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Amelie und Lilly kommen gemeinsam heim, als ich gerade einen Kaffee trinke. Sie schimpfen über das Wetter und schütteln die ersten Schneeflocken von ihren Kleidern. Ich habe mich inzwischen von Gloria Gaynor verabschiedet. Aus dem Radio plätschert eine unsäglich schmalzige Country-Version von »Leise rieselt der Schnee«.
»Schuhe aus!«, brülle ich den Mädchen entgegen und hasse mich selber für meinen Tonfall.
Lilly steht schon in der Küche und versaut den frisch geputzten Boden mit ihren nassen Tretern. Ach, ich weiß, warum ich wieder außer Haus berufstätig sein möchte. Hausarbeit ist so aufreibend, so endlos und öde. Die Wertschätzung ist genauso gering wie die Entlöhnung.
»Sorry, aber ich muss gleich weg«, sagt Lilly nur und nimmt sich eine Banane aus dem Kühlschrank. »Training.«
Klar. Mein kleines Tenniswunder ist immer irgendwie auf dem Sprung. Dafür hat es Amelie ausnahmsweise gar nicht eilig, in ihr Zimmer zu kommen. Sie setzt sich neben mich.
»Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass du nicht mehr lange zu leben hättest?«, fragt sie mich und trinkt aus meiner Kaffeetasse.
»Ich würde nie mehr putzen«, antworte ich leichthin, bin aber irritiert. Was sind das nun wieder für Fragen? Welche Ängste stecken dahinter?
»Bist du krank?«, frage ich und mustere sie aufmerksam.
Sie sieht kerngesund aus, wie immer. Wie ein Schneewittchen. So nenne ich meine Zwillinge manchmal wegen ihres langen, dunklen, vollen Haars und ihrer zarten, reinen Haut. Früher hörten sie das zwar gern, heute sage ich es besser nicht mehr allzu laut.
Amelie holt ihren Laptop und zeigt mir eine Seite, die mir fast die Sprache verschlägt. Natürlich habe auch ich von den Theorien gehört, dass am 21. Dezember 2012 die Welt untergehen werde. Aber was ich da sehe … Da gibt es einen laufenden Zähler, einen Countdown bis zum Weltuntergang. Es sind nur noch 23 Tage. Auch die Stunden, Minuten und Sekunden, die uns bleiben, werden gezählt.
Amelie schaut mich an.
Sie wird doch so etwas nicht etwa glauben? Mein intelligentes Mädchen?
»Amelie, glaub einer alten Frau: Ich habe schon mehrere solche vorhergesagten Weltuntergänge locker überlebt. Wir werden auch diesen überstehen, das verspreche ich dir.«
»Wie kannst du es versprechen?«, fragt sie vorwurfsvoll. »Hast du alle diese Theorien studiert? Maya-Kalender, Sonnenstürme, Nostradamus, die Hopi-Indianer …«
Gleich kommt wieder der Vorwurf, ich würde sie nicht ernst nehmen.
»Du nimmst mich gar nicht ernst!«
Wusste ichs doch.
Manchmal ist es verdammt schwierig, seine Kinder ernst zu nehmen. Ich gebe mir Mühe.
»Was würdest du denn tun, wenn du sicher wüsstest, dass am 21. Dezember die Welt untergeht?«, frage ich Amelie.
Sie überlegt nicht lange: »Ich würde sicher die Schule schwänzen.
Und vielleicht versuchen, möglichst viel Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen.«
Gott, wie vernünftig sie ist, meine Tochter!
Was hätte ich wohl in ihrem Alter gesagt? Ich würde von zu Hause abhauen und per Anhalter nach Paris fahren. – Ich würde Peter, in den ich seit Wochen verliebt bin, einen Brief schreiben. – Ich würde mich schminken und stylen und jede Nacht in den Discos abtanzen bis zum Umfallen. – Ich würde eine Bank überfallen und mir endlich eine elektrische Gitarre kaufen … Etwas in dieser Art.
Waren wir wilder oder kindischer, als wir sechzehn waren? Manchmal ist es beängstigend, wie ernst und wie reif meine Töchter wirken, besonders Amelie, die Stille. Aber nur manchmal.
»Und du, Mama: Was würdest du wirklich tun? Was würdest du bedauern, nicht getan zu haben?«
Ihre tiefblauen Augen bohren sich in meine. Sie möchte eine ehrliche Antwort, nicht bloß etwas Dahergesagtes.
Diese kann ich ihr aber nicht geben. Ich bin nämlich durchaus glücklich mit meinem Leben. Gut, ich habe meinen Job verloren. Aber in den letzten Monaten war das absehbar, und die miese Stimmung in unserer Abteilung war kaum mehr auszuhalten. Und ich bin in der glücklichen Situation, mir keinen Stress machen zu müssen mit der Stellensuche. Ich werde wieder etwas finden. Und ja, Irene geht mir manchmal ziemlich auf den Geist. Ich wünschte mir ab und zu, wir würden nicht zusammenwohnen. Was ich in der Tat bedauere, ist, dass Paul und ich uns in den letzten Jahren auseinandergelebt haben. Es wird mir Tag für Tag mehr bewusst. Ich möchte gern versuchen, das wieder zu ändern. Der Weltuntergang wäre mir dabei im Weg.
»Ich bin eigentlich glücklich, aber ich möchte schon noch ein paar Dinge erleben. Dieses Jahr möchte ich wieder mit Papa auf den Silvesterball gehen. Ich hätte wirklich keine Lust auf einen Weltuntergang«, sage ich schließlich halbherzig.
Es tut mir leid, aber ich kann meiner Tochter gegenüber nicht immer komplett offen und aufrichtig sein.
Ich glaube, sie spürt das. Ihr skeptischer Blick lässt mich ganz verlegen werden. Sie klappt den Laptop zu.
»Ihr vergesst doch nicht unseren Elternabend morgen?«, sagt sie streng und geht in ihr Zimmer.
Bald höre ich ihre Geigenübungen, Tonleitern und Arpeggien über drei Oktaven. Amelie möchte einmal Musik studieren, und bei ihrem Fleiß und ihrer Ernsthaftigkeit halte ich das durchaus für möglich.
4
Es ist Elternabend, und Paul geht nicht hin. So läuft das bei uns. Er hat immer einen total wichtigen Termin. Das bringt er jeweils richtig glaubhaft rüber. Ich vermute, alle in seiner Firma sind eingeweiht und arbeiten an seinem Alibi mit.
Schon als die Mädchen in der Primarschule waren, machten Elternabende keinen Spaß. Da kannte ich aber noch viele Eltern, und wir machten das Beste aus dem Anlass, gingen manchmal hinterher noch gemeinsam in eine Kneipe. Aber jetzt, auf dem Gymnasium, hat das Ganze gar keinen Unterhaltungswert mehr. Ich kenne die anderen Eltern nicht oder würde sie gern nicht kennen. Mein Frauenarzt ist dort und ein ehemaliger Lehrer von mir. Wenn ich anschließend heimgehe, denke ich jedes Mal, dass es vertane Zeit war. Ernstliche Schulprobleme würde man sowieso in Gesprächen unter vier Augen klären. Hier geht es bloß um Organisatorisches, Grundsätzliches. Ein paar Eltern lieben die Auftritte vor Publikum und spielen sich auf. Sie bringen irgendwelche Beschwerden, die man auch im persönlichen Gespräch regeln könnte, lieber vor versammelter Gesellschaft vor.
Ich hasse es, allein auf Elternabende zu gehen. Ich komme mir vor wie eine Alleinerziehende und werde eigenartig gemustert. Bilde ich mir zumindest ein.
Diesmal wird es wider Erwarten recht spannend. Nachdem die üblichen Themen bezüglich Schulverlegung, Schulstressbewältigung, Notendurchschnitt erledigt sind, ergreift die Frau meines Gynäkologen das Wort: »Immer wieder wird betont, wie viel Schulstoff unsere Kinder zu bewältigen hätten. Da wundert es mich doch umso mehr, wie man während der Unterrichtszeit so viel über Weihnachten diskutieren kann. Ja, sogar der Weltuntergang wurde thematisiert.«
Ganz rot ist sie im Gesicht geworden vor Eifer, die Gute.
Schon schießt eine andere Frau in die Höhe und doppelt nach: »Diskutieren ist eine Sache. Aber hier wurde sogar das Weihnachtsfest an sich angezweifelt. Man hat über eine mögliche Abschaffung abgestimmt. Wo leben wir denn eigentlich? Werden an dieser Schule gar keine christlichen Werte mehr vermittelt?«
Sie blickt in die Runde, Beifall heischend, und bekommt ihn tatsächlich.
Jetzt kommt mein ehemaliger Lehrer zu Wort: »Nicht einmal mehr ein Weihnachtskonzert steht auf dem Programm. Ich glaube, das gab es an dieser Schule überhaupt noch nie!«
Und seine Frau ergänzt: »Meine Tochter hat mir einen Kalender gezeigt. Heute sind es nur noch 22 Tage bis zum Weltuntergang.« Der Klassenlehrer sieht aus, als hätte er den Weltuntergang am liebsten gleich hier und jetzt. Der junge Mann ist ziemlich blass geworden.
Aber der Schulleiter, ein stämmiger Mittfünfziger, der schon tausend Elternabende erfolgreich gemeistert hat, stellt sich vor ihn: »Bitte, bitte, keine Aufregung. Wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen!«
»Ja, ja, die Kirche im Dorf lassen, aber Weihnachten abschaffen!«, keift eine Dame von ganz hinten.
Sie spuckt ein wenig beim Reden, so sehr strengt sie sich an, auch in der vordersten Reihe gut verstanden zu werden.
Ich sitze nur da und beobachte das Spektakel. Ja, ich hatte mich auch über den Umgang mit der Thematik gewundert. Aber hier scheint es mir nicht in erster Linie um ein ernsthaftes Gespräch mit dem Klassenlehrer und die Suche nach Erklärungen zu gehen, sondern vielmehr darum, dass alle fröhlich mitmachen, sobald einer sich traut aufzumucken.
»Was haben Sie eigentlich gegen Weihnachten, Herr Müller?«, will der Frauenarzt jetzt vom Klassenlehrer wissen.
Dieser hat sich wieder etwas gefasst, bittet um Ruhe und erklärt dann: »Es tut mir leid, dass sich Ihre Gemüter derart erhitzen. Ich fand die Idee großartig, in Englisch und Französisch auch zeitgemäße Themen zu diskutieren. Es ging darum, die Schüler für ein Thema so zu begeistern, dass sie auch bereit sind zu reden, und ihre Hemmungen vor der Fremdsprache vergessen. Weihnachten eignete sich hervorragend. Da konnte jeder mitreden. Es ist ja nicht der Fall, dass wir wertvolle Schulzeit vertun würden. Nein, wir haben intensiv Englisch und Französisch mündlich trainiert.« Die haben auf Englisch und auf Französisch diskutiert? Wow. Ich bin beeindruckt. Das hatten mir meine Mädchen nicht erzählt. Es ist jetzt schon ein wenig ruhiger im Klassenzimmer.
»Aber trotzdem …«, meldet sich wieder die Frau des Arztes zu Wort, »… Sie haben über Weihnachten abstimmen lassen!« Sie spuckt ihm den Satz praktisch vor die Füße.
Inzwischen beginnt der Klassenlehrer, ein paar Blätter zu verteilen, und meint: »Sie regen sich darüber auf, dass wir diskutiert und abgestimmt haben. Sollte es Ihnen nicht viel mehr zu denken geben, wie knapp zum Beispiel diese – gar nicht so ernst gemeinte – Abstimmung ausgegangen ist? Sollten wir nicht die Aussagen unserer Kinder zur Kenntnis nehmen und darüber nachdenken?« Auch der Schulleiter mischt sich wieder ein: »Wir haben uns jedenfalls sehr viele Gedanken gemacht. Wir waren schockiert. Wir haben beschlossen, einfach mal ein Jahr auf die Weihnachtsbeleuchtung zu verzichten. Es leuchtet ja sonst überall genug. Und ja, wir haben beschlossen, statt des Schulkonzerts in der Vorweihnachtszeit, wo ohnehin überall viele Veranstaltungen stattfinden, im Februar ein lustiges Konzert mit Theater zu veranstalten.«
»Ja, aber das geht doch nicht!«, sagt mein ehemaliger Lehrer.
»Das Leben ist eben kein Wunschkonzert!«, meint die Frau des Frauenarztes leicht eingeschnappt.
Allgemeines Gemurmel.
Da stehe ich auf. Es überkommt mich irgendwie. Ich habe nicht drüber nachgedacht. Ich kann einfach nicht anders. Ein spontaner Mutanfall.
Laut und deutlich sage ich: »Ich finde diese Entscheidung sehr gut. Danke.«
Dann setze ich mich wieder.
Ich werde wohl meinen Frauenarzt wechseln müssen …Dafür habe ich jetzt beim Klassenlehrer Müller einen Stein im Brett.
Er erklärt: »Auf den ausgeteilten Blättern sehen Sie eine Zusammenfassung unserer Weihnachtsdiskussionen. In Englisch und Französisch. Das war sozusagen die Abschlussarbeit dieser Thematik.«
Wir könnten die Blätter gerne mit nach Hause nehmen.
»Lesen Sie das alles mit offenem Herzen. Mich hat am meisten getroffen, dass fast alle Kinder das Fest völlig anders feiern möchten, als es tatsächlich in ihren Familien gemacht wird. Fast alle fühlen sich durch Weihnachten gestresst, spüren auch keine gute Stimmung zu Hause.«
Das sei doch wirklich traurig. Dann verabschiedet er uns mit einem »Fröhliche Weihnachten!«.
Der Schulleiter doppelt nach: »Fröhliche Weihnachten!«
Beim Herausgehen schimpft mein Frauenarzt, dass es sicher nicht so weit komme, dass er sich von der Schule vorschreiben lasse, wie er Weihnachten zu feiern habe. An seinem Fest werde er auf keinen Fall etwas ändern.
Fröhliche Weihnachten …
5
»War was Besonderes am Elternabend?«, fragt Paul am nächsten Morgen beim Frühstück. »Habe ich etwas verpasst? Hat man über die Anschaffung von neuen Zimmerpflanzen diskutiert?«
Es ist nur eine rhetorische Frage, denn mein Mann liest gerade die Zeitung und möchte sicher höchstens durch einen Weltuntergang gestört werden. Der kommt allerdings erst in 21 Tagen …
»Nur das Übliche«, sage ich und streiche mir Honig aufs Brötchen. Aber das Flämmchen des Widerstandes wurde gestern gestärkt. Ich weiß genau, was ich zu tun habe.
Onkel Leo ist ein unmöglicher Mensch, unsympathisch und widerlich. Seine rassistischen und sexistischen Sprüche haben mich schon immer geärgert. Die Kinder haben recht: Nicht jeder Mensch verdient automatisch unsere Zuneigung und unseren Respekt. Die Zahl der Lebensjahre macht einen Menschen nicht unbedingt besser.
Ich fühle mich nicht einmal mit ihm verwandt. Um es genau zu nehmen: Er ist Pauls Onkel, nicht meiner. Zudem angeheiratet: Leo hat die Schwester von Irene geheiratet. Diese Tante ist vor zehn Jahren verstorben. Nach seiner Pensionierung hat Leo sich vor allem in Asien aufgehalten. Ich will gar nicht wissen, was er da getrieben hat. Als er gebrechlich wurde, kam er wieder heim. Jetzt ist er seit drei Jahren im Altersheim. Ich habe ihm zwar beim Umzug geholfen, besucht habe ich ihn dort jedoch nie. Er kam ja ab und zu bei Irene vorbei, das hat mir immer völlig gereicht. Und eben die gemeinsamen Weihnachtsfeste …
Aber das soll sich jetzt ändern.
Ich fahre mit dem Bus nach Steinen und bereite in Gedanken meine Rede vor. Ja, ich werde Leo im Altersheim besuchen und ihm klarmachen, dass ich ihn an diesem Weihnachtsfest nicht sehen möchte. Eine heikle Mission. Gibt es höfliche Worte, um zu sagen: »Bleib gefälligst meinen Töchtern fern!«?
Das Heim am Dorfrand von Steinen steht sehr abgelegen auf einer Wiese. Die Zimmer bieten einen schönen Blick auf den Lauerzersee, das hat Leo immer gefreut. Mir selber kommt es ein wenig so vor, als hätte man die alten Leute abgeschoben, an den äußersten Rand des Dorfes.
Ich gehe auf das Haus zu und werde zunehmend nervös. Tue ich das Richtige? Finde ich die passenden Worte? Wird es eine schlimme Szene geben?
Ein eisiger Wind faucht mich an. Ich ziehe die Mütze tiefer ins Gesicht. Jetzt hält mich nichts mehr auf. Die Löwenmutter bläst zum Kampf.
Ich melde mich beim Eingang. Wer weiß, ob Onkel Leo noch im gleichen Zimmer wohnt.
Tut er. Gut, das werde ich finden. Dritter Stock. Zimmer sieben. Fünf, sechs, sieben … Da ist es.
Mein Herz klopft. Ich stehe einen Moment vor der Zimmertür und höre drinnen einen Mann herumschreien.
Mutig klopfe ich trotzdem an die Tür, und eine dünne Stimme ruft mich herein. Was ich sehe, trifft mich unerwartet.
Ist das Leo?
Ich bin schockiert. In einem Gitterbett liegt ein mageres Männchen mit großen, wachen Augen. Die wenigen Haare stehen wild von seinem Kopf ab. Ich habe mich noch nicht von Leos Anblick erholt, da zischt etwas an mir vorbei.
Peng!
Er hat mit einer Pillendose nach mir geworfen! Sie prallt an die Wand neben der Tür, und die gelben Tabletten rollen über den Boden. Gut, dass er nicht zu treffen weiß. Dabei habe ich noch keinen Pieps gesagt.
Spinnt der? Ich bin fassungslos.
Aber es kommt noch schlimmer, Leo fängt an zu keifen: »Schwester! Da ist schon wieder eine Frau! Ich kenne sie nicht. Sie soll gehen. Ich will keinen Besuch. Schwester!«
Ich stehe da, sprachlos, bewegungslos.
Was habe ich erwartet? Dass Leo in seinem Lieblingssessel sitzt, mit hochgelegten Beinen, Zeitung liest und Marschmusik hört? Schöne, kuschelige Altersheimidylle?
Ja. Eigentlich genau das.
Aber ich stehe hier im Zimmer eines kranken, verwirrten Mannes. Ich werde ihm auf keinen Fall sagen können, was ich wollte. Er würde es nicht verstehen.
Der Mann, der bisher auf Leos Nachbarbett gelegen hat, steht auf, humpelt auf mich zu, nimmt mich am Arm und führt mich in den Gang hinaus.
Leo schimpft und flucht uns hinterher: »Ja, ja, geht nur alle! Ich brauche keinen, ich will nur meine Ruhe!«
Leos Zimmernachbar scheint ganz munter zu sein. Der hat sich ja eine nette Gesellschaft angelacht auf seine letzten Tage.
»Ich heiße Viktor«, sagt er und reicht mir höflich die Hand.
Auch ich nenne meinen Namen und lächle, wohl etwas gequält. »Er ist nicht immer so«, beruhigt mich der alte Mann. »Manchmal liegt er auch einfach da und starrt an die Decke. Und dann schläft er wieder stundenlang.«
Ob er denn manchmal auch normal ansprechbar sei, frage ich.
»Selten. Ganz selten«, sagt Viktor und schüttelt traurig den Kopf. Besuch bekomme er kaum noch. Irene schaue einmal im Monat kurz vorbei. Sie werde aber auch oft beschimpft und mit Gegenständen beworfen.
Oh. Das trifft mich jetzt doch irgendwie.
»Wie halten Sie das bloß aus?«, wage ich zu fragen.
Viktor zuckt mit den Achseln.
»Mir geht es gut. Ich kann das Zimmer verlassen.«
Ja, das wird er wohl öfter tun müssen.
Schlimm.
Ich bin mit viel Groll hierhergekommen. Der ist jetzt in sich zusammengefallen. Er tut mir leid, dieser magere Leo, der mit der Welt nicht mehr zurechtkommt. Und Viktor erst, er muss ihn Tag für Tag ertragen. Was für ein Leben!
»Sonja, bist du das?«
Ich drehe mich um und sehe eine Krankenschwester am Ende des Ganges. Wer …? Ich gucke genauer hin, und dann erkenne ich sie. Was für eine erfreuliche Überraschung: Ich treffe hier eine ehemalige Schulkameradin!
»Monika? Meine Güte, wie ewig ist das denn her! Schön, dich zu sehen.«
Wir begrüßen uns herzlich, und nachdem ich zunächst wie perplex war, kommen wir ins Gespräch. Monika leitet die Station, erzählt sie mir. Ich hatte sie aus den Augen verloren, als sie für viele Jahre in einem afrikanischen Hilfswerk tätig war. Ich mustere sie unauffällig. Sie hat schon ein paar graue Haare bekommen und ein paar Kilos mehr auf den Hüften, aber davon abgesehen lacht sie immer noch so fröhlich wie früher in die Welt. Als ich ihr sage, dass Leo mein Onkel ist, wundert sie sich, und ich komme mir schlecht vor. Schließlich habe ich ihn nie besucht.
Monika nimmt das gelassen.
»Leo ist kein einfacher Patient«, vertraut sie mir an, »eher eine Herausforderung für alle Pflegekräfte.« Ein gutes Wort habe noch keine von ihm gehört, gibt sie sofort zu. Trotzdem bekomme er natürlich eine gute Pflege, das sei nun mal ihr Job. Sie meint im Übrigen, er könne noch Jahre so weiterleben. Er sei bloß dement und schwach, ansonsten nicht wirklich krank.
»Manchmal ist er etwas aggressiv. Dann wirft er mit Gegenständen. Aber er trifft selten«, lacht sie.
Ich bewundere sie für diesen harten Job. Eine ehrenwerte, sinnvolle Arbeit.
»Es ist manchmal schwer. Man hat immer mit dem Sterben zu tun. Und mit Leiden, Trauer, Schmerz. Aber wir können dafür täglich viel Gutes tun.«
Es bilden sich ein paar tiefe Falten in ihrem Gesicht, während sie das sagt. Dies dauert indessen nur einen flüchtigen Moment lang, und schon lacht sie wieder.
Monika wirkt stark und gefestigt. Sie sieht aus, als hätte sie diesem ganzen Elend sehr viel entgegenzusetzen. Ihre Frohnatur scheint nicht wirklich gelitten zu haben. Als sie schließlich wissen will, warum ich denn nun plötzlich hier aufgetaucht sei, vertraue ich mich ihr an. Nein, sie lacht mich nicht aus. Aber sie lacht.
»Diesen Weg hättest du dir sparen können. Er kann das Haus an Weihnachten sicher nicht verlassen.«
Monika muss weiter. Die Zeit sei in der Pflege ein kostbares Gut.
Aber es habe ihr gutgetan, mit mir zu reden.
Und mir erst!
Einerseits fahre ich nun erleichtert heimwärts. Eine Auseinandersetzung mit Leo gab es nicht. Aber ich bin natürlich andererseits bedrückt und nachdenklich. Ich habe dem Elend in die Augen gesehen.
Wie traurig, so seinen Lebensabend verbringen zu müssen!
Umso mehr sollten wir Gesunden jeden Tag unser Leben genießen, und umso mehr sollte es mir möglich sein, gemeinsam mit meiner Familie eine schöne Weihnachtszeit zu verbringen. Uns geht es ja dermaßen gut. Wie schnell man das vergisst.
Zu Hause leuchtet mir an der Hauswand der rostige Weihnachtsstern entgegen. Jedes fünfte Lämpchen ist kaputt. Die Tage des rostigen Sternenmonsters sind gezählt. Ich lächle vor mich hin, als ich die Tür zu unserem gemütlichen Heim aufschließe.
Alles wird gut. Jetzt glaube ich daran. Der erste Schritt ist getan.
6
Am ersten Advent hat Lilly morgens ein Tennisturnier. Längst will sie uns nicht mehr immer im Publikum haben. Dabei mochte ich diese Ausflüge und habe gern mitgefiebert, mitgelitten, angefeuert. Ich war ganz die strahlend-stolze Mutter, wenn Lilly ihre Gegnerinnen vom Platz gefegt hat, und notfalls habe ich sie auch gern getröstet.
Lilly hat heute auch ohne mich gut gespielt, wenn auch nicht gewonnen. Sie kann damit leben. Ich sowieso.
Am Nachmittag sind beide Mädchen weg. John Grisham liest in der Schule. Ich ginge auch gern hin, ehrlich. Lieber als zu Irene. Wir lesen seit Jahren alle gern Grisham-Krimis. Es hätte mich interessiert, was er über Weihnachten schreibt und denkt.
Nur noch 19 Tage bis zum Weltuntergang.
Irene, meine Schwiegermutter, ist völlig überrascht, als wir ohne die Zwillinge zum Adventskaffee kommen.
»Aber sie haben es dir gesagt«, wage ich einzuwenden.
»Ja, das schon. Ich dachte, ihr würdet sie noch zur Vernunft bringen«, antwortet Irene und schaut mich vorwurfsvoll an.
Asche, Asche, Asche …
Wir verleben dann doch einen recht angenehmen Nachmittag. Draußen ist es dunkel und nass. Wir trinken Kaffee und essen frisch gebackene Plätzchen. Auch ich genieße Irenes Kreationen, denn sie kann hervorragend backen. Ich greife vor allem bei den Zimtsternen zu. Die sollen bekanntlich das Gemüt aufhellen. Wie viele muss man wohl essen, damit die Wirkung einsetzt? Heute bräuchte ich dazu den Zimt wohl pur und intravenös.
Zwei riesige Dosen mit aufgemalten Engeln darf ich später mit hinunternehmen, gefüllt mit lauter verschiedenen Weihnachtsplätzchen. Amelie und Lilly werden sich freuen.
»Wenn du dich schon nicht aufraffen kannst, selber zu backen«, meint Irene leicht giftig, als sie mir die Dosen übereicht.
Warum sollte ich, wo sie es doch viel besser kann?
Wir hören gemeinsam alte Weihnachtsschallplatten, die alle ein wenig kratzen. Wir schauen uns Fotos aus halb zerfallenen Alben an und tauschen Erinnerungen aus. Wir geben uns Mühe, sind nett zueinander, versuchen, einen gemütlichen Nachmittag miteinander zu verbringen.
Ich bin manchmal wirklich traurig über mein gestörtes Verhältnis zu Irene und umgekehrt. Schließlich habe ich selber keine Eltern mehr. Gern würde ich also eine Schwiegermutter in mein Herz schließen. Aber mit Irene werde ich wohl nie mehr warm. Ich habe bereits so viele Angriffe auf ihren Seelenpanzer unternommen: zwecklos. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich an mir liegt. Vielleicht mag sie mich sogar, nach all den Jahren, irgendwie, tief in ihrem Inneren, da, wo sie selber nicht mehr hinschaut. Selbst Paul hat ja keine besonders tiefe, liebevolle Beziehung zu ihr. Er kennt es nicht anders. Ich schon. Ich hatte eine warmherzige, fröhliche Mutter. Dazu einen verständnisvollen, intelligenten Vater. Wir hatten ein harmonisches Familienleben. Ich habe mich zwar viel mit meiner Schwester Corinne gestritten. Grundlos. Aber das hatte nichts zu bedeuten.
Eine glückliche Familie ist wie eine Insel, auf die man immer flüchten kann, wenn man auf dem Meer von einem Sturm überrascht wird. Und dieses Gefühl macht stark und unbesiegbar. Genau dieses Gefühl, diese Gewissheit wollte ich an meine Kinder weitergeben. Aber dazu gehört eben eine intakte Partnerschaft, ein unbelastetes Elternhaus.
Ich glaube, daran muss ich etwas arbeiten.
»Hast du mich für die Silvestergala angemeldet?«, frage ich meinen Ehemann am Abend.
Er brummelt etwas vor sich hin und verschanzt sich hinter der Sonntagszeitung.