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»Hast du?«, bleibe ich hartnäckig am Ball.
Ich will ein Zeichen setzen. Wir werden gemeinsam in das neue Jahr tanzen, wie in früheren Jahren, und uns nicht immer weiter voneinander entfernen. Das sind meine Vorsätze.
Mein Mann organisiert jedes Jahr für seine Bank eine große, öffentliche Wohltätigkeits-Silvestergala. Früher war ich immer dabei. In den letzten Jahren nicht mehr. Einmal war ich krank, dann war etwas mit den Kindern, später blieb ich einfach daheim … Das soll sich ändern.
»Wenn es dir so wichtig ist, werde ich es also tun. Ich dachte, es läge dir nicht viel daran.«
Von wegen!
»Mir ist es wichtig«, betone ich.
Sicherheitshalber. Auf mein hartnäckiges Nachfragen hin erzählt er mir sogar, was er für den Silvesterball schon gebucht hat. Schließlich ist das Fest ja sein Kind, und er ist an jeder Entscheidung beteiligt.
»Die Bruno-Bosshard-Band wird spielen. Eine richtig gute, vielseitige Tanzkapelle. Sie wird dir gefallen. Während des Essens spielt ein Pianist Klassik und Jazz. Das ist endlich mal eine gute Lösung. Sonst gab es doch immer Ärger, weil die Band zu laut spiele. Als Show-Act haben wir die Betty-Bossi-Singers bekommen. Das sind sechs witzige Sängerinnen mit viel komödiantischem Talent. In einer Bar werden wir erstmals einen Karaoke-Wettbewerb durchführen.«
Paul hat seine Zeitung vergessen, und wir reden und diskutieren. Dabei lehne ich mich an ihn.
»Ich werde mir ein schönes Kleid kaufen«, erkläre ich. »Deine Kreditkarte wird glühen.«
Paul lacht nur und legt seinen Arm um mich. Geld war bei uns noch nie ein Streitthema.
Hoffentlich vergeht ihm das Lachen nicht. Mir selber wird es am Montag schon etwas mulmig. Ich bin bei Corinne in Luzern. Meine ältere Schwester führt hier eine kleine, erfolgreiche Boutique. Ich besuche sie mindestens einmal im Monat. Es sind jeweils teure Besuche, denn Corinne weiß, was mir steht und was mir gefällt, und legt oft speziell für mich etwas zur Seite. Ihre Kleider sind atemberaubend, die Preisschilder auch. Aber diesmal will ich in erster Linie schön sein, koste es, was es wolle.
Corinne selber ist immer schön. Das ist Teil ihres Jobs, aber sie wirkt auch in Jeans und Turnschuhen immer beneidenswert grazil und elegant. Das hat man – oder eben nicht. Heute trägt sie ein einfaches, sackartiges, mausgraues Strickkleid, das manche Frau völlig verunstalten würde; sie sieht darin hinreißend aus.
»Ich habe etwas für dich!«, sagt sie sofort, kaum dass sie mich begrüßt hat.
Sie schubst mich in die Umkleidekabine: »Zieh dich schon mal aus.«
Sie ist ganz aufgeregt, und ich hoffe nur, dass sich ihre Aufregung lohnt. Ich möchte sie nicht enttäuschen, aber ich will das perfekte Kleid finden, eines ohne Bling-Bling und Schnickschnack, das trotzdem umwerfend ist. Aber eigentlich sollte sie mich ja kennen.
»Hier!«, sagt sie, und innerlich schmettert sie wohl gerade einen Tusch, als sie mir das Kleid in die Kabine reicht.
»Oh!«
Jetzt werde auch ich aufgeregt. Mein Herz klopft laut, als ich die nachtblaue Robe überziehe. Corinne hilft mir mit dem Reißverschluss, zupft und zieht und richtet da und dort.
»Dreh dich mal!«, befiehlt sie.
Ich drehe mich vor der Spiegelwand im Laden, und ich weiß: Dieses Kleid muss es sein. Es besteht aus einem Korsagenoberteil und einem langen Rock aus feinem Tüll. Dazu gehört ein Chiffonschal, der meine Oberarme verhüllt. Das Kleid passt wie angegossen und ist bezaubernd. Ich fühle mich darin in meine Kindheit zurückversetzt: Damals habe ich gern Prinzessin gespielt.
Paul wird stolz auf mich sein. Auch Corinnes Augen glänzen vor Stolz und Freude. Sie lässt mich ein paarmal im Laden auf und ab gehen. Ich schreite und schreite daher und bin ein anderer Mensch. »Ihr müsst unbedingt Fotos machen, bevor ihr weggeht. Versprich mir das, Principessa!«
Das verspreche ich ihr gern.
Principessa, so hat mich Paul früher genannt. Es war eine Anspielung auf meine Spiele in der Kindheit, von denen ich ihm in einer schwachen Minute einmal erzählt hatte.
Es wird Zeit, dass er mich mal wieder als Prinzessin sieht.
»Was ist los?«, fragt Corinne, die mich wie kein anderer Mensch durchschaut. »Hast du Sorgen?«
»Nein, nein. Nur ein paar Vorsätze fürs neue Jahr. Und den üblichen Weihnachtsblues.«
Corinne lacht auf. Sie hat nämlich ihre eigene Weihnachtstradition: Meine Schwester verreist über Weihnachten auf die Malediven. Gemeinsam mit ihrem langjährigen Lebenspartner verbringt sie die Festtage meist unter Wasser, taucht und schnorchelt und bekommt von der Hektik über Wasser gar nicht viel mit.
Auch eine Strategie: abhauen, abtauchen.
Jedes Jahr beneide ich Corinne um diese Reise. Und sie lacht mich immer nur aus.
»Ich beneide dich das ganze Jahr über um dein Leben, also kann es dir wenigstens über die Festtage auch mal so gehen. Das ist das Mindeste«, gibt sie zurück.
Sie hat ja recht: Ich habe so viel. Meine Schwester kann keine Kinder bekommen und leidet heute noch darunter. Sie ist die perfekte Patentante für meine Zwillinge, wäre aber lieber selber Mutter. Meist ist mir durchaus klar, wie gut es mir geht.
Trotzdem.
»Es ist erlösend, einfach abzuhauen. Das würde euch auch mal guttun«, schlägt sie vor.
Als könnten wir Irene allein lassen und etwa als Familie über die Festtage in die Skiferien fahren!
»Der Geschenketerror, die Schlacht um den richtigen Christbaum, die Planung der Familieneinladungen, die üblichen Familiendramen, das Schlangestehen in den Geschäften … alles findet nicht statt. Stattdessen Wärme, Wind, Wasser und Wonne. Vor allem Wonne.«
Sie kommt richtig ins Schwärmen, meine liebe Corinne. Und ich mag es ihr ja von Herzen gönnen, dass sie immer so eine wunderbare Zeit auf den Malediven hat. Ich weiß, dass es ihr manchmal wehtut, mein Familienglück mitanzusehen. Trotzdem ist sie großzügig und mitfühlend und viel mehr als nur eine Schwester: eine richtige Freundin. Ich glaube, dass keine Freundin der Welt eine Schwester ersetzen kann. Manchmal gehen Freundschaften auseinander, niemals aber Familienbande. Jedenfalls nicht unsere.
»Ich trage zwei Wochen lang keine Schuhe, bloß Flipflops und Flossen. Zum Abendessen gibt es frischen Fisch und anschließend Party unter Palmen. Eine absolut weihnachtsmannfreie Zone.«
Ja, ich weiß, sie könnte stundenlang weiterschwärmen. Aber sie weiß, dass ich weiß, dass sie sofort mit mir tauschen würde.
»Du hast aber mitgekriegt, dass am 21. Dezember die Welt untergeht?«, wage ich einzuwenden.
Sie erwidert leichthin: »Oh, schade, da bin ich leider nicht da. Wir fliegen am 20. Dezember.«
»Es ist Weltuntergang, und Corinne geht nicht hin.«
Wir lachen beide.
7
»Sonja, wenn dein Mann noch ein Geschenk für dich sucht: Sag ihm, er soll mich anrufen. Ich hätte eine traumhafte Halskette zum Kleid, aber die zeige ich dir nicht«, sagt Corinne beim gemeinsamen Kaffeetrinken.
»Da wird sich Paul bestimmt freuen. Ich kenne ihn doch. Sonst muss am Ende seine Sekretärin wieder mein Weihnachtsgeschenk aussuchen«, antworte ich.
Geschenke.
Ein besonderes Thema vor Weihnachten.
Seufz.
Megaseufz.
So würden es zumindest meine Töchter ausdrücken.
»Was für ein Geschenkeberg jedes Jahr! Jeder beschenkt jeden, liebevoll oder gleichgültig, ob freudig inspiriert oder völlig ideenlos. Geschenkt muss werden«, schimpft Corinne, die ja selbst vom Weihnachtsgeschäft profitiert.
Aber sie hat recht.
Allerdings kann ich mich nicht ernsthaft über den hysterischen Rummel in den Geschäften beklagen, wenn ich mich selber alljährlich ins Gewühl stürze und viel zu lange herumstöbere, um das richtige Geschenk für das richtige Familienmitglied zu finden. »Warum hört ihr nicht einfach mit dem Schenken auf? Die Kinder sind doch bald gar keine Kinder mehr«, fragt Corinne forsch. Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Trotzdem schüttle ich meinen Kopf und erwidere: »Ich betrachte mich zwar als modern und aufgeschlossen. Aber konsequent zu sein, und einfach ganz auf Geschenke zu verzichten, das würde ich nie schaffen. Und wenn ich Familien beobachte, die dies gemeinsam beschlossen haben, muss ich oft lächeln, weil dann doch im letzten Moment Geschenke hin- und hergeschoben werden. Oder weil es dann doch irgendwie lange Gesichter gibt, wenn sich tatsächlich alle daran halten.«
Weil ich natürlich daran denke, was die Zwillinge erzählt haben: Wenn die Geschenke nicht wären, hätten fast alle dafür gestimmt, Weihnachten abzuschaffen.
Verrückt!
Weihnachten abschaffen!
Auch Corinne ist ziemlich schockiert, als ich ihr davon erzähle.
Aber sie fasst sich schnell wieder und meint: »Gewiss könnte man den Ursprung des Festes, nämlich die Geburt Christi, auch mit einem schönen Gottesdienst feiern. Ein bisschen Weihrauch, ein paar Kerzen, schöne Lieder und fertig. Man könnte das Drumherum abschaffen. Rein theoretisch. Deswegen hätte man Weihnachten ja nicht abgeschafft.«
Da kann ich nur zustimmen.
»Nur wäre das verdammt schlecht für mein Geschäft. Ich müsste dann vielleicht eine Woche früher von den Malediven heimfliegen«, denkt sie laut weiter.
»Es müsste wirklich nicht von jedem Haus in allen Farben blinken. Es müssten nicht Rentiere in den Gärten und aufgeblasene Weihnachtsmänner auf den Dächern stehen. Das ist ja kein Gebot. Den ganzen Rummel haben wir selber nach und nach auf dieses religiöse Fest draufgepackt.«
Wenn Corinne und ich Kaffee trinken und plaudern, kann das stundenlang dauern. Wir kommen auf das Thema Geschenke zurück.
»Geschenke sind oft Glückssache«, findet Corinne, »manchmal auch Unglückssache. Erinnerst du dich, als du mir vor fünf Jahren Malutensilien geschenkt hast, bloß weil ich irgendwann geäußert hatte, ich würde gern malen können. Malen können! Nicht malen wollen!«
Heute können wir darüber lachen. Wir schenken uns jetzt nichts mehr.
»Und seither passe ich immer wahnsinnig auf, was ich vor Weihnachten so nebenbei von mir gebe. Was war denn bisher dein schlimmstes Weihnachtsgeschenk?«, will sie wissen.
Ich muss gar nicht lange überlegen.
»Paul schenkte mir vor ein paar Jahren ein unmögliches Parfüm, und da ich ihn nicht verletzen wollte, tat ich ganz begeistert. Im Jahr darauf bekam ich eine doppelt so große Flasche vom gleichen Duft. Er war vielleicht modern, frisch und fruchtig, aber ich bevorzuge nun mal alte, schwere, süße Düfte. Ich habe das Parfüm dann als Raumspray im Badezimmer verwendet und viele Komplimente dafür bekommen.«
»Und du bekommst das Parfüm immer noch jedes Jahr?«, will meine neugierige Schwester wissen.
»Nein. Ich habe einmal erwähnt, ich würde es einfach nicht mehr riechen, weil ich mich so daran gewöhnt hätte. Das sei wirklich schade. Ich hätte gar keine Lust mehr auf Düfte.«
Frauen sind ja so einfallsreich, wenn es sein muss.
»Corinne, erinnerst du dich noch an meine Schlafanzüge?«
Sie lacht und weiß sofort Bescheid. Als Kind waren die Geschenke meiner Patentante in unserer Familie sogar ein Running Gag: Sie kam nie zu Besuch, lebte in Frankreich und wusste nicht, dass ich sehr klein war. Jedes Jahr bekam ich einen Schlafanzug, und zwar in der Größe, die in meinem Alter hätte passen sollen. Theoretisch. Praktisch ging ich regelmäßig in den Riesendingern unter und habe sie gehasst. Nicht die Patentante, sondern diese viel zu großen Schlafanzüge. Damals hätte ich gern alle Pyjamas der Welt gegen eine Gitarre getauscht.
»Tja, Weihnachten ist wie das Leben: Viele Wünsche bleiben unerfüllt«, bemerkt Corinne. Sie klingt ein wenig traurig.
Um sie abzulenken, erzähle ich nun munter von Irene: »Meine Schwiegermutter schenkt mir jedes Jahr irgendetwas extrem Nützliches für den Haushalt. Von der Schubladen-Ordnungsbox für Socken über den Abflussstöpsel mit Smiley-Aufdruck bis zum zehnteiligen Türhakenset als Aufhängeeinrichtung habe ich schon ziemlich alles Mögliche und Unmögliche von ihr bekommen.«
Corinne erwidert: »Wahrscheinlich sind diese Geschenke sogar ein Zeichen der Liebe. Sie schenkt dir Dinge, die sie selber wertvoll und nützlich findet und in ihrem Haushalt verwendet. Vielleicht kommen sie nur bei dir falsch an, weil du ihren Wert nicht erkennst, du Banause. Aus dir wird nie eine richtige Hausfrau.«
Möglich.
Asche, Asche, Asche …
»Für die Mädchen kann ich diesmal die Geschenke im Internet bestellen. Sie wollen beide einen E-Book-Reader«, plaudere ich weiter. »Du weißt, wir sind Leseratten, und Bücher wird es in unserem Hause auch weiterhin geben. Trotzdem sehe ich auch die Vorteile eines solchen Readers: So ein kleines Leichtgewicht kann massenhaft Bücher laden. Man kann eine ganze Bibliothek in der Handtasche mitführen. Fantastisch! Und ich werde noch ein paar Gutscheine für die ersten E-Books dazukaufen.«
Jetzt stürmen ein paar Kundinnen in Corinnes Geschäft. Sie sehen kauffreudig und finanzkräftig aus. Also verabschiede ich mich schnell mit einer kurzen Umarmung von meiner Schwester.
»Es gibt auch auf den Malediven Internet. Also schreib mal«, fordert sie mich auf. »Du darfst auch ruhig bei mir über Weihnachten jammern, wenn ich dir ein paar Fotos von Sonnenuntergängen über dem Meer schicken darf.«
Ich gebe ihr einen liebevollen Klaps und gehe lachend davon.
Paul macht es mir jedes Jahr leicht: Er schreibt eine Bücherwunschliste. Und ich halte mich daran. In Luzern steht meine Lieblingsbuchhandlung, Stocker. Ich spaziere durch die Altstadt auf das Geschäft zu. Vor meinem geistigen Auge schreite ich in meiner nachtblauen Robe über die Pflastersteine, mein blondes Haar kunstvoll frisiert. Prinzessin Sonja. Corinne wird mir das Kleid in einer schönen, großen Schachtel schicken, sorgfältig verpackt. Sie wollte es mir nicht in den Zug mitgeben.
Aus allen Schaufenstern schreit mir Weihnachten entgegen.
Eine einzige Aufforderung: Leute, kauft, kauft, kauft!
Ein leichter Nieselregen verdirbt mir meinen Schaufensterbummel. Der Wind, der durch die Gassen zieht, ist eisig und schmerzt, auch wenn ich meinen Schal ins Gesicht ziehe. Die Menschen gehen zielstrebig und mit angestrengten Mienen ihren Weg. Ein Straßenmusiker haucht in seine gefrorenen Hände, nimmt dann die Gitarre und spielt und singt unerschrocken weiter. Seine rote Nase läuft.
Im Buchhaus Stocker ist es warm und trocken. In der Luft liegt ein klebriger Soundteppich mit Weihnachtsmusik. Trotzdem fühle ich mich wohl. Bücher begeistern mich. Paul ist genauso.
Ich versuche, mich auf Pauls Wunschliste zu konzentrieren, denn überall lachen mich Bücher an, die mich interessieren würden. Aber weil ich mit dem Zug nach Luzern gekommen bin, ist es mir nicht möglich, beliebig viele Bücher heimzuschleppen. Ich kaufe also diszipliniert ein, belasse es weitgehend beim Durchblättern und Bestaunen der Bücherpracht und mache mich dann auf den Heimweg.
8
Noch 16 Tage bis zum Weltuntergang.
Da ich nicht wirklich damit rechne, packe ich Geschenke ein und bereite mich auf die Zeit danach vor: Weihnachten. Ich bin nicht sonderlich begabt im Umgang mit Glanzpapier und Schleifchen. Immerhin muss ich für Paul nur Bücher einpacken.
»Bücher, Bücher, Bücher …«, spottet Lilly, die gerade vom Training heimkommt und auf dem voll belegten Küchentisch eine Ecke sucht für ihren Tee und eine Banane. »Papa könnte doch auch langsam in der Neuzeit ankommen und sich einen Reader anschaffen.«
»Könnte er«, antworte ich, »muss er aber nicht.«
Ich mag es, Bücher anzufassen, anzuschauen, ja sogar zu riechen. Ich kann Paul verstehen.
»Was wünschst du dir eigentlich?«, fragt Lilly mich, nicht zum ersten Mal.
Soll ich ihr sagen, dass ich mir den Januar wünsche, und zwar sofort?
»Einen cremigen Badezusatz, die neue CD von Nena und die von Celine Dion …« Mehr fällt mir gerade nicht ein. »Ich bin doch wirklich kein schwieriger Fall«, lache ich Lilly aus. »Ich wüsste dafür gern, was man Irene schenken könnte.«
Lilly denkt kurz nach und erklärt dann: »Ich habe neulich gesehen, dass ihre Bratpfanne total zerkratzt ist. Das ist mega-ungesund. Wieso schenkst du ihr nicht eine neue?«
Ein Lächeln erhellt mein Gesicht. Ein breites, zufriedenes Lächeln.
Eine Bratpfanne!
Da wird sich meine Schwiegermutter bestimmt freuen!
Lilly beobachtet mich schweigend eine Weile beim Einpacken und meint dann: »Mama, du verwendest das hässlichste Geschenkpapier weit und breit.«
Stimmt.
Ich kann einfach nicht anders.
Wenn ich beim Einkaufen vor dem Regal mit dem Packpapier stehe und den ganzen grässlichen Kitsch sehe, greife ich immer in die Vollen. Wenn schon, denn schon.
»Was ist an diesen Engeln mit Harfen nicht in Ordnung? Und an den kleinen Hunden mit den großen Schleifen um den Hals?«, frage ich mit unschuldigem Blick.
Lilly schüttelt nur den Kopf über mich.
»Du weißt, Mama, dass wir seit zehn Jahren den gleichen Weihnachtswunsch haben, Amelie und ich, und ihr diesen jedes Jahr aufs Neue ignoriert? Nur, damit es nicht irgendwann heißt, wir hätte nie mehr was gesagt.«
Gut, das Geschenkpapier mit den Hunden hätte ich vielleicht nicht kaufen sollen …
»Lilly, bitte, nicht wieder dieses Thema. Sobald ihr eine eigene Wohnung habt, könnt ihr euch tausend Tiere anschaffen. Und glaub mir, das wird bald sein.«
»Du nimmst mich nicht ernst.«
Dieser Satz musste ja kommen.
Stimmt. Ihren Wunsch nach einem Hund will ich nicht ernst nehmen. Wer sollte denn auf das Tier aufpassen, wenn Paul und ich arbeiten und die beiden in der Schule sind? Und an wem würde die Arbeit hängen bleiben, die ein Tier macht, wenn die erste Begeisterung verflogen ist? Ich bin so froh, dass Paul über Hunde denkt wie ich: Kommt nicht infrage!
Wir haben ja schon einen Wellensittich und zwei Hamster überlebt und nach vielen Dramen zu Grabe getragen. Das mit dem Wellensittich war der Hammer: Die Kinder waren auf Klassenfahrt, als er einfach von seiner Stange fiel. Also habe ich ihn begraben. Die Mädchen kamen heim, merkten nicht einmal, dass der Vogel fehlte. Sie hatten sich eh nie um ihn gekümmert und setzten immer voraus, dass ich ihn füttern und versorgen würde. Amelie und Lilly merkten erst nach einer geschlagenen Woche, dass der Vogel nicht mehr da war. Und dann kam das riesengroße Wehklagen. Paul und ich hatten allerdings nicht besonders viel Mitleid mit den Trauernden.
Auch die Hamster haben eine traurige Geschichte: Der eine wurde von einem Nachbarshund totgebissen. Er war im Garten, eingezäunt zwar, aber leider nicht zugedeckt. Der andere verschwand einfach, ebenfalls im Garten, auf Nimmerwiedersehen. Wir mussten stundenlang nach ihm suchen, und die Kinder hängten sogar Plakate auf im Viertel: Hamster vermisst. Wir bekamen zahlreiche Anrufe von Leuten, die uns zu gern ihren Hamster geschenkt hätten. Aber Paul und ich hatten genug und beschlossen: Keine Haustiere mehr!
Ja, meine Zwillinge sind manchmal unschlagbar, wenn sie zusammenhalten, aber auch Paul und ich können eine uneinnehmbare Festung bilden, wenn wir wollen.
Ich lächle in Erinnerung an all die Taktiken, die Amelie und Lilly sich ausdachten, um uns für einen Hund zu begeistern. Vor ein paar Jahren lebte fast einen Monat lang ein imaginärer Hund in unserem Heim. Irene machte sich irgendwann Sorgen und fand, man müsse diese Störung vielleicht professionell abklären lassen. Die beiden sprachen mit dem Tier, zogen es hinter sich her, spielten mit ihm. Manchmal sah ich den Hund schon selber. Aber geholfen hat ihnen das Theater nicht.
Hier ist eine hundefreie Zone.
Und ob die Mädchen sich wirklich einmal einen Hund anschaffen werden, wenn sie eine eigene Wohnung haben und damit auch selber für ihn verantwortlich sind, ganz allein, das wage ich zu bezweifeln.
Am Abend sitzt auch Irene mit am Eichentisch. Es gibt Gemüsesuppe, Brot und Käse.
»Euer Onkel Leo wird dieses Jahr leider nicht zum Weihnachtsfest aus dem Heim kommen können«, erzählt meine Schwiegermutter plötzlich.
»Oh«, sage ich nur und denke mir meinen Teil.
Amelie und Lilly grinsen. Paul löffelt ungerührt seine Suppe.
»Tu nicht so überrascht«, stichelt Irene in meine Richtung. »Du warst doch erst gerade bei ihm.«
Jetzt schauen mich alle an. Sogar Paul unterbricht sein Löffeln.
»Stimmt«, sage ich leichthin. »Er wollte mich aber nicht sehen. Er hat eine Pillendose nach mir geworfen.«
Ich hatte bisher nicht über meine Begegnung mit Leo gesprochen, wollte sie eigentlich gar nicht erwähnen. Das Problem hatte sich ja erledigt. Das reichte mir.
»Sonja? Warum warst du denn bei Onkel Leo?«, fragt Paul verwundert.
»Nun, ich wollte mit ihm über Weihnachten sprechen«, antworte ich.
»Echt?«, fragt Lilly mit großen Augen.
Sicher kann sie sich vorstellen, was ich dort wollte.
»Und er hat dir eine Pillendose an den Kopf geworfen? Krass!«, kommentiert Amelie.
»Na ja, an den Kopf nicht direkt. Er wollte, aber er hat mich nicht getroffen.«
Auch von Irene ernte ich keine Schadenfreude. Sie ist froh, dass sie nun eine Leidensgenossin hat.
»Mich mag er auch nicht mehr sehen«, erklärt sie und schüttelt verständnislos den Kopf. Sie erzählt von ihren letzten Besuchen bei Leo und seinem Zustand. Dann präsentiert sie die nächste Überraschung: »Ich muss euch noch etwas sagen: Am zweiten Adventssonntag bin ich nicht hier. Es scheint euch ja eh nicht mehr so wichtig zu sein. Eine Freundin hat mich zu einer Wochenendreise auf den Weihnachtsmarkt von München eingeladen.«
Jetzt mache auch ich große Augen. Paul hustet, weil er sich an der Suppe verschluckt hat. Die Zwillinge grinsen.
»Aber …«, will Paul gerade protestieren.
Doch schon fällt ihm Lilly ins Wort: »Das ist eine gute Idee, Oma.
Dort habt ihr sicher viel Spaß.«
Amelie nickt wacker dazu.
»Ach, und wenn wir eh dabei sind, Verschiedenes zu verändern: Könnten wir nicht über ein neues Menü an Weihnachten abstimmen? Es ist mir wirklich wichtig. Ich will kein fettes Zeug essen. Diese Gans widert mich schon lange an«, traut sich Lilly die Gunst der Stunde zu nutzen. »Wer ist für ein neues Menü?«, fragt sie in die Runde.
Die Mädchen strecken ihre Hand hoch. Ich schließe mich an.
»Die Mehrheit«, konstatiert Lilly. »Ich danke euch.«
Einen Moment lang ist es ganz still am Tisch. Ich höre die Küchenuhr ticken. Meinem Mann ist der Löffel auf dem Weg vom Teller zum Mund stehen geblieben.
Doch dann lacht Irene.
Sie lacht!?
»Aber wir werden jetzt nicht über Weihnachten an sich und über den Christbaum und über Geschenke abstimmen!«, erklärt sie gespielt streng. »Und wir werden nicht die Christmette auslassen und stattdessen einen Horrorfilm anschauen.«
Sie lacht immer noch.
Ich schaue in meine Gemüsesuppe und frage mich, ob wohl irgendetwas drin ist, was da nicht reingehört. Psychedelische Substanzen? Falsche Pilze? Oder hat Irene bloß zu viele Zimtsterne gegessen?
Egal.
Ich atme erstmals seit langem wieder richtig durch. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, ein wohltuendes, befreites. Fröhliche Weihnachten!
Vor dem Schlafengehen kommen meine Zwillinge zu mir und umarmen mich. Zärtlichkeiten von Teenagern sind rar. Ich nehme die Streicheleinheiten dankbar an und erwidere sie gern.
»Wolltest du Leo wirklich ausladen?«, will Amelie wissen.
»Ja«, antworte ich. »Ich lasse ihn doch nicht ungestraft meine Mädchen belästigen.«
»Danke«, sagt Lilly. »Das war voll stark! Du bist eine coole Mutter.«
»Manchmal«, relativiert Amelie lachend.
»Oft«, meint Lilly.
Ich werde sie bei Gelegenheit an diese Expertise erinnern.
9
Am zweiten Adventssonntag wandern wir von Rothenthurm über den Katzenstrick nach Einsiedeln. Schnee, so weit das Auge reicht, dazu über uns ein kitschig blauer Himmel. Die Mädchen wollten auf den Einsiedler Weihnachtsmarkt, Paul wünschte sich ein wenig Bewegung an der frischen Luft. So kommen alle auf ihre Kosten. Der Weihnachtsmarkt in Einsiedeln ist sehr stimmungsvoll und erstreckt sich durchs ganze Dorf bis zum Klosterplatz. Wozu muss man dafür heute noch in deutsche Großstädte fahren? Zuerst essen wir Bratkäse und trinken Punsch, anschließend schauen wir uns jeden der 130 Stände an, bis wir nicht mehr stehen und gehen können und vor Kälte bibbern.