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In einer weiteren Entscheidung des BGH vom 26.5.2020[12] in demselben Fall – das OLG Koblenz hatte im Rahmen der erneuten Befassung mit der Sache nach Zurückverweisung grob fahrlässige Unkenntnis der den Kläger vertretenden Anwaltskanzlei in verjährungsrelevanter Zeit unterstellt – hat er es nicht ausreichen lassen, dass der Kanzlei aus der Bearbeitung eines anderen, aber ähnlich gelagerten Falls medizinische Fachkenntnisse unterstellt wurden, weil auch von den Bevollmächtigten nicht verlangt werden könne, Behandlungsunterlagen auf schadenskausale Behandlungsfehler zu überprüfen.
18
Der Patient muss aus seiner Laiensicht von einem Behandlungsfehler erfahren haben, der zu dem bei ihm vorliegenden Primärschaden geführt hat. Nicht erforderlich ist es, dass er den Fehler medizinisch zutreffend erkannt hat. Insoweit kommt es weiterhin nicht auf die medizinisch korrekte Bewertung an. Ihm muss aber deutlich geworden sein, dass ein schadenskausales ärztliches Fehlverhalten vorlag.[13]
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Eine jüngere Entscheidung des OLG Hamm[14] verdeutlicht diesen Grundsatz: Die dortige, im Jahr 1993 geborene Klägerin hatte geltend gemacht, dass ihre Mutter mit einer eitrig-fötiden Kolpitis in die beklagte geburtshilfliche Klinik aufgenommen und grob standardwidrig nicht mit Antibiotika behandelt worden sei. Dadurch sei es zu einem Fortschreiten der Infektion und zu einer Frühgeburt gekommen, bevor eine Lungenreifebehandlung ihre volle Wirkung entfalten und sie, die Klägerin, vor den typischen, durch die Frühgeburtlichkeit eingetretenen Schäden bewahren konnte. Die Mutter der Klägerin hatte aus einem Fördergutachten aus dem Jahr 2000 Kenntnis davon, dass bei ihr eine nicht erkannte Streptokokken-Infektion vorgelegen habe. Das hat das OLG für den Verjährungsbeginn nicht ausreichen lassen, weil sie daraus nicht unbedingt habe schließen müssen, dass die Infektion fehlerhaft von den Beklagten nicht sofort erkannt und behandelt worden sei.
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Maßgeblich für die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis ist der Eintritt der ersten Schadensfolge.[15] Der gesamte einer unerlaubten Handlung entspringende Schaden stellt eine Einheit dar. Es kommt daher für den Beginn der Verjährung nicht darauf an, wann der Verletzte von den einzelnen Schadensfolgen Kenntnis erlangt. Es gelten dann auch solche Schadensfolgen als bekannt, die im Zeitpunkt der Erlangung Kenntnis nur als möglich voraussehbar waren. Nur solche Schadensfolgen, die nicht voraussehbar waren, sondern sich erst später nach anscheinend ganz leichten Verletzungen unerwartet einstellen, sind von der Kenntnis des Gesamtschadens nicht erfasst. Für sie kann eine besondere Verjährungsfrist laufen.[16]
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Die zutreffende rechtliche Würdigung ist für den Verjährungsbeginn unerheblich, einmal abgesehen von ganz seltenen Ausnahmefällen, so zum Beispiel nach der Änderung der Rechtsprechung des BGH zur Haftung des Rettungsdienstträgers für fehlerhafte Notfallbehandlung anstelle des eingesetzten Notarztes.[17]
II. Feststellungen zum Zeitpunkt der Kenntnis, Fallgruppen
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Es gehört zu den Raritäten des Arzthaftungsprozesses, dass die Patientenseite mit dem Vortrag in die Auseinandersetzung geht, schon in verjährungsrelevanter Zeit von einem schadenskausalen Behandlungsfehler erfahren zu haben. Das OLG Saarbrücken[18] hatte den Fall einer Patientin, die nach Klagerhebung im Jahr 2017 erklärte, der Operateur der beklagten Klinik habe ihr gleich nach der Schilddrüsen-OP im April 2013 erklärt, dass er nicht wisse, was am Tag der OP mit ihm los gewesen sei, er habe geglaubt, die Schilddrüse sei bereits entfernt worden und normalerweise hätte er ein Ultraschallgerät hinzunehmen müssen. Er habe sich für den Fehler entschuldigt und eine schnellstmögliche zweite OP empfohlen. Nennenswerte Hemmungstatbestände lagen nicht vor.
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Derart offensichtliche Hinweise auf eine frühe verjährungsrelevante Kenntnis liegen üblicherweise nicht vor. Und daher müht sich die Rechtsprechung oft mit Indizien ab, die für oder gegen eine Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit sprechen. Es gibt sicher die einfachen Fälle, in denen die Patientenseite ein bestimmtes Ereignis als Auslöser für eine Prüfung oder Nachfrage benennen kann, z.B. Hinweise einer Krankenkasse nach dort durchgeführter Prüfung oder Hinweise eines Nachbehandlers. Hier lässt sich der (späte) Zeitpunkt der Kenntnis für die Gegenseite leicht nachvollziehbar darstellen.
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Bleibt dagegen offen, was zu einer späten Prüfung geführt hat, sieht sich die Patientenseite oft Spekulationen der Passivseite ausgesetzt.
1. Beweislasten
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Auf Spekulationen der Passivseite über frühere Kenntnis oder Erkenntnismöglichkeiten kann ein früher Verjährungsbeginn nicht gestützt werden. Da auch im Zusammenhang mit der Frage grob fahrlässiger Unkenntnis die Patientenseite eine Erkundigungs- bzw. Prüfungspflicht im Interesse des Schuldners an einem frühzeitigen Verjährungsbeginn gerade nicht trifft, kann sie auch nicht verpflichtet werden darzulegen, weshalb sie sich nicht früher Kenntnis verschafft hat.
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Sowohl die Darlegungslast als auch die Beweislast dafür, dass die Patientin/der Patient in verjährungsrelevanter Zeit die erforderliche Kenntnis hatte (oder grob fahrlässig nicht hatte), liegt bei dem Schuldner. Für die Gläubigerseite reicht es grundsätzlich aus darzulegen, dass Kenntnis erst in verjährungsrechtlich nicht relevanter Zeit eingetreten ist. Und da zur erforderlichen Kenntnis eben nicht allein der negative Ausgang der Behandlung, sondern auch eine konkrete, wenn auch laienhafte Vorstellung davon gehört, dass vom ärztlichen Standard abgewichen wurde, reicht es für die Patientenseite aus mitzuteilen, wann Hinweise auf einen Behandlungsfehler erteilt wurden. Die Beklagtenseite muss, will sie mit der Verjährungseinrede durchdringen, mithin nach Anhaltspunkten für frühere Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis suchen.
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Im Folgenden werden Fallkonstellationen herausgearbeitet, in denen in mehr oder weniger überzeugender Weise Kenntnis aus Äußerungen der Patientenseite in verjährungsrelevanter Zeit, aus klägerischem Vorbringen zum Behandlungsfehler oder aus Hinweisen aus der Nachbehandlung gefolgert wurde.
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Um hier nicht Überraschungen ausgesetzt zu werden, müssen Vertreter der Patientenseite eine genaue „Anamnese“ dazu erheben, ob möglicherweise Vorwürfe des Mandanten von einigem Gewicht oder konkrete Hinweise von Nachbehandlern schon früh im Raume standen. Das gilt in besonderem Maße, wenn das Mandat erst spät oder nach einem Mandatswechsel erteilt wird.
2. Rückschluss auf Kenntnis aus Anspruchsanmeldung bzw. Anschuldigungen der Patientin/des Patienten
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In den Fällen, in denen bei dem Patienten die Überzeugung von einem schadenskausalen Behandlungsfehler bereits gereift und durch Anschuldigungen oder Anspruchsanmeldung auch nach außen getragen wird, wird es für den Patienten schwierig, sich im Nachhinein auf verbliebene Unsicherheiten bzw. ein weiteres Absicherungsbedürfnis zu berufen. Zwar wird man aus Unmutsäußerungen eines Patienten nicht auf eine Kenntnis von einem Behandlungsfehler schließen dürfen. Wenn jedoch konkret – auch laienhaft – eine medizinische Wertung ausgesprochen wird und mit Nachdruck Forderungen nach Schadensersatz oder gar strafrechtlicher Verfolgung gestellt werden, muss die Patientin/der Patient damit rechnen, dass ihr/ihm unterstellt wird, dass ein haftungsbegründendes Fehlverhalten in ihr/sein Bewusstsein getreten ist und Kenntnis von einer schadenskausalen Standardunterschreitung als (verjährungsrechtlich ausreichende) Parallelwertung in ihrer/seiner Laiensphäre vorlag.
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Bei dem Versuch des Patienten, Behandlungsfehlervorwürfe z.B. gegenüber der Gutachterkommission zu substantiieren, muss tatsächlich noch keine Kenntnis vorliegen. Darauf weisen Jaeger[19] und Goehl[20] zutreffend hin. Der Patient muss aber damit rechnen, an der von ihm selbst oder in seinem Auftrag von seinem Anwalt behaupteten Kenntnis festgehalten zu werden.
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Es ist daher hoch riskant, nach konkret ausformulierter Schadensersatzforderung mehr als 3 Kalenderjahre ohne Verjährungshemmung verstreichen zu lassen. Das wird an den nachfolgend referierten Beispielen aus der Rechtsprechung deutlich.
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So hatte es der BGH in seiner Entscheidung vom 31.10.2000[21] mit einem Fall zu tun, in welchem der Kläger schon vorprozessual konkrete Vorwürfe im Zusammenhang mit den Folgen einer ERCP der Gallengänge und des Pankreasgangsystems erhoben hatte. Der Patient hatte etwa fünf Monate nach der Feststellung einer Infektion diese auf die ERCP zurückgeführt und erklärt, es sei bekannt, dass eine derartige Untersuchung eine Infektion der Bauspeicheldrüse auslösen könne, es hätte eine vorbeugende antibiotische Therapie eingeleitet werden müssen und die Unterlassung sei fehlerhaft gewesen. Unter Hinweis auf das klinische Wörterbuch von Pschyrembel hatte er anwaltlich vertreten zudem dargelegt, dass die ERCP bei ihm angesichts einer akuten Pankreatitis wegen der Gefahr der Auslösung eines Schubs kontraindiziert gewesen und die Anwendung der ERCP als schwerer ärztlicher Kunstfehler anzusehen sei.
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Gegen die Verjährungseinrede nach der mehr als drei Jahre später erhobenen Klage hat der Patient versucht, seine Behandlungsfehlervorwürfe als Vermutungen zu relativieren. Erst ein über die Krankenkasse eingeholtes MDK-Gutachten habe eine ausreichend sichere Kenntnis über das behandlungsfehlerhafte Vorgehen ergeben.
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Dem hat der BGH entgegengehalten, dass eine Gewissheit, wie sie sich der Kläger durch dieses Gutachten verschaffen zu können hoffte, für die Kenntnis i.S.d. § 852 Abs. 1 BGB a.F. nicht erforderlich sei. Der Verjährungsbeginn setze keineswegs voraus, dass der Geschädigte bereits hinreichend sichere Beweismittel in der Hand habe, um einen Rechtsstreit im Wesentlichen risikolos führen zu können. Es müsse dem Patienten lediglich zumutbar sein, aufgrund dessen, was ihm hinsichtlich des tatsächlichen Geschehensablaufs bekannt sei, Klage zu erheben, wenn auch mit verbleibendem Prozessrisiko, insbesondere hinsichtlich der Nachweisbarkeit eines schadensursächlichen ärztlichen Fehlverhaltens. Dabei war für den BGH auch von Bedeutung, dass der Anwalt des Klägers mit den Behandlungsfehlervorwürfen bereits eine Klagerhebung in Aussicht gestellt hatte.
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Mit ähnlicher Argumentation hatte das OLG München in einer Entscheidung vom 6.2.1992[22] den Vorwurf der Patientin gegen Unfallchirurgen, deren unzureichende Reaktion auf Schmerzen nach einer Radiustrümmerfraktur habe zu einem Morbus Sudeck geführt, ausreichen lassen, von Kenntnis i.S.d. § 852 Abs. 1 BGB a.F. auszugehen.
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Die bereits für sich in Anspruch genommene Kenntnis und entsprechende Behauptung, durch Behandlungsfehler geschädigt zu sein, führt auch in anderen obergerichtlichen Entscheidungen zur Annahme einer Kenntnis der Patientenseite.[23] In dem am 2.7.2014 vom OLG Saarbrücken entschiedenen Fall[24] hatte die Klägerin im Januar 2007 gegen die ihre Schwangerschaft betreuenden Gynäkologen anwaltlich vertreten Schadensersatzansprüche geltend gemacht und diese auf den Vorwurf gestützt, sie hätten es versäumt, sie zur Durchführung einer Sectio in stationäre Behandlung einzuweisen. Hierdurch sei es zum Tod ihres Kindes gekommen. Die Nichteinweisung sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Im etwa zeitgleich durch ihre Strafanzeige eingeleiteten Ermittlungsverfahren hatte sie weiter ausgesagt, auch sie selbst hätte sterben können, wenn weiter gewartet worden wäre. Die Vorwürfe wurden – differenzierter mit der Annahme unzureichender CTG-Befundung – durch den Gutachter im Ermittlungsverfahren im Jahr 2011 bestätigt. Das OLG sah hierin jedoch lediglich eine Bestätigung der schon im Jahr 2007 vorliegenden Kenntnis. Der im Jahr 2013 eingereichte Prozesskostenhilfeantrag war damit in verjährter Zeit gestellt worden.
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Genauso hat der BGH in seiner Entscheidung vom 8.11.2016[25] Kenntnis spätestens unterstellt, nachdem mit einem Anwaltsschreiben vom August 2007 deutlich Behandlungsfehlervorwürfe angesprochenen wurden.
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Dass Unmutsäußerungen eines Patienten nicht gleich auf Kenntnis von einem Behandlungsfehler schließen lassen, hat das OLG München in seiner Entscheidung vom 23.1.2014[26] in einem Fall unterstrichen, in welchem es um die Auslegung der Weigerung eines Patienten ging, die Eigenanteil-Rechnung eines Hautarztes zu begleichen. Der Patient hatte gegen die Rechnung eingewandt, dass „nach Aussagen mehrerer Ihrer Kollegen das Ausmaß des operativen Eingriffs an meinem Rücken weit überzogen“ gewesen sei. Das OLG München sah darin noch nicht die Behauptung eines Behandlungsfehlers und auch noch keinen Hinweis auf ausreichende Kenntnis, da dem Patienten diverse Unterlagen zur Beurteilung fehlten.
3. Verhältnis von Kenntnis und herabgesetzter Substantiierungslast
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Die geringen Anforderungen an die Substantiierung einer Klage in Arzthaftungsprozessen können nicht dazu führen, der Patientenseite zur Vermeidung der Einrede der Verjährung zuzumuten, schon gestützt auf bloße Vermutungen eine Klage zu erheben.[27] Was als Kenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 BGB anzusehen ist, kann nicht durch herabgesetzte Substantiierungsanforderungen bestimmt werden. Wer erst klagen will, wenn er einigermaßen weiß, dass Ursache der Erkrankung ein Behandlungsfehler ist, dem kann nicht erklärt werden, eine solche medizinische Kenntnis benötige er gar nicht.[28] Wenn die Patientin/der Patient schon aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Behandlung und Schädigung gestützt auf ihre/seine Vermutung eines Behandlungsfehlers eine hinreichend schlüssige Klage erheben kann, heißt dies nicht, dass sie/er auch nur annähernd die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen kann. Auf diesem Kenntnisstand kann eine (Feststellungs-)Klage nicht als zumutbar angesehen werden.[29]
4. Rückschluss auf Kenntnis aus Behandlungsfehlervorwürfen im Klagverfahren
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Wir finden in einzelnen Entscheidungen die Überlegung, der Patient trage zum Behandlungsfehlervorwurf etwas vor, was er schon vor Jahren in verjährungsrelevanter Zeit hätte vortragen können. So schließt das OLG Koblenz in seiner Entscheidung vom 24.2.2015[30] aus Vorwürfen des Patienten, die in verjährungsrelevanter Zeit gar nicht erhoben worden waren, sondern erst in seiner Klagschrift vom Juni 2013, deshalb auf Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit, weil der Erkenntnisstand des Klägers mit Blick auf mögliche Behandlungsfehler sich in den letzten 3 Jahren vor der Klagerhebung nicht verbessert habe, der Kläger also mit derselben Begründung wie im Jahr 2013 auch schon 2009 hätte Klage erheben können. Es ging in diesem Fall um diverse Komplikationen nach der Versorgung von Unfallverletzungen im Jahr 2007. Der Vorwurf in der Klagschrift ging dahin, die Unfallchirurgen hätten Schäden im rechten Knie zu spät erkannt und dann fehlerhaft nicht operativ versorgt und sie hätten eine Femurfraktur unsachgemäß operiert und den Heilungsverlauf falsch beurteilt. Was konkret standardwidrig gewesen sein sollte, ging aus der Klagschrift nicht hervor. Welche Verstöße gegen den fachärztlichen Standard dem Kläger schon in verjährungsrelevanter Zeit bekannt gewesen sein sollen, geht aus der Entscheidung des OLG Koblenz ebenfalls nicht hervor.
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Damit konnte, wie Jaeger in seiner Anmerkung[31] zutreffend herausarbeitet, der Ablauf der Verjährungsfrist nicht begründet werden. Zu der vom Schuldner darzulegenden und zu beweisenden Kenntnis vor dem Jahr 2010 fehlen der Entscheidung des OLG Koblenz tragfähige Feststellungen, zumal auch die Klagschrift (in zulässiger Weise) nicht auf konkrete Standardabweichungen, sondern allein auf Vermutungen gestützt war.[32] Feststellungen zu einer Kenntnis von einem Verstoß gegen den medizinischen Standard wären jedoch Voraussetzung für die Annahme des Eintritts der Verjährung.
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In einer umstrittenen Entscheidung des Brandenburgischen OLG vom 28.10.2010[33], die noch näher zu beleuchten sein wird, ist der klagenden Patientin ebenfalls vorgehalten worden, es sei nicht deutlich geworden, welche konkreten Informationen zu Behandlungsfehlern sie erst in den letzten drei Jahren vor Klagerhebung erlangt habe. Jaeger unterstreicht in seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung[34], dass es Sache der Beklagten gewesen wäre, darzulegen und zu beweisen, dass die Klägerin in verjährungsrelevanter Zeit Kenntnis hatte, und dass dazu auch in dieser Entscheidung Feststellungen fehlten.
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Auch wenn die vorstehend erörterten obergerichtlichen Entscheidungen nicht überzeugen, empfiehlt es sich für die Klägerseite deutlich zu machen, was wann zu einer für die Klagerhebung hinreichenden Kenntnis geführt hat. Mit der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[35] ist jedoch geklärt, dass nicht wie in den vorstehend zitierten Entscheidungen des OLG Koblenz und des OLG Brandenburg einfach aus späteren Äußerungen der Patientenseite auf bereits früher vorhandene Kenntnis geschlossen werden kann.
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Das verkennt auch das OLG Braunschweig in einer Entscheidung vom 28.2.2020[36], wenn es der dortigen Klägerin vorhält, es sei nicht ersichtlich, welche weiteren Erkenntnisse sie in der Zeit zwischen der Übersendung der Behandlungsunterlagen im Februar 2014 und dem ersten Anspruchsschreiben im März 2015 erlangt haben wolle. Die Entscheidung ist mit dem Urteil des BGH vom 8.11.2016 nicht in Einklang zu bringen. Eine sekundäre Darlegungslast der Klägerseite kann hier entgegen der Ansicht des OLG Braunschweig nicht angenommen werden. Wenn keine Verpflichtung besteht, sich medizinisches Fachwissen anzueignen, oder Behandlungsunterlagen auf schadenskausale Fehler zu überprüfen[37], kann auch nicht verlangt werden zu erläutern, weshalb derartiges nicht früher geschehen ist.
5. Erkenntnisse im Rahmen der Nachbehandlung
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Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard kann sich aus dem weiteren Behandlungsverlauf und Äußerungen von Nachbehandlern ergeben. So meint das OLG Brandenburg in der bereits zitierten Entscheidung vom 28.10.2010[38] aus den Erkenntnissen der Patientin im Zuge der weiteren Behandlung auf eine Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit schließen zu können. Die von einem Mammakarzinom betroffene Klägerin hatte in diesem Fall der im Jahr 2002 behandelnden Gynäkologin vorgeworfen, dass diese einen Knoten in der linken Brust nach Durchführung von Mammasonokontrollen nicht zusätzlich durch eine Biopsie abgeklärt hatte. Eine entsprechende Untersuchung war im November 2003 durchgeführt worden und hatte zur Diagnose eines Mamakarzinoms geführt. Daraus schließt das OLG Brandenburg, dass die Patientin im Jahr 2003 nicht nur den wesentlichen Behandlungsverlauf als solchen gekannt habe, sondern auch als medizinische Laiin daraus habe erkennen können, dass die beklagte Gynäkologin vom üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen sei. Ihr sei bekannt gewesen, „dass es von den Beklagten nicht ergriffene Möglichkeiten zur Vermeidung dieses Misserfolgs gab. Dadurch, dass die Klägerin erlebt hatte, dass unter Zuhilfenahme weiterer Untersuchungen der Knoten als bösartig erkannt und sodann entsprechend behandelt wurde, musste sich ihr auch bei laienhafter Würdigung der medizinischen Vorgänge und Zusammenhänge aufdrängen, dass die Beklagte entsprechende Maßnahmen nicht getroffen habe, die zur Vermeidung einer falschen Negativdiagnose erforderlich waren, und dass dies möglicherweise gegen den ärztlichen Standard verstößt.“
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Diesen Überlegungen muss entgegen gehalten werden, dass eine Patientin, bei welcher im Jahr 2002 ein Knoten nach Mammasonographie als unproblematisch eingestuft wurde, aus späteren Untersuchungen ohne medizinische Beratung nicht den Schluss ziehen kann, dass schon im Jahr 2002 eine weitergehende Untersuchung medizinisch zweifelsfrei geboten gewesen wäre, die Unterlassung mithin standardwidrig war, und dass die Untersuchung auch damals schon (definitiv oder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit) zur Diagnose eines Mammakarzinoms geführt hätte.[39] Diese Entscheidung ist auf breite Ablehnung gestoßen.[40] Nicht gefolgt werden kann dem OLG Brandenburg auch, soweit es unter Berufung auf die (überholte[41]) Entscheidung des BGH vom 20.9.1983[42] meint, dass eine fachärztliche Bewertung nicht erforderlich sei, weil die Unkenntnis von medizinischen Schlussfolgerungen aus den Behandlungstatsachen für die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis unerheblich sei. Das OLG Brandenburg übersieht die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des BGH bis zu der Entscheidung vom 10.11.2009, in welcher – wie unter Rn. 8 ff. aufgezeigt – die Bedeutung der Kenntnis vom Abweichen vom Standard unterstrichen wurde. Mit den Entscheidungen des BGH vom 8.11.2016[43] und 26.5.2020[44] ist bestätigt worden, dass das Vorliegen von Behandlungsunterlagen nicht ausreicht, dass vielmehr erst eine Überprüfung und fachmedizinische Bewertung zur Kenntnis führt und dass der Gläubiger nicht verpflichtet ist, im Interesse des Schuldners an einem frühzeitigen Verjährungsbeginn eine solche Auswertung vorzunehmen. Nicht gefolgt werden kann daher auch der Ansicht des OLG Braunschweig, die Verjährungsfrist beginne, wenn der vom Patienten beauftragte Rechtsanwalt die Behandlungsunterlagen zur Einsichtnahme erhalten habe, unabhängig davon zu laufen, ob der Rechtsanwalt die Akten auch tatsächlich einsehe.[45] Die Behandlungsunterlagen reichen nach den vorstehend zitierten Entscheidungen des BGH vom 8.11.2016 und 26.5.2020 ausdrücklich nicht aus und medizinisches Fachwissen mussten sich der Patient und sein Anwalt nicht aneignen.
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Dennoch können unter Umständen aus der Nachbehandlung und nicht zuletzt aus Äußerungen von nachbehandelnden Ärzten zu einem frühen Zeitpunkt Schlüsse auf ein fehlerhaftes Vorgehen zu ziehen sein, die einer Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard sehr nahekommen oder zumindest unter dem Gesichtspunkt grob fahrlässiger Unkenntnis das Unterlassen einer Nachfrage unverständlich erscheinen lassen. Es ist jedoch davor zu warnen, aus (manchmal überheblichen) Andeutungen oder Bemerkungen eines Nachbehandlers eine Kenntnis der Patientin/des Patienten zu konstruieren. Derartigen Bemerkungen fehlt in der Regel die Substanz, die es dem Patienten ermöglicht, sich ein auch nur ungefähres Bild vom ärztlichen Standard und seiner möglichen Unterschreitung zu machen.
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Nachvollziehbar kommt jedoch das OLG Saarbrücken in seiner Entscheidung vom 18.5.2016 zu dem Ergebnis einer Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit.[46] Die dortige Klägerin hatte sich im November 2009 bei dem beklagten Augenarzt vorgestellt, der eine Netzhautprominenz festgestellt hatte. Im Rahmen einer von der Klägerin selbst angestrebten MRT-Untersuchung im Mai 2010 wurde eine deutliche Vergrößerung des Tumors festgestellt. Den Befund legte die Klägerin dem Beklagten vor, der aber zunächst nichts veranlasste. Erst im November 2010 äußerte der Beklagte den Verdacht auf das Vorliegen eines Aderhauttumors. Die Klägerin wurde über Umwege dann in eine Universitätsklinik überwiesen und dort einem Spezialisten vorgestellt. Das Gespräch mit diesem hatte die Klägerin vor dem Landgericht dahingehend geschildert, dieser Arzt habe ihr gesagt, dass man nicht mehr so viel machen könne, weil sie so spät komme und der Tumor schon zu groß sei. Sie selbst habe darauf erwidert, der Beklagte habe „dieses Ding ja ein Jahr lang wachsen lassen“. Daraufhin habe der Ordinarius in Essen ihr wörtlich erklärt: „Dem gehört in den Arsch getreten.“ Das OLG Saarbrücken hat daraus geschlossen, dass die Klägerin nicht nur von den wesentlichen Umständen des Behandlungsverlaufs, sondern auch vom Abweichen vom ärztlichen Standard schon im November 2010 Kenntnis gehabt habe.
6. Kenntnis durch MDK-Gutachten oder Schlichtungsstellengutachten