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Dass ein Patient, der eine Begutachtung durch den MDK oder durch eine Schlichtungsstelle oder Gutachterkommission veranlasst und der auf diesem Wege ein Gutachten erhält, welches schadenskausale Behandlungsfehler bestätigt, durch dieses Gutachten Kenntnis erhält, bedarf keiner näheren Erläuterung.
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Wird dagegen z.B. in einem MDK-Gutachten der Behandlungsverlauf ausführlich dargestellt und dahingehend bewertet, dass keinerlei Versäumnisse festzustellen seien, hat die Patientin/der Patient keine Kenntnis von einem Behandlungsfehler erhalten.[47] Es reicht nicht, dass der Patient durch das MDK-Gutachten den Behandlungsverlauf kennt, denn es geht gerade um die Frage, ob an dem Verlauf ein schadenskausaler Behandlungsfehler festzumachen ist.[48]
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Liegt keine medizinische Beratung vor, welche Kenntnis von einer Abweichung vom ärztlichen Standard vermittelt, dann reicht für den Patienten i.d.R. die Kenntnis vom Verlauf nicht.[49]
III. Mehrere Fehlervorwürfe, Behandlungseinheit oder selbstständige Nachteile
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Führen mehrere Behandlungsfehler zu einem Schaden, ist der Lauf der Verjährung für jeden Fehler gesondert zu prüfen, also sowohl die Kenntnis vom Schädiger als auch die Kenntnis vom schadenskausalen Fehler. Stellt sich z.B. im Verfahren gegen die mit der Schwangerschaftsbetreuung befassten Frauenärzte heraus, dass nach der Aufnahme der Schwangeren in die Frauenklinik auch dort grobe Fehler den Schaden nicht abgrenzbar verursacht haben können, beginnt der Lauf der Verjährung gegen die Frauenklinik und die dort beteiligten Ärzte und Hebammen erst mit dieser Kenntnis. Der BGH spricht zu § 852 Abs. 1 BGB a.F. davon, dass dann, wenn mehrere als Ersatzpflichtige ernsthaft in Betracht kommen, die Verjährung erst mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem begründete Zweifel über die Person des Ersatzpflichtigen nicht mehr bestehen.[50]
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Begeht ein Arzt bzw. ein Behandlungsträger sukzessive mehrere Fehler mit jeweils unterschiedlichen Beeinträchtigungen, müssen die subjektiven Voraussetzungen des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Hinblick auf jede einzelne Pflichtverletzung geprüft werden.[51] Fraglich ist jedoch, ob im Rahmen einer konkreten Behandlung, an deren Ende der Schaden steht, unterschiedliche Fehler zu unterschiedlichen Fristläufen führen können. Für den Fall mehrerer Fehler bei einer Anlageberatung hat der BGH in seiner Entscheidung vom 9.11.2007[52] erkannt, dass für jeden Fehler eigenständig der Ablauf der Verjährungsfrist zu prüfen ist. Dem Gläubiger müsse es unbenommen bleiben, ihm bekannt gewordene Aufklärungsfehler hinzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, dass deshalb Ansprüche aus weiteren, ihm zunächst unbekannt gebliebenen Aufklärungspflichtverletzungen zu verjähren beginnen.
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Dem kann jedoch im Behandlungsfehlerbereich der Grundsatz der Einheit einer Behandlung entgegenstehen. So kommt es für den Erfolg der Klage der Patientenseite nicht darauf an, dass genau der Fehler, welcher bei Klagerhebung gerügt wurde, im gerichtlichen Verfahren bestätigt wird. Kommt das Gericht sachverständig beraten zu dem Ergebnis, dass ein anderer Fehler den vom Kläger geltend gemachten Schaden verursacht hat, führt dies zum Erfolg der Klage. Hier kommt dem Kläger die eingeschränkte Substantiierungslast zugute. Verjährungsrechtlich kommt dies dem Patienten in der Weise zugute, dass Streitgegenstand im gerichtlichen Verfahren die gesamte Behandlung ist und die Verjährung mithin auch für nicht ausdrücklich thematisierte Fehler gehemmt ist.[53] Der Nachteil für den Patienten liegt darin, dass im Falle der Klagabweisung von der Rechtskraft der Entscheidung auch Ansprüche aus erst später festgestellten Fehlern erfasst sind.
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Das führt zugleich dazu, dass im Rahmen einer einheitlichen Behandlung nicht jeder, erst später durch Gutachter aufgezeigte weitere Fehler eine neue Verjährungsfrist auslöst. So sieht das OLG Saarbrücken nach einem substantiiert erhobenen und durch ärztliche Beratung unterlegten Vorwurf einer zu späten stationären Einweisung einer Schwangeren in verjährungsrelevanter Zeit keinen neuen Verjährungslauf, wenn dieser Vorwurf später im Ermittlungsverfahren durch gutachterliche Kritik an mangelnder Befunderhebung erweitert wird.[54] In diesem Fall hatten beide Fehler zu einer zu späten stationären Einweisung geführt mit der Folge eines Versterbens des Kindes.
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Andererseits kann ein erst später erkannter Fehler zu einem entsprechend späten Zeitpunkt der Kenntnis führen, obwohl schon zu einem früheren Zeitpunkt Tatsachen auf andere Fehler hingedeutet hatten.[55] In dem vom BGH am 23.4.1985 entschiedenen Fall hatten die Eltern eines nach einem Herzstillstand verstorbenen Jungen dem behandelnden Arzt vorgeworfen, nach einer Blinddarmoperation und einem danach eingetretenen Darmverschluss zu lange mit der Nachoperation gewartet und durch Narkosefehler den Herzstillstand herbeigeführt zu haben. Während die Vermutung eines zu langen Abwartens mit der Nachoperation schon früher bestand, hatte sich der Vorwurf fehlerhafter Narkose erst im Strafverfahren gegen den Arzt herausgestellt. Der BGH weist auf folgendes hin: „Soweit es sich um mögliche Behandlungsfehler des Beklagten bei der zweiten Operation des Sohnes der Kläger handelt, die nicht die Narkose und die Wiederbelebung betreffen, kann den Klägern nicht eine frühere Kenntnis von der Person des Schädigers entgegengehalten werden. Die Operation ist ein einheitlicher Lebensvorgang, der im Hinblick auf die Verantwortung des Beklagten im Streitfall nicht sinnvoll in einzelne Handlungsabläufe mit verschiedenen Verjährungsfristen aufzuteilen ist. Deshalb darf der Umstand, dass die Kläger einzelne Tatsachen, die ebenfalls auf einen Behandlungsfehler des Beklagten hindeuten könnten, schon früher gekannt haben, nicht dazu führen, die Behauptung, es hätten auch insoweit Behandlungsfehler vorgelegen, nicht mehr zu prüfen. Die Vermutung des Geschädigten, der Arzt habe den Fehler bei der Operation schuldhaft verursacht, hat sich vielmehr in einem solchen Fall erst durch die weitere Kenntnis vom Operationsverlauf so verstärkt, dass der Geschädigte nunmehr mit einiger Aussicht auf Erfolg klagen kann. Zur Begründung der Klage muss er dann auch Tatsachen anführen dürfen, die bis dahin nicht auszureichen schienen, gegen den Schädiger gerichtlich vorzugehen.“
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Hatten jedoch Hinweise auf einzelne Behandlungsfehler schon das Gewicht, dass die Patientenseite aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage zu erheben in der Lage gewesen wäre, ist aber davor zu warnen, bei späterer Erkennung eines weiteren Fehlers die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis erst ab diesem späten Zeitpunkt anzunehmen.
IV. Kenntnis – Spannungsverhältnis von unklarer Kausalität und Beweiserleichterungen
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Ein „negatives“ MDK-Gutachten wird für die Patientenseite verjährungsrechtlich problematisch, wenn das Gutachten Behandlungsfehler oder Befunderhebungsfehler aufzeigt, die Kausalität aber verneint, weil nicht nachgewiesen werden könne, dass der Schaden auf den/die Behandlungsfehler zurückgehe. Hier greifen medizinische und rechtliche Bewertung ineinander. Ergeben sich aus dem Gutachten hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür, dass dem Patienten Beweiserleichterungen zugutekommen, die einen vollen Kausalitätsbeweis nicht erfordern, dann sind wir bei der Frage der zutreffenden rechtlichen Einordnung. Die fehlerhafte rechtliche Einordnung verhindert den Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Goehl vertritt die Ansicht, dass reduzierte Kenntnisanforderungen infolge einer Beweislastumkehr den Verjährungsbeginn nicht beeinflussen könnten, weil dem Patienten anderenfalls eine Klagerhebung zugemutet werde, „obwohl der Patient von den für eine laienhafte Einschätzung der Prozessaussichten essentiellen Umständen, aus denen sich die haftungsbegründende Kausalität ergibt, nicht einmal im Ansatz Kenntnis hat“.[56] Goehl vermengt dabei die Ebenen der Kenntnis von den haftungsbegründenden Umständen und ihrer (auch beweis-)rechtlichen Würdigung.
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Zwar gehört zur verjährungsrelevanten Kenntnis grundsätzlich auch das Wissen davon, dass das schuldhafte Fehlverhalten des Anspruchsgegners als Ursache für den Schaden anzusehen ist. Wegen der Beweiserleichterungen im Arzthaftungsrecht ist aber nicht in jedem Fall der Vollbeweis der Kausalität des Fehlverhaltens für den Schaden erforderlich. Hier sind wir bei der zutreffenden rechtlichen Würdigung der bekannten Tatsachen, die nicht zu den subjektiven Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn zählt. Gerade bei schweren Schäden aus fehlerhafter Behandlung bleibt fast regelmäßig trotz umfassender Begutachtung vorprozessual und im Gerichtsverfahren die Kausalität der Standardunterschreitung für den Schaden ungeklärt. Dennoch wird wegen der (inzwischen gesetzlich verankerten) Beweiserleichterungen der Schadensersatzanspruch bestätigt. Zu der Einschätzung der Prozessaussichten gehört daher neben der medizinischen Bewertung der Behandlung die juristische Wertung (grob oder nicht, Befunderhebungsfehler oder Diagnosefehler) und diese juristische Würdigung gehört nicht zu den haftungsbegründenden Umständen (Tatsachen). Bleibt die Kausalität offen, ist aber von einem groben Behandlungsfehler auszugehen und weiß der Patient, dass der Fehler zumindest geeignet war, die Schädigung herbeizuführen bzw. nicht zu vermeiden, dann sind das die Umstände, die in die juristische Bewertung der Prozessaussichten einfließen.
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Für die juristische Bewertung wird dem Patienten zugemutet, anwaltlichen Rat einzuholen. Hierfür hat der Patient mindestens 3 Jahre nach Kenntniserlangung von einem groben und zur Schädigung geeigneten Behandlungsfehler Zeit. Die Befürchtung von Goehl, dass bei der hier vertretenen Ansicht der Patient in die paradoxe Situation geraten könne, in welcher er das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers widerlegen müsse, um der Verjährungseinrede zu entgehen,[57] kann daher der Zumutbarkeit der Einholung eines Rechtsrats nicht entgegen gehalten werden.
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Wer also medizinisch hinreichend beraten davon Kenntnis erhält, dass dem behandelnden Arzt ein Fehler vorzuwerfen ist, welcher unter Anlegung eines objektiven Facharztstandards schlechterdings nicht verständlich ist, kann sich auf fehlende oder unzureichende Kenntnis wegen Unsicherheiten in der Kausalität dann nicht mehr berufen, wenn der Fehler zumindest geeignet war, den Schaden hervorzurufen.
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In einem vom OLG Hamm entschiedenen Geburtsschadenfall hatten die Anwälte des Kindes im Jahr 2001 aus einem geburtshilflichen Privatgutachten den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers hergeleitet. In einem zweiten Schritt 2002 war ein neuropädiatrisches Privatgutachten eingeholt worden, in welchem es als möglich eingestuft wurde, dass ohne diesen Fehler die eingetretene Schädigung vermieden worden wäre. Hier lagen nach der nachvollziehbaren Ansicht des OLG Hamm die Voraussetzungen für einen Verjährungsbeginn spätestens Ende 2002 vor und ein erst Ende 2006 ausgesprochener Einredeverzicht mit dem üblichen Vorbehalt, „soweit noch nicht verjährt“, konnte der Verjährungseinrede nicht mehr entgegengehalten werden.[58]
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Zu dem gleichen Ergebnis wird man kommen müssen, wenn die Kenntnis von Umständen vorliegt, die auf dem Umweg über einen Befunderhebungsfehler auf einen (fiktiven) groben, für die Verursachung der eingetretenen Schädigung geeigneten Behandlungsfehler schließen lassen.
V. Kenntnis der vom Patienten beauftragten Anwälte und Wissensvertretung
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Dass es bei Minderjährigen auf die Kenntnis der sorgeberechtigten Eltern und bei unter Betreuung stehenden Erwachsenen auf die Kenntnis ihrer Betreuer in deren Wirkungskreis ankommt[59] und dass ein mit der Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen beauftragter Rechtsanwalt Wissensvertreter des Geschädigten wird[60], gehört nicht zu den Besonderheiten des Arzthaftungsrechts und muss hier nicht vertieft werden.
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In seiner Entscheidung vom 26.5.2020[61] hatte der BGH dazu Stellung zu nehmen, welches Wissen einer vom Patienten beauftragten Kanzlei ihm zugerechnet werden kann. Die von dem Patienten beauftragte Kanzlei soll nach Ansicht der Beklagtenvertreter in verjährungsrelevanter Zeit (2006) in einem anderen Fall medizinisches Fachwissen dargelegt haben, welches dem Kläger im Streitfall hätte nutzbar gemacht werden müssen. Die Klägervertreter hatten dagegen eingewandt, dass beide Fälle von unterschiedlichen Sozien der Kanzlei bearbeitet worden seien.
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Konkret ging es in diesem Fall um die Folgen einer Schulterdystokie unter der Geburt. Die Beklagtenvertreter hatten gemeint vortragen zu dürfen, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten in einem ganz anderen Fall, in welchem es auch um die Folgen einer Schulterdystokie ging, 2006 eine medizinische Bewertung vorgenommen, die in gleicher Weise auf die Umstände des konkreten Falles zutrafen. Auch wenn der andere Fall durch einen anderen Sozius bearbeitet wurde, hätte der Sozius, der den konkreten Fall bearbeitete, die medizinische Fachkenntnis seines Kollegen schon 2006 für seinen Fall nutzbar machen müssen. Mit den Beklagtenvertretern sah das OLG Koblenz darin, dass das nicht geschehen war, eine grob fahrlässige Unkenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Jahr 2006, die dem Kläger zuzurechnen sei, da seine Prozessbevollmächtigten Wissensvertreter seien.
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Der BGH hat sich in seiner Entscheidung gegen eine derartige Wissenszusammenrechnung medizinischer Fachkenntnisse einer Kanzlei ausgesprochen. Er weist auf die grundsätzlich anzuerkennende Gepflogenheit hin, innerhalb einer Anwaltssozietät die Bearbeitung der Mandate einzelnen Sozien zur eigenverantwortlichen Erledigung zu übertragen. Auch wenn für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustausches zwischen den Sozien bestehe, könne das für das einzelne Mandat eingebrachte oder erworbene Fachwissen außerhalb von Rechtskenntnissen aus nicht juristischen Wissensgebieten wie beispielsweise der Medizin im Regelfall nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen gehören. Die Vorstellung, in einer Kanzlei mit mehreren Anwälten, die auf Aktivseite Arzthaftungsfälle bearbeiten, könne das in den einzelnen Akten gesammelte medizinische (Halb-)Wissen in einer Art Kenntnis-Pool allen Mandanten zur Verfügung stehen, ist praxisfremd und verkennt die Notwendigkeit interdisziplinärer Bearbeitung arzthaftungsrechtlicher Mandate.
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Anzumerken bleibt zu der Entscheidung des BGH vom 26.5.2020 noch ein Aspekt, der dort keine Beachtung gefunden hat: Der in das Berufungsverfahren von den Beklagtenvertretern eingeführte Schriftsatz der Klägervertreter mit Parteivortrag aus einem anderem Verfahren hätte nicht zur Erörterung gestellt werden dürfen, zumal Parteivortrag ohnehin nicht als Beleg für medizinische Fachkenntnisse herhalten kann. Die Klägervertreter hätten diesen Parteivortrag detailliert nur unter Verstoß gegen ihre Verschwiegenheitspflichten oder um den Preis eines Parteiverrats zu Lasten des Mandanten in dem anderen Verfahren kommentieren können. Egal ob beide Verfahren von demselben Sozius oder von unterschiedlichen Sozien bearbeitet wurden, muss es als ausgeschlossen angesehen werden, dass eine Kanzlei in einem Verfahren A offenlegt, worauf Parteivortrag in einem Verfahren B beruht – auf tatsächlicher medizinischer Fachkenntnis, auf Internetrecherchen der Eltern des im Verfahren B vertretenen Kindes oder z.B. auf einer nicht zur Vorlage bestimmten gutachterlichen Stellungnahme. Auch ohne die Frage nach einer Wissenszusammenrechnung sollten Klägervertreter sich zu derartigen Hinweisen der Beklagtenvertreter aus anderen Mandatsverhältnissen grundsätzlich nicht einlassen.[62]
C. Kenntnis von unzureichender Risikoaufklärung oder Alternativaufklärung
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Die für den Schadenersatzanspruch gegen den Arzt oder Krankenhausträger erforderliche Kenntnis ist in Fällen unzureichender Risikoaufklärung oder Aufklärung über Behandlungsalternativen dann gegeben, wenn der Patient Kenntnis davon hat, dass im ersteren Fall sich in dem Schaden ein bekanntes Risiko verwirklicht hat, über welches hätte aufgeklärt werden müssen, über welches jedoch nicht aufgeklärt wurde. Dazu gehört allerdings auch das Wissen, dass der Schaden nicht auf ein fehlerhaftes Vorgehen zurückgeht.[63]
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In der zweiten Fallvariante, der unterbliebenen Aufklärung über Behandlungsalternativen, muss der Patient Kenntnis davon haben, dass es zu dem zum Schaden führenden Eingriff eine gleichwertige, wenn auch mit unterschiedlichen Risiken behaftete Alternative gegeben hätte, die ihn, wäre er darüber aufgeklärt worden, vor einen Entscheidungskonflikt gestellt hätte.
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Die Schwierigkeit bei der Kenntniserlangung liegt in diesen Fällen gerade nicht in der Feststellung eines Abweichens vom medizinischen Standard, sondern erschöpft sich in der Frage, ob der schlechte Ausgang als mögliches Risiko vorhersehbar, aber für den Patienten wegen unzureichender Aufklärung überraschend war.
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Das Gleiche gilt auch für die Fälle, in denen die Patientin/der Patient überhaupt keine Grundaufklärung erhalten hat, und in denen sich dann ein Operationsrisiko verwirklicht, selbst wenn dieses Risiko für sich genommen nicht aufklärungspflichtig gewesen wäre. Denn bereits die fehlende Grundaufklärung führt dazu, dass die Patientin/der Patient bei zutreffender rechtlicher Würdigung weiß, dass der Eingriff von vornherein rechtswidrig war.[64]
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Der Patientenseite wird auch zugemutet, sich nach dem Eintritt schwerwiegender Komplikationen nach einer dahingehenden Aufklärungsbedürftigkeit zu erkundigen, soweit sich dadurch das Wissen auf einfache Weise komplettieren lässt.[65]
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Dennoch gilt auch für den Verjährungsbeginn bei Aufklärungsfehlern, dass keine Verpflichtung besteht, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu verschaffen. Dies hat der BGH in seiner Entscheidung vom 10.10.2006[66] herausgearbeitet. Wegen einer Adoleszenz-Skoliose war die Klägerin im Alter von 16 Jahren an der Wirbelsäule operiert worden. Bei der Operation war es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal gekommen, die zur Querschnittslähmung führte. Darüber hinaus entwickelte die Patientin neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten. Über das Risiko einer Querschnittslähmung war sie aufgeklärt worden. Über die Risiken einer Falschgelenkbildung, Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten war sie dagegen nicht aufgeklärt worden.
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Es handelte sich bei diesen weiteren Folgen um typische Risiken des Eingriffs, deren Verwirklichung für sich genommen die weitere Lebensführung deutlich beeinträchtigt, und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.
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Der BGH hat in dieser Entscheidung der Patientin zugutegehalten, dass die Verjährung i.d.R. nicht schon beginnt, sobald die Patientin einen Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler, sondern auf einer spezifischen Komplikation der medizinischen Behandlung beruht, über die die Patientin hätte aufgeklärt werden müssen. Eine Erkundigungspflicht treffe die Patientin nicht, soweit es um die fachspezifisch medizinische Frage gehe, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Die Patientin sei nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.
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Im Streitfall hat der BGH Kenntnis daher erst mit Zugang eines Gutachtens angenommen, nach welchem es sich bei der Pseudoarthrose und den weiteren, nicht von der Aufklärung erfassten Folgen nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelte, sondern um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhafteten und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.
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Entsprechend hat das OLG Bamberg in einer Entscheidung vom 20.7.2015[67] eine Kenntnis vom Aufklärungsmangel erst dann angenommen, als die Patientin, die durch das Robodoc-Verfahren mit einer Hüft-TEP versorgt worden war und intraoperativ eine Nervverletzung erlitten hatte, davon wusste, dass die Wahl des Verfahrens zu einer Erhöhung einzelner Risiken im Vergleich zur herkömmlichen Methode führte. Darüber war sie nicht aufgeklärt worden.
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Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn wird deutlich, dass Ansprüche aus Aufklärungsfehlern zu anderer Zeit verjähren können als solche aus Behandlungsfehlern, zuletzt bestätigt in der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[68]: „Zwischen den Ansprüchen wegen unzureichender ärztlicher Aufklärung einerseits und wegen fehlerhafter Behandlung andererseits besteht zwar eine Verknüpfung dergestalt, dass es Ziel des Schadensersatzbegehrens des Patienten ist, eine Entschädigung für die bei ihm aufgrund der Behandlung eingetretenen gesundheitlichen Nachteile zu erlangen, doch liegen den Haftungstatbeständen verschiedene voneinander abgrenzbare Pflichtverletzungen zugrunde (. . .). Dies kann auch zu unterschiedlichen Verjährungsfristen führen (. . .).“ Da im dortigen Fall von anspruchsbegründenden Aufklärungsfehlern schon in verjährungsrelevanter Zeit die Rede war, sah der BGH derartige Ansprüche anders als Ansprüche aus Behandlungsfehlern als verjährt an.
D. Grob fahrlässige Unkenntnis des geschädigten Patienten
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Einen Verjährungsbeginn ohne volle Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände hatte der BGH schon auf der Grundlage des § 852 Abs. 1 BGB für die Fälle entwickelt, in denen der Verletzte es in der Hand gehabt hätte, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer „gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühen verursacht“ hätte, verschließt.[69] Der Hauptanwendungsfall war und ist die Situation, in welcher der Geschädigte sich durch einfache Nachfrage Kenntnis von der Person des Schädigers hätte beschaffen können.[70] In diesen Fällen hatte der BGH stets betont, dass grob fahrlässige Unkenntnis nicht ausreiche und der rechtsmissbräuchlichen Nichtkenntnis nicht gleichzustellen sei.
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Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in den Kommentierungen der Begriff der grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB n.F. als etwas neues, über die rechtsmissbräuchliche Nichtkenntnis hinausgehendes gesehen wurde. Peters/Jacoby[71] sprechen sogar von einer „radikalen Änderung gegenüber § 852 Abs. 1 a.F.“. Sieht man sich ansonsten jedoch die Literatur zu den mit der Schuldrechtsmodernisierung eingeführten Neuerungen im Verjährungsrecht an, fällt fast durchgängig eine Diktion auf, die der auf den Rechtsgedanken des § 162 BGB gestützten Rechtsprechung zum missbräuchlichen Sich-Verschließen vor einer Erkenntnismöglichkeit entspricht.[72] Da im Behandlungsfehlerbereich zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen gehört, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat, und da dieses Wissen in der Regel nur durch Einsicht in die Behandlungsunterlagen und medizinische Beratung oder Begutachtung organisiert werden kann, ist der Aufwand für die Klärung der den Anspruch begründenden Umstände i.d.R. erheblich. Schon deshalb war nicht mit einem nennenswerten Anstieg kenntnislos verjährter Schadensersatzansprüche aus Behandlungsfehlern zu rechnen.[73]
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Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 10.11.2009[74] diejenigen bestätigt, die für den Bereich der Arzthaftung keine weitreichenden Änderungen erwartet haben. Er hält fest, dass grob fahrlässige Unkenntnis nur vorliegt, wenn der Gläubiger ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen, dass aber für den Gläubiger keine generelle Obliegenheit besteht, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und es muss sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Der Patient kann nicht ohne Weiteres aus einer Verletzungshandlung, die zu einem Schaden geführt hat, auf einen schuldhaften Behandlungs- oder Aufklärungsfehler schließen und er muss ohne weitere sich aufdrängende Anhaltspunkte für ein behandlungsfehlerhaftes Geschehen auch nicht die Initiative zur Aufklärung des Behandlungsgeschehens entfalten.