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1. Kapitel Haftungsgrundlagen incl. Patientenrechtegesetz, § 630a BGB
A. Die Anspruchsgrundlagen1 – 86
I. Übersicht1 – 10
1. Hoheitliche oder privatrechtliche Tätigkeit des Arztes1, 2
2. Das dualistische Anspruchssystem3 – 9
3. Behandlungsfehlervorwurf10
II. Vertragliche Haftung11 – 28
1. Der Behandlungsvertrag11 – 18
2. Vertragspartner19, 20
3. Vertragspflichten21
4. Behandlung22
5. Standard23
6. Abweichende Vereinbarungen24
7. Anwendbare Vorschriften25 – 28
a) § 630b25, 26
b) Haftung27, 28
III. Deliktische Haftung29 – 38
IV. Vergleich der vertraglichen und deliktischen Haftpflicht39 – 53
1. Sorgfaltspflichten und Fehlverhalten des Arztes41 – 43
2. Einstehenmüssen für das Fehlverhalten von Hilfspersonen44
3. Haftungsbeschränkungen45 – 49
4. Expertenstatus des Arztes und Selbstbestimmungsrecht des Patienten50
5. Beweislast für anspruchsbegründende Voraussetzungen51
6. Prägnante Unterschiede52, 53
V. Klagebefugnis, Aktiv- und Passivlegitimation54 – 62
1. Klagebefugnis55, 56
2. Aktivlegitimation57 – 60
3. Passivlegitimation61, 62
VI. Fehler eines Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen63 – 70
VII. Krankenhausträger71, 72
VIII. Selbstliquidierende Ärzte und Belegärzte73 – 76
IX. Instituts- und Chefarztambulanzen77 – 80
X. Beamtete Ärzte81 – 84
XI. Notarzt85
XII. Hebammen86
B. Inhalt, Art und Umfang – die Rechtsfolgenseite87 – 106
I. Überblick87 – 90
II. Schadensarten91 – 104
1. Unmittelbare, mittelbare und Folgeschäden bei Dritten92 – 94
2. Materielle und immaterielle Schäden95 – 104
a) Materielle Schäden96 – 99
b) Immaterieller Schaden100 – 104
III. Mitverschulden105, 106
C. Sonstige Anspruchsgrundlagen im Überblick107 – 133
I. Allgemeines107, 108
II. Haftung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG)109 – 118
III. Haftung für Medizinprodukte119 – 127
IV. Haftung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)128 – 133
1. Hoheitliche oder privatrechtliche Tätigkeit des Arztes
1
Die Frage, ob ein Arzt hoheitlich oder privatrechtlich handelt, stellt sich grundsätzlich nur in Kliniken öffentlich-rechtlicher Träger und speziell, wenn es sich um beamtete Ärzte handelt. Bei der Krankenversorgung handelt es sich grundsätzlich nicht um eine hoheitliche Aufgabe[1]. Nach ständiger Spruchpraxis betätigt sich selbst der beamtete Chefarzt einer Klinik nicht hoheitlich, sondern fiskalisch[2].
2
Eine besondere Stellung nahm nach der älteren Rechtsprechung der Durchgangsarzt ein. Traf der Durchgangsarzt die Entscheidung, welche Art der Heilbehandlung erforderlich war, handelte er hoheitlich. Behandelte er selbst weiter, tat er dies privatrechtlich. Diese Rechtsprechung hat der BGH nunmehr aufgegeben. Der Durchgangsarzt handelt immer hoheitlich. Es besteht ein enger und zeitlicher Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung. Dieser einheitliche Lebensvorgang kann sinnvoll nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden[3]. Das gilt auch für einen vom Durchgangsarzt hinzugezogenen weiteren Arzt[4]. Übernimmt allerdings der Durchgangsarzt nach Beendigung der stationären auch die ambulante Behandlung, so endet damit die hoheitliche Tätigkeit. Die ambulante Behandlung folgt den Regeln des Behandlungsvertrages[5]. Auch die neuere Rechtsprechung des BGH stellt auf eine Zäsur zwischen dem hoheitlichen und dem privatärztlichen Behandeln ab[6]. Die daraus resultierenden Abgrenzungsschwierigkeiten lassen an der Sinnhaftigkeit dieser Rechtsprechung zweifeln[7].
2. Das dualistische Anspruchssystem
3
Jeder arzthaftungsrechtliche Anspruch kann sich sowohl aus Vertrag als auch aus Delikt ergeben. Die Verletzung einer vertraglichen Pflicht aus dem Behandlungsvertrag wird in der Regel zugleich zu einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, des Lebens, oder auch des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Patienten nach § 823 Abs. 1 BGB führen. Es kommt mithin bei einem Fehlverhalten eines Arztes sowohl eine vertragliche als auch eine deliktische Haftpflicht in Betracht. Haftungsansprüche des Patienten gegen den Behandelnden können auf die eine wie die andere Anspruchsgrundlage gestützt werden; sie bestehen nebeneinander (Anspruchskonkurrenz).[8] Die Schadensersatzsumme verdoppelt sich dadurch freilich nicht.
4
Vertrags- und deliktsrechtliche Bezüge überlagern sich: „Für die Reichweite der deliktischen Garantenstellung kann neben dem Fachgebiet und der organisatorischen Rollenverteilung auch die vertraglich übernommene Behandlungsaufgabe von Einfluss sein, wie andererseits faktische Kontrollzuständigkeiten die vertragliche Behandlungsaufgabe mit ausgrenzen.”[9]
5
In der Literatur wird gelegentlich behauptet, dass die vertragliche und die deliktische Haftung völlig identisch seien, gleich laufen und demzufolge auf die deliktische Haftung verzichtet werden könne.[10] Dieser Ansicht ist deutlich zu widersprechen; zwischen beiden Haftungsformen bestehen gewichtige Unterschiede.
6
Jeder Schadensersatz setzt – was gelegentlich auch von Gerichten übersehen wird – einen Schaden voraus. Das gerät zunehmend aus dem Blick, weil in zu starkem Maße auf den Behandlungsfehler abgestellt wird. Ein noch so übler Behandlungsfehler oder eine grobe Aufklärungspflichtverletzung führen nicht zur Haftung, wenn kein Schaden entstanden ist. Liegt kein Schaden vor, fehlt es also auch an jeder Grundlage für einen Vergleich, zu dem Gerichte aber dennoch aus naheliegenden Gründen durchaus drängen.[11]
7
Eine wesentliche Gemeinsamkeit des dualistischen Systems von vertraglicher und deliktischer Haftung besteht in der Geltung des Verschuldensprinzips. Nach geltendem Recht muss stets deutlich bleiben, dass es um das Einstehen für Unrecht, nicht für Unglück geht:[12] „Die reine Arzttätigkeit einer Haftung für besondere Gefahr zu unterwerfen, erscheint absurd. Die medizinische Tätigkeit ist dem Patienten zugewendet. Der Arzt wirkt nicht auf einen gleichmäßigen, sondern auf einen bestenfalls fluktuierenden, regelmäßig sogar reduzierten oder gefährdeten Gesundheitszustand ein. Auch die weitere Verschlechterung liegt zunächst im Risikobereich des Patienten. Dabei hat der Arzt professionelle Standards einzuhalten, mehr nicht.”[13]
8
Die rechtsethische Überlegenheit des gleichermaßen das Vertrags- wie das Deliktsrecht beherrschenden Verschuldensprinzips[14] verbürgt berufliche Freiheit. Auch die Rechtsgemeinschaft gewinnt durch die Beibehaltung des Verschuldensprinzips. Nach berechtigter Kritik zog die EU-Kommission den Richtlinien-Entwurf zur Dienstleistungshaftung mit dem Kernpunkt einer Beweislastumkehr für das Verschulden zugunsten des Dienstleistungsempfängers zurück.[15]
9
Kritisch anzumerken ist, dass sich das Haftpflichtrecht nicht nur in Deutschland erosionsartig ausweitet,[16] wobei sich die Grenzen zwischen Unrecht und Unglück, zwischen Schadenszurechnung und Schadensverteilung verwischen und verschärfte Verkehrspflichten sowie modifizierte Beweisregeln das freiheitsverbürgende Verschuldensprinzip abschwächen und versteckten Gefährdungstatbeständen den Weg bereiten.[17] Hinzukommt die geradezu periodisch aufflammende[18] Diskussion über Alternativen zum herkömmlichen Arzthaftungsrecht[19].
3. Behandlungsfehlervorwurf
10
Unabhängig von dem geschilderten Dualismus der Anspruchsgrundlagen kann die Klage einen Behandlungsfehlervorwurf oder den Vorwurf einer Aufklärungspflichtverletzung zum Gegenstand haben. Beide Vorwürfe können im Prozess auch gebündelt werden. Das muss allerdings in der Klageschrift deutlich werden. Aufklärungs- und Behandlungsfehler in einer Arzthaftungssache sind unterschiedliche Streitgegenstände. Wird mit der Berufung gerügt, ein ärztlicher Eingriff habe „nicht dem Facharztstandard“ entsprochen, wird dadurch der Behandlungsfehlervorwurf noch nicht zum Gegenstand des Berufungsverfahrens[20].
1. Der Behandlungsvertrag
11
Die vertragliche Haftung basiert auf dem medizinischen Behandlungsvertrag.[21] Dieser wurde nach ganz herrschender Ansicht und in der zivilrechtlichen Rechtsprechung in der Regel als Dienstvertrag angesehen.[22] Dabei stellte sich das Haftungsrecht weithin als systematisierte Rechtsprechung dar. Dieser Zustand wurde durch das am 26.2.2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz, das die ältere Rechtsprechung gewissermaßen in einem Gesetz bündelte, festgeschrieben.
12
Ein Patientenrechtegesetz in dem Sinne, dass unter diesem Titel ein eigenständiges Gesetz existiert, gibt es nicht. Vielmehr handelt es sich um ein sogenanntes Artikelgesetz, dessen Artikel Änderungen anderer Gesetze enthalten. Im Wesentlichen wurden die §§ 630a–630h in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingefügt. Weitere Änderungen betreffen das SGB V. Diese Vorschriften sind für den Patienten von weitaus größerer Bedeutung als für den Arzt im Verhältnis zum Patienten.
13
In der jahrzehntelang währenden Diskussion über die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes und seine Ausrichtung wurde der Begriff Patientenrechte nicht definiert. Dabei weichen die Vorstellungen über den Inhalt durchaus stark voneinander ab. Unter Patientenrechte können zum einen die Rechte des Patienten in der Behandlung beim niedergelassenen Arzt oder in der Klinik verstanden werden. Das dürften geschätzt bis zu 12 Milliarden Behandlungsfälle (Patientenkontakte) im Jahr sein. Insbesondere die Patientenschutzverbände verstehen unter den Patientenrechten indessen die Rechte des Patienten im Konfliktfall; das dürften 10.000–300.000 Fälle im Jahr sein. Je nach Definition können und werden andere Forderungen an den Inhalt eines Patientenrechtegesetzes gestellt werden. Die Reform hat sich zu recht dafür entschieden, die Arzt-Patienten-Beziehung im normalen Ablauf zu regeln, nicht so sehr die Konfliktfälle. Sie sind allerdings Gegenstand der Beweislastregeln des § 630h BGB.
14
Weitaus heftiger als der Inhalt wurde bisher die Frage diskutiert, ob ein solches Gesetz überhaupt notwendig sei, zumal es weithin nur den bestehenden, durchaus ausreichenden Rechtszustand in Gesetzesform gieße[23]. Die Begründung der Bundesregierung lautet, dass die Patienten durch die ausdrückliche Aufnahme ihrer Rechte in das BGB besser über ihre Rechte informiert seien, eine Annahme, die füglich bezweifelt werden kann. Aus Sicht der Ärzteschaft steht ein anderer Gesichtspunkt im Vordergrund, nämlich der, dass es unter einer anderen Regierungskoalition schlimmer hätte kommen können und dass das Vorhandensein des Gesetzes in der aktuellen Fassung wahrscheinlich eine weitere zeitnahe Beschäftigung mit dem Thema – und damit eine Verschlimmerung – verhindern wird. In der Diskussion sind derartige Überlegungen aber immer noch. Eine Reform des Arzthaftungsrechts, eventuell in Form einer Fondlösung, wird immer wieder propagiert.
15
§ 630a Abs. 1 BGB normiert den Behandlungsvertrag als Sonderform des Dienstvertrages. Das ergibt sich sowohl aus der Überschrift des Titel 8 – „Dienstvertrag und ähnliche Verträge“ –, dem Wortlaut des § 630a BGB, den Materialien, die sich insoweit auf die ältere einschlägige Literatur berufen[24], als auch ausdrücklich aus § 630b BGB, der zur Lückenfüllung auf die Vorschriften des Dienstvertrages verweist, soweit in den §§ 630a ff. BGB nichts Abweichendes festgelegt ist. Auch die Stellung im Gesetz spricht für dieses Ergebnis und nicht etwa dafür, dass der Behandlungsvertrag dogmatisch zwischen Dienst- und Werkvertrag angeordnet ist[25]. Entsprechendes gilt für den Reisevertrag, der in den §§ 651a BGB geregelt ist, und gleichfalls als spezielle Ausprägung des Werkvertrages angesehen wird[26] und gleichfalls schon vor der Kodifizierung als Werkvertrag behandelt wurde[27]. Der Werkvertrag ist in Titel 9 geregelt.
16
Gegen die Einordnung als Werkvertrag wird zur Recht angeführt, dass das Werkvertragsrecht nicht den Besonderheiten des Behandlungsvertrags entspricht. Insbesondere schuldet der Arzt regelmäßig keinen Heilerfolg. Aber auch die Regelungen zur Sachmängelhaftung und zur Abnahme finden – naturgemäß – auf die medizinische Behandlung eines Menschen keine Anwendung. Die Einordnung des Behandlungsvertrages in das Dienstrecht sichert zudem, dass der Arzt, im Zweifelsfall, gemäß § 613 S. 1 BGB die Leistung in Person erbringen muss. Demzufolge handelt es sich beim Behandlungsvertrag nicht um „einen eigenen Typus“[28], wohl aber wird er durch die Besonderheiten der ärztlichen Tätigkeit charakterisiert.
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Dennoch wird die Frage, ob nicht doch auch Werkverträge oder gar Verträge sui generis als Behandlungsverträge möglich sind, wieder und immer noch erörtert. Zum einen wird eine ausdrückliche Vereinbarung eines Werkerfolges als Abweichung von dem gesetzlichen Leitbild für möglich gehalten[29]. Dem ist aus berufsrechtlichen Gründen zu widersprechen. § 11 Abs. 2 MBO verbietet es dem Arzt, den Erfolg seiner Tätigkeit zu versprechen: „Unzulässig ist es auch, Heilerfolge, insbesondere bei nicht heilbaren Krankheiten, als gewiss zuzusichern“[30]. Diese berufsrechtliche Festlegung beruht auf den tatsächlichen Voraussetzungen, die die medizinische Behandlung des Patienten bestimmen, ,,dass der Einfluß eines derartigen Eingriffes auf den Ablauf biologischer und physiologischer Zusammenhänge im Organismus nicht nur von der ärztlichen Tätigkeit, sondern auch weitgehend von der individuellen Konstitution und dem nachoperativen Verhalten des Patienten abhängig ist“[31].
18
Schwieriger zu beurteilen sind die Fälle, in denen der Arzt Prothesen – im weitesten Sinne – in den Körper integriert. Die Anfertigung der Prothesen (Zahnersatz[32], Sehhilfen u.Ä.) unterfällt nach der älteren Rechtslage jedenfalls dem Werkvertragsrecht[33]. Die Offenheit des Wortlauts des § 630a Abs. 1 BGB könnte dafür sprechen, auf diese Fälle auch die Regeln des Behandlungsvertrages, also Dienstvertragsrecht, anzuwenden. Das ist aber den Materialien zufolge nicht der Fall[34] und wird auch von der neueren Literatur zu recht nicht befürwortet. Es bleibt also für diese handwerklichen oder fabrikmäßigen Anfertigungen beim Werkvertrag. Soweit diese Prothesen aber am menschlichen Körper vorbereitet oder eingepasst werden, gelten die oben genannten Gründe für den Dienstvertrag gleichfalls, so dass auch diese Tätigkeiten dem Behandlungsvertrag gemäß § 630a Abs. 1 BGB unterliegen. Das gilt sowohl für das Verschreiben einer Brille als auch für die Vermessungen zur Vorbereitung einer Zahnprothetik vor der Herstellung einer Prothese, als auch für das Anpassen von Kontaktlinsen und Zahnprothetik. Der bewährte Merksatz behält seine Richtigkeit: Alles was am Patienten geschieht, unterliegt dem Behandlungsvertrag (Dienstvertrag), alles, was außerhalb des Patienten geschieht, folgt dem Werkvertragsrecht. Demzufolge handelt es sich z.B. beim Brillenherstellen um einen Werkvertrag, beim Verschreiben einer Brille um einen Dienstvertrag.
2. Vertragspartner
19
Der Vertrag wird zwischen dem Patienten und dem Behandler abgeschlossen. Behandler ist der Vertragspartner des Patienten, also nicht unbedingt der tatsächlich behandelnde Arzt, wenn er im Angestelltenverhältnis tätig wird. Krankenhausträger, Arzt und Zahnarzt sind also mögliche Vertragspartner. Fraglich ist, ob auch der Tierarzt oder der Apotheker[35] gemeint sind. Überwiegende Gründe sprechen jedenfalls dafür, die Regeln zumindest angepasst auch für ihn anzuwenden[36]. Weiterhin gelten sie auch für den Heilpraktiker, möglicherweise auch für Tätigkeiten wie Piercing-, Tattoo- oder Ohrlöcherstechen.
20
Der Begriff des Behandelnden im Sinne von § 630a wird allerdings in den folgenden Paragraphen nicht beibehalten. In den §§ 630c–f ist der Behandelnde der jeweils am Patienten arbeitende Arzt, nicht etwa der Träger.
3. Vertragspflichten
21
Der Behandelnde hat die Behandlung zu leisten, der Patient das vereinbarte Honorar zu zahlen. Bei der Vereinbarung sind für Privatpatienten die Regeln der GOÄ zu beachten. Gesetzlich versicherte Patienten haben keine Zahlung zu leisten, soweit ein Dritter (die Gesetzliche Krankenversicherung) zur Zahlung verpflichtet ist. Mit dieser Formulierung hat das Gesetz den jahrzehntealten Streit, ob das Verhältnis zwischen Kassenarzt und Kassenpatient ein vertragliches (zivilrechtliches) oder ein öffentlich-rechtliches ist, zugunsten des zivilrechtlichen Ansatzes entschieden.
4. Behandlung
22
Fraglich ist, was unter Behandlung zu verstehen ist, nur die durch die medizinische Indikation gekennzeichnete Heilbehandlung oder auch nichtindizierte Eingriffe und sonstige ärztliche Tätigkeiten? Für die Beschränkung auf die Heileingriffe spricht die Anknüpfung an den medizinischen Standard, den es für nichtindizierte Eingriffe nicht gibt. Der letzte Satzteil des § 630a Abs. 2 hingegen spricht deutlich dafür, dass sämtliche ärztliche Tätigkeiten zum Gegenstand eines Behandlungsvertrages gemacht werden können.
5. Standard[37]
23
Das Gesetz geht in Übereinstimmung mit dem Schrifttum und der Rechtsprechung davon aus, dass Gegenstand des ärztlichen Vertragsangebots die „Zusage des Standards“ ist, dass der Arzt den „Standard guter ärztlicher Behandlung“ stets zu gewährleisten hat und bei dessen Unterschreitung ein Behandlungsfehler vorliegt. „Maßgebend ist der Standard eines erfahrenen Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gesicherte, von einem durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können“[38]. „Standard in der Medizin repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“[39] Erst das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Erkenntnis, ärztlicher Erfahrung und der professionellen Akzeptanz führt zum Standard, der dem einzelnen Berufsangehörigen eine Orientierungshilfe geben soll, und dessen Nichteinhaltung im Schadensfall Verantwortlichkeit begründet. Ein Arzt, der den Standard einhält, erfüllt seine Sorgfaltspflicht. Der an sein Tun anzulegende Sorgfaltsmaßstab ist der Standard[40].
6. Abweichende Vereinbarungen
24
Problematisch ist der letzte Satzteil des § 630a Abs. 2, der Vereinbarungen zulässt, die vom Standard abweichen[41]. Ein Unterschreiten des Standards wird gemeinhin als Behandlungsfehler gewertet[42] und kann daher nicht Gegenstand des Behandlungsvertrages werden[43]. Da die Materialien zu Unrecht den Standard mit den Leitlinien gleichsetzen[44], ist der zweite Absatz wie folgt zu lesen: Die Behandler schulden eine leitlinienkonforme Behandlung. Von den Leitlinien darf aus zwei Gründen abgewichen werden: neue Behandlungsmethoden und die besonderen Umstände des Einzelfalls. „Mithin führt ein Abweichen des Behandelnden vom gültigen Standard nicht notwendig zu einem Behandlungsfehler. Entsprechendes dürfte auch dann gelten, soweit der Behandelnde plausibel begründen kann, dass die Befindlichkeit seines Patienten so stark von der Regel abweicht, dass eine modifizierte Strategie ergriffen werden musste.“[45] Diese Vorgabe des Gesetzgebers hat der BGH jüngst nachdrücklich bestätigt[46].
a) § 630b
25
§ 630b verdeutlicht nochmals, dass der Behandlungsvertrag ein besonderer Dienstvertrag ist, auf den alle Vorschriften des Dienstvertragsrechts (für Dienste höherer Art) anzuwenden sind, soweit die §§ 630a–h BGB keine spezielleren Regeln enthalten. Bei dem Behandlungsvertrag handelt es sich um ein Dienstverhältnis, „das kein Arbeitsverhältnis im Sinne des § 622 ist“ (§ 621 BGB). Entsprechend gelten nur die Regeln für die „Dienste höherer Art“ (§ 627 Abs. 1 BGB).
26
Die anzuwendenden Vorschriften sind: § 612 (Vergütung), 613 (Persönliche Leistungserbringung), 614 in Verbindung mit § 12 GOÄ (Fälligkeit der Vergütung), die §§ 626 und 627 (Kündigungsgründe) und § 628 (Teilvergütung, mit der Möglichkeit, Vorschuss zu verlangen).
b) Haftung
27
Die §§ 630a ff. enthalten keine Regelungen zur Leistungsstörung. Auf Grund des Fehlens spezifischer Regelungen für die Schlechterfüllung ist auf das allgemeine Schuldrecht zurück zu greifen, insbesondere auf § 280 Abs. 1. Die Haftung wegen einer Pflichtverletzung aus dem Behandlungsvertrag setzt aus diesem Grund, neben dem Bestehen eines Behandlungsvertrags gemäß § 611 BGB als Schuldverhältnis i.S.d. § 280 Abs. 1 BGB, eine schuldhafte Pflichtverletzung des Arztes oder seiner Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) und den Eintritt eines dadurch verursachten Schadens voraus.
28
Ob die dem Vertragsrecht eigene Verschuldensvermutung des § 280 Abs. 1 S. 2 im Arztrecht anwendbar ist[47], war für die Vorläufervorschrift (§ 282 BGB) strittig. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass § 280 Abs. 1 S. 2 auch im Arzthaftungsrecht gilt[48]. Die Verschuldensvermutung stellt dabei nur auf den ersten Blick einen Vorteil des Vertragsrechts gegenüber dem Deliktsrecht dar. Der Frage, ob dieser Verschuldensvermutung im Arzthaftungsrecht uneingeschränkt zur Anwendung gelangen soll, kommt jedoch keinerlei praktische Relevanz zu, da der Beweis des ärztlichen Verschuldens nahezu nie problematisch ist.[49]
III. Deliktische Haftung
29
Das Vorliegen eines Behandlungsvertrags ist im Rahmen der deliktischen Haftung unerheblich. Der Haftungsgrund liegt allein in der Verletzung eines individuellen Rechtsguts[50] aufgrund der faktischen Übernahme der Behandlung. Aus der Behandlungsübernahme folgt für den Arzt die Pflicht, die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen vorzunehmen, für deren Unterlassen[51] er ebenso wie für sein Tun einzustehen hat.[52]
30
Der in der Literatur vertretenen Ansicht, Haftungstatbestand sei arztrechtlich bereits der Behandlungsfehler[53], trat der BGH mit Grund entgegen: ,,Das Deliktsrecht bezweckt den Schutz von Rechtsgütern und sieht die Sanktion des Schadensersatzes nur für den Fall vor, dass ein individuelles Rechtsgut verletzt ist“.[54] Die Voraussetzungen einer deliktischen Haftung nach dem Grundtatbestand des § 823 Abs. 1 BGB sind die Verletzung eines durch das Deliktsrecht geschützten Rechtsguts (insbesondere Leben, Körper, Gesundheit, aber gegebenenfalls auch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht) aufgrund einer rechtswidrigen und schuldhaften Verletzungshandlung, sowie der Eintritt eines durch die Verletzungshandlung kausal verursachten Schadens.[55]
31
Im Rahmen der deliktischen Haftung ist darüber hinaus auch die Haftung des Geschäftsherrn für vermutetes Verschulden nach § 831 BGB von Bedeutung. Bei § 831 BGB handelt sich um einen selbstständigen Anspruch gegen den Geschäftsherrn wegen eigenen Verschuldens, wobei die zum Schadensersatz verpflichtende Handlung in einem Unterlassen liegt. Voraussetzung der Haftung (etwa eines Krankenhausträgers, leitenden Arztes, aber auch ein zum Notfalldienst verpflichteter Arzt, der sich vertreten lässt[56]) ist, dass der im Interessenkreis des Geschäftsherrn[57] eingesetzte, weisungsgebundene Verrichtungsgehilfe[58] den objektiven Tatbestand eines der §§ 823 f. BGB (Verschulden ist aber nicht erforderlich) erfüllt und den Schaden auch gerade in Ausführung der Verrichtung herbeigeführt hat. Nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB besteht für den Geschäftsherrn die Möglichkeit, sich von seiner Haftung durch den Nachweis zu befreien, dass ihn bei Auswahl, Anleitung und Beaufsichtigung des Verrichtungsgehilfen kein Verschulden trifft.[59] Hierbei handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Dabei stellen die Gerichte an diesen Entlastungsbeweis sehr hohe Anforderungen.[60]