilte in den Flur. Einen Moment starrte er wie hypnotisiert auf das Schlüsselbrett an der Wand. Tatsächlich fehlte der Bund mit den Zweitschlüsseln zum Maulaffenbäck. Die Hilflosigkeit, die er empfand, war schrecklich. Er konnte einfach nicht verstehen, wieso dieser Italiener so harte Mittel einsetzte, um sein Ziel zu erreichen. Warum war ihm das so wichtig? Voller Angst erhob er sich, verließ das Haus und setzte sich in sein Auto. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Wünschen des Entführers seiner Frau nachzukommen.
*
Nepomuk Schlossisweg, der Pächter des Maulaffenbäck, stand in der Küche der Weinstube und diskutierte mit dem Koch über die Spezialität der Woche. Im wöchentlichen Wechsel bot die Küche der Weinstube den Gästen eine fränkische Spezialität an. Dieses Schmankerl wurde, seit man dieses Angebot kreiert hatte, bestens angenommen. Nächste Woche sollten Fränkische Schnickerli mit Kartoffelbrei auf der Speisenkarte stehen – ein Gericht, das traditionsgemäß aus Rinderpansen hergestellt wurde. Früher ein „Armeleuteessen“, jetzt eine Delikatesse.
Der Wirt zog sich sein Trachtenjackett an, das er in der Küche abgelegt hatte. Seit er Gastronom dieses traditionsreichen Weinlokals war, zeigte er sich dort gern bodenständig und konservativ. Passend zu den Dirndln seiner Bedienungen. Seine Gäste mochten es stimmig.
Als alles besprochen war, läutete sein Handy. Am Telefon war seine Frau Annalena. Sie hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Nepomuk, komm bitte so schnell wie möglich nach Hause. Herr Filißter ist hier und möchte dich umgehend sprechen. Es sei sehr dringend!“ Das Drängen in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Ich komme“, gab Schlossisweg zurück. Er war alarmiert. Wenn seine Frau ihn beim vollen Vornamen nannte, hing Ärger in der Luft. Für gewöhnlich sprach sie ihn mit Neppi, seinem Spitznamen, an. Da er seinen Lieferwagen in der Maulhardgasse direkt vor dem Maulaffenbäck geparkt hatte, war er eine Minute später auf dem Weg.
Schlossisweg traf Filißter in der Küche an. Seine Rechte um ein Wasserglas gelegt, saß er am Küchentisch. Seine Miene war sehr angespannt. Frau Schlossisweg saß ihm gegenüber und sah ihrem Mann mit ernstem Gesicht entgegen. Als er sie fragend ansah, zuckte sie nur leicht mit den Schultern. Sie wusste offenbar auch noch nicht, worum es ging. Die Spannung im Raum war fast körperlich zu spüren. Schlossisweg gab Filißter mit knappem Gruß die Hand, dann kam er ohne Umschweife zur Sache. „Fili, was ist passiert?“ Filißter und Schlossisweg kannten sich schon seit langem auf privater Ebene und duzten sich.
Der Immobilienmakler räusperte sich, dann nahm er einen Schluck Wasser. „Neppi, es tut mir sehr leid, dir das sagen zu müssen, aber du musst ab morgen den ‚Maulaffenbäck‘ bis auf Weiteres schließen! Es sind, wie du weißt, im Gewölbekeller einige dringende Sanierungsarbeiten zu erledigen, für die ich jetzt überraschend einen preisgünstigen Handwerker bekommen konnte.“
Diese Ansage schlug beim Wirtsehepaar wie eine Bombe ein. Sie sahen sich völlig entgeistert an. War das ein makabrer Scherz? Nach ihrer Kenntnis war der Immobilienmakler nicht gerade für seine humorige Ader bekannt, wenn es ums Geschäft ging. Nach einer kurzen Pause, in der Filißter keine Anstalten machte, seine Aussage als Witz zu entlarven, fand Neppi Schlossisweg die Sprache wieder.