Chronik eines Weltläufers

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An den Hafendämmen lagen die Dampfer und Segler aller seefahrenden Völker, und auf den glitzernden Wogen wiegten sich die seltsam gebauten türkischen Gondeln und Kähne, zwischen denen bisweilen schlankgeflügelte Seemöwen übers Wasser hinschossen, als wollten sie in spielerischem Übermut ihre Fluggeschicklichkeit erproben und beweisen.4
Ich suchte mir in Pera ein europäisch eingerichtetes Quartier. Pera ist der Stadtteil von Konstantinopel, der vorzugsweise von Europäern, ihren Gesandten und Konsuln bewohnt wird. Ich wollte mir hauptsächlich die auf dem europäischen Festland liegende geschichtsträchtige Stadt und vielleicht noch ein oder zwei ihrer Stadtteile, wie Pera und Galata, ansehen. Das auf der asiatischen Seite gelegene Skutari interessierte mich weniger. Die eigentliche Kernstadt südlich des Goldenen Horns ist teilweise mit Ringmauern umgeben, von denen die innere mit den hohen Türmen noch ziemlich gut erhalten ist. Mehrere Tore durchbrechen diese Ringmauern, davon allein fünfzehn nach dem Goldenen Horn zu.
Dienstag, 15. Oktober 1867:
Mein erstes Ziel war die Hagia Sofia, heute Moschee und ehemals christliche Kirche, ein Musterbau byzantinischen Stils. Die unter dem osmanischen Herrscher Soliman dem Großen erbaute Moschee gleichen Namens wurde der Hagia Sofia nachgebildet und wird als die schönste gerühmt. Sieben Minaretts hat die Moschee Achmeds I. Übrigens gibt es noch viele christliche Kirchen und einige jüdische Synagogen. Der Serai, die verlassene Residenz der ehemaligen Sultane, liegt auf der Spitze des Dreiecks zum Bosporus und Goldenen Horn und ist von einer Mauer umgeben. Dort befinden sich Paläste, Moscheen und die Wohnungen der Sultanswitwen und der alten Palastdiener. Beeindruckt war ich von dem Großen Basar mit seinen langen, in verschiedene Richtungen verlaufenden Bogengängen, worin sich ein normaler Europäer gänzlich verirren kann. Die eigentliche Stadt ist fast dreieckig auf sieben Hügeln gebaut und besteht aus einem Gewirr von engen, winkeligen und stinkenden Gässchen mit meist elenden, fensterlosen Hütten, teils unterbrochen durch einen freien Platz oder ein größeres Gebäude. Ganz anders sieht es in Pera oder in Galata aus, denn beide Stadtteile sind doch mehr europäisch geprägt. Besonders imposant ist der fünfundvierzig Meter hohe und runde Turm in Galata, der als Signalpunkt dient und eine herrliche Aussicht über Konstantinopel und die Vorstädte bietet.
Während ich mich hauptsächlich darauf beschränkte, die Stadt am Bosporus kennenzulernen, wurde ich Zeuge, wie ein Gefangener fortgeschafft wurde.5 Ich erinnere mich deshalb so genau an diese Begebenheit, weil dieser Mann schöne und feine, aber in ihrem Missklang doch so teuflische Züge6 hatte. Sein Blick, als wir uns nur einen kurzen Moment Auge in Auge gegenüberstanden, war forschend, scharf, stechend und förmlich durchbohrend.
Kurz nach dieser Begegnung konnte ich einem türkischen Offizier namens Osman einen nicht unbeträchtlichen Dienst erweisen und es stellte sich dabei heraus, dass dieser früher Adolf Farkas hieß und ein ehemaliger ungarischer Offizier war. Wir wurden sozusagen Freunde und tranken gemeinsam so manche Tasse Kaffee und rauchten manchen Tschibuk miteinander.7 Er war es auch, der mir über einen Kammerdiener einen Ferman mit der Unterschrift des Sultans, einer sogenannten Tughra, besorgte. Der Ferman ist der höchste Pass. Er enthält oben zwischen den kalligraphischen Schnörkeln die Titel des Padischah. Es wird darin den Behörden alle mögliche Rücksicht auf die Wünsche des Reisenden anbefohlen. Auch sind allerlei für den Inhaber vorteilhafte Bestimmungen in diesem Pergament zu lesen, zum Beispiel, zu welchem Preis er Pferde, Begleiter und Führer und anderes haben kann.8 Damit war ich für spätere Reisen in den Orient bestens gerüstet.
Samstag, 9. November 1867:
Anfang November hatte ich das Glück, ein deutsches Dampfschiff im Hafen von Galata zu erwischen, das mich mit nach Hamburg nahm. Heute bin ich wieder glücklich in Dresden angekommen.
11. NORDLAND-REISE (1867-1868)1
Mitte Dezember 1867:
Anfang Dezember schnürte ich wieder mein Bündel und verabschiedete mich in der Hoffnung, in einigen Wochen wieder zurück zu sein. In Rostock fand ich einen Frachtdampfer, der mich zum schwedischen Hafen Salmis brachte. Salmis ist der Seehafen der Stadt Haparanda, das von den Schweden Län Norbotten genannt wird. Von hier aus sind es nur wenige Kilometer bis hinüber zur russischen Grenzstadt Tornea, die zum finnischen Gouvernement Uleaborg gehört und an der Mündung des Torne-Elf in den Bottnischen Meerbusen liegt. Hier erwischte ich glücklicherweise ein Rentiergespann, das mich hinauf nach Rovaniemi ins finnische Lappland brachte. Dort am nördlichen Polarkreis ist es um diese Jahreszeit nur zwei Stunden am Tag hell. Es herrscht ‚Kaamos‘, die Polarnacht, was auch gleichzeitig Ruhe, Stille und Friede bedeutet.
Hier traf ich auf dem Markt Vater Pent, das Oberhaupt einer Samenfamilie, die er wie ein Patriarch beherrschte. Er nahm mich mit und ich fand bei seiner sehr gastlichen Familie freundliche Aufnahme und war sofort in den Sippenverband mit eingeschlossen.
März 1868:
Es war der kälteste Winter, den ich je erlebte. Und ein Nordlicht, wie ich es in dieser Pracht und Herrlichkeit noch niemals beobachtet hatte. Ich nahm an einer Bärenjagd teil und es gelang mir, einige Geldbeutel wiederzufinden, die Vater Pent gestohlen worden waren, worauf dieser sein Amulett, seinen Talisman, in das Feuer warf. Zuvor sagte er zu mir: „Nie hat man hier solche Waffen gesehen, wie die deinigen sind. Ein jeder Dieb wird sich vor dir fürchten. Auch bist du in fernen, wilden Ländern gewesen, wo du gelernt hast, die Spur eines Flüchtlings zu lesen, wie wir es nicht vermögen. Du selbst hast uns erzählt von den bösen Indianern, denen ihr gefolgt seid über Berg und Tal, um ihnen die Felle wieder abzunehmen, die sie euch gestohlen hatten.“
Ich blieb noch einige Zeit bei der gastlichen Lappenfamilie, doch irgendwann musste ich wieder fort. In Salmis hatte ich noch zwei Tage zu warten, bis ein Schiff nach Stockholm ablegte. Von dort aus gelangte ich nach Rostock und im März 1868 war ich wieder zu Hause.
12. VIERTE NORDAMERIKA-REISE (1868-1869)
Donnerstag, 26. März 1868:
Als ich mich in Hamburg nach einer Überfahrt in die USA erkundigte, erfuhr ich, dass schon morgen ein Dampfschiff nach New Orleans abgehen werde, und erhielt glücklicherweise noch einen Platz.
Montag, 20. April 1868:
In New Orleans war ich zuletzt im Jahre 1866, als ich den Sohn des Bankiers Ohlert aus New York suchte und dort Old Death kennenlernte. Diesmal wollte ich, bevor ich mich in die ‚dark and bloody grounds‘ begab, den Mississippi hinauf, etwa bis Vicksburg, und von da aus nach Westen. Also fuhr ich mit einem Mississippi-Steamer hinauf bis Baton Rouge, wo ich auf das Dampfboot nach Natchez warten musste. Am Landeplatz saßen zwei Bettler. Ihre Gesichter kamen mir bekannt vor. Dem einen fehlten beide Augen. Der andere hielt mir seinen Hut hin. Als ich ein Silberstück hineinwarf, wusste ich, wen ich vor mir hatte: Es waren Grinder und Slack. Die Mörder der beiden Goldgräber-Brüder hatten nach dem Blizzard auf Fort Hillock doch nicht ihre Strafe gefunden, aber ihre jetzige Lage war jedenfalls noch schlimmer als der Tod.1
Donnerstag, 28. Mai 1868:2
Ich hatte zuletzt mit Winnetou und einer Schar seiner Apatschen in der Sierra Blanca gejagt. Wir wollten dann zu den Navajos hinüber. Es kam aber nicht dazu, denn auf Wunsch Winnetous begleitete ich einen kalifornischen Geldtransport nach Fort Scott. Von Fort Scott solle ich nordwärts zu der westlich vom Missouri gelegenen Gravel-Prärie reiten, wo er wieder mit mir zusammentreffen werde, denn er wolle seinen alten, berühmten Freund Old Firehand besuchen, der sich jetzt in jener Gegend aufhalte. Ich ritt erst über den Kansas und dann über den Nebraska, durch das Gebiet der Sioux. Meiner Berechnung nach musste ich mich jetzt in der Nähe einer Ölniederlassung befinden, die New Venango hieß und in einer jener Schluchten lag, die gewöhnlich von einem Flüsschen durchzogen sind. Schon gab ich es auf, dieses Ziel heute noch zu erreichen, da bemerkte ich seitwärts zwei Reiter, die gerade auf mich zuhielten. Einer der beiden war noch ein Knabe von vielleicht dreizehn Jahren. Er hieß Harry und er erzählte mir, dass er von seinem Bruder komme, der in Omaha wohnte, und sein Begleiter, der Forster hieß, sei nicht nur der Vater seiner Schwägerin, sondern auch der Besitzer der Ölquelle in New Venango. Harry glaubte nicht, dass Winnetou, den er übrigens sehr gut zu kennen schien, mir mein Pferd geschenkt hatte. Nachdem ich im Store eingekauft und auch meinen Munitionsvorrat ergänzt hatte, war es dunkel geworden. Ich erlauschte unabsichtlich ein Gespräch zwischen Forster und Harry, der dem Jungen erklärte, dass er Öl in die Landschaft ablaufen lasse, um es knapper und damit teurer zu machen. Welch ein sträflicher Leichtsinn, denn in diesem Augenblick dröhnte ein Donnerschlag, als sei die Erde mitten unter uns auseinander geborsten. Ich sah da, wo der Bohrturm in Betrieb gewesen war, einen glühenden Feuerstrahl senkrecht in die Höhe steigen. Ich kannte diese furchtbare Erscheinung, denn ich hatte sie im Kanawhatal in ihrer ganzen Schrecklichkeit gesehen.3 Mich weiter um niemand kümmernd, riss ich Harry in meine Arme und saß im nächsten Augenblick mit ihm im Sattel. Und in rasendem Lauf trug uns Hatatitla stromabwärts durch das immer rascher vorwärtsschreitende Feuermeer. Dass wir diesem Inferno über den Fluss entrinnen konnten, grenzte schon an ein Wunder. Als Harry, der bewusstlos geworden war, wieder zu sich kam, nannte er mich einen Feigling, weil ich die anderen aus dem Tal nicht auch noch gerettet hätte. Er riss sich von mir los und in meiner Hand blieb ein Ring zurück. Ich sah ihn nicht mehr und konnte ihm deshalb auch nicht folgen. Ich beschloss, die Nacht hierzubleiben und den Anbruch des Morgens zu erwarten.
Freitag, 29. Mai 1868:
Das Tageslicht milderte den blendenden Schein der Flammen. Außer einem kleinen Häuschen oberhalb des Tales war alles verschwunden. Vor diesem Häuschen standen einige Menschen, bei denen ich Harry gewahrte. Als ich zu ihnen wollte, trat man mir mit Waffen entgegen, bezeichnete mich als Mordbrenner und schoss auf mich, doch ohne zu treffen. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als diese Gegend zu verlassen.
Samstag, 30. Mai 1868:
Am nächsten Tag erreichte ich eine Mulde in der Gravel-Prärie, wo ich mich mit Winnetou treffen wollte.
Samstag, 6. Juni 1868:
Ich musste aber eine ganze Woche auf ihn warten. Es tummelten sich da mehrere Trupps von Sioux in der Gegend herum. Als Winnetou kam und ich ihm die Anwesenheit der Roten meldete, war er einverstanden, sogleich weiterzureiten. Ich freute mich sehr darauf, den berühmten Old Firehand endlich kennenzulernen. Der Weg zu ihm war nicht ungefährlich.
Sonntag, 7. Juni 1868:
Das merkten wir schon am nächsten Tag, als wir auf die Fährte von Indianern trafen. Wir vermuteten, dass der Haupttrupp hier in der Nähe lagerte, weshalb ich die Gegend nach den Indianern absuchen wollte, während Winnetou bei den Pferden blieb. Ich kam bald zu deren Lager, wo sich ungefähr hundert Mann befanden, sämtlich mit den Kriegsfarben bemalt. Mir gelang es, zwei Häuptlinge, von denen einer Parranoh vom Stamme der Poncas war, bei ihrem Gespräch zu belauschen, und ich erfuhr, dass sie Fort Niobrara überfallen wollten. Ich hatte genug gehört und zog mich geräuschlos zurück. Doch da warf sich ein riesiger schwarzer Schatten auf mich. Himmel, hatte der Kerl Kraft. Wir rangen stillschweigend miteinander, doch ich konnte mich noch so anstrengen, dieser Mensch schien unbezwingbar. Dabei verlor ich mein Messer und in einer Kampfpause zog ich mich etwas von ihm weg. Als ich mich wieder auf meinen Gegner stürzen wollte, war er verschwunden. Da ich vorher gerade noch seinen Bart berührt hatte, wusste ich, dass es kein Indianer, sondern ein Weißer war. Mein Bowiemesser war fort, mein Gegner hatte es wohl auf der Suche nach seinem eigenen gefunden und an sich genommen. Mit Winnetou ritt ich dann eine große Strecke weit, bis wir unser Nachtlager aufschlugen. Jetzt erzählte ich ihm, was ich erlebt hatte, und war ganz überrascht, als er sagte, dass er mit Parranoh, dem weißen Häuptling der Poncas, noch eine Abrechnung habe. Da er nicht mehr darüber erzählte, fragte ich auch nicht, denn wenn es an der Zeit war, würde er sein Schweigen schon brechen.
Montag, 8. Juni 1868:
Am nächsten Morgen ritten wir zum Fort Niobrara, um die Besatzung vor dem Überfall durch die Poncas zu warnen. Winnetou und ich waren schon einmal vor Jahren hier in diesem Fort gewesen,4 das ich jetzt allein aufsuchte. Der Fortkommandant war ein anderer als damals vor über drei Jahren. Er hatte Besuch, den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn noch niemals in meinem Leben gesehen hatte: Es war Old Firehand und er hatte, zu meiner Überraschung, neben seinem eigenen auch mein Bowiemesser in seinem Gürtel stecken. Jetzt brauchte ich mich freilich nicht mehr zu wundern, dass es mir nicht gelungen war, den Mann zu überwältigen, der gestern im Dunkel der Nacht mit mir gekämpft hatte. Ich berichtete dem Kommandanten vom geplanten Überfall der Poncas, doch war er schon von Old Firehand darüber informiert worden. Nachdem ich sagte, dass auch Winnetou in der Gegend sei, hatte der Kommandant keine Bedenken mehr, mit seinen dreißig Mann Besatzung das Fort gegen hundert Indianer zu verteidigen. Und Old Firehand erriet nun, dass ich Old Shatterhand war, war jedoch ganz erstaunt, zu erfahren, dass ich zudem derjenige war, mit dem er gestern Abend gerungen hatte. Nachdem auch Winnetou herbeigeholt worden war, wurde Lagebesprechung gehalten. Obwohl die Indianer ihre Angriffe meist gegen Morgengrauen vornehmen, stand die ganze Besatzung schon von Mitternacht an hinter den Palisaden bereit.
Dienstag, 9. Juni 1868:
Die Morgendämmerung brach endlich mit einem leichten Nebel an. Kurz darauf griffen die Poncas an, wurden jedoch mit einer Feuersalve empfangen. Nach der zweiten Salve brausten zehn Kavalleristen hinaus, die die Roten in die Flucht schlugen. Doch Parranoh zwang sie zur Umkehr, und da Winnetou, Old Firehand und ich ebenfalls auf den Kampfplatz gestürmt waren, wurden wir in Zweikämpfe verwickelt. Jetzt erblickte ich Parranoh im Haufen der Indianer und bemühte mich, an ihn zu kommen. Mir ausweichend, kam er in die Nähe des Apatschen, der sich auf ihn stürzen wollte, doch Old Firehand drängte Winnetou ab und schrie, dass ‚Tim Finnetey‘ ihm gehöre. Vor Schrecken starr stand Parranoh, als er seinen eigentlichen Namen rufen hörte, doch dann stürmte er wie von der Sehne geschnellt davon. Bevor Winnetou und Old Firehand ihm folgen konnten, war ich ihm schon auf den Fersen und bei einem Zusammenprall fuhr ihm mein Messer bis an den Griff in den Leib. Ich nahm kein Zeichen des Lebens mehr an ihm wahr. Da war auch schon Winnetou heran, der ganz gegen seine Gewohnheit Parranoh mit drei Schnitten die Kopfhaut vom Schädel löste. Wie grimmig musste der sonst so menschenfreundliche Apatsche diesen Tim Finnetey hassen, dass er ihm die Kopfhaut nahm. Dann eilten wir zurück und konnten gerade noch den verwundeten Old Firehand aus einer misslichen Lage befreien. Der Kampf war vorüber, und die Besatzung beschäftigte sich bereits damit, die Toten zusammenzutragen und die Verwundeten ins Fort zu schleppen. Später kamen auch noch die Reiter zurück, die die fliehenden Indianer verfolgt hatten.
Mittwoch, 10. Juni 1868:
Am nächsten Tag wurden die roten Indsmen begraben. Vorher hatte man noch die nähere und weitere Umgebung abgesucht und dabei eine überraschende Entdeckung gemacht: Der Platz, wo ich Parranoh zur Strecke gebracht hatte, war leer. Der vereitelte Überfall war durch Eilboten sofort nach Fort Randall gemeldet worden.
Dienstag, 16. Juni 1868:
Nach sechs Tagen traf von dort eine Verstärkung von zwanzig Mann ein. Sie brachten den Befehl ihres Colonels mit, die Gefangenen nach Fort Randall zu schicken, wo sie abgeurteilt werden sollten. Auch jetzt erfuhr ich nichts über die Beziehung von Winnetou und Old Firehand zu Parranoh.
Mittwoch, 24. Juni 1868:
Die Genesung Old Firehands war schneller fortgeschritten, als wir erwartet hatten, und so waren wir nach verhältnismäßig kurzer Zeit aufgebrochen, um durch das Land der kriegerischen Dakotas bis an den Mankizita vorzudringen, an dessen Ufer Old Firehand seine ‚Festung‘ hatte. Als wir am heutigen Abend am Lagerfeuer saßen, bemerkte Old Firehand den Ring an meinem Finger, den Harry mir nach dem Ölbrand in New Venango unfreiwillig zurückgelassen hatte. Ich musste ihm dieses Abenteuer erzählen und er fieberte direkt mit. Er kannte Harry, kannte Emery Forster, der wahrscheinlich bei dem Ölbrand ums Leben gekommen war, und er kannte Harrys Bruder in Omaha. Aber er sagte mir nicht, dass er selbst Harrys Vater war, wie ich aus seiner ganzen Aufregung annehmen musste.
Donnerstag, 25. Juni 1868:
Am nächsten Morgen schlugen wir die Richtung zur Festung ein. Winnetou und Old Firehand schienen enger miteinander verbunden zu sein, als ich bisher annehmen konnte. Doch Winnetou hatte mit mir nie darüber gesprochen. Ich erfuhr jetzt nur, dass Winnetou und Old Firehand vor Jahren dieselbe Frau geliebt hatten, die sich jedoch für den Weißen entschieden hatte und deren beider Sohn Harry war. Mit der hereinbrechenden Dämmerung kamen wir in die Nähe der ‚Festung‘. Hier traf ich zu meiner Überraschung auf meinen alten Lehrmeister Sam Hawkens, der zusammen mit Dick Stone und Will Parker zur Mannschaft Old Firehands gehörte. Durch den engen Zugang des ‚Wassertors‘ gelangte man in Old Firehands ‚Festung‘. Das Felsental schien von oben herab unbezwingbar zu sein. Nachdem ich mich umgesehen hatte, steuerte ich auf eine etwas höher liegende Hütte zu, wo ich unverhofft auf Harry traf, der mich fast feindlich empfing. Abends am Lagerfeuer betrachtete er mich jedoch mit anderen Blicken, wie es mir schien. Später sprach er sich mit mir aus, entschuldigte sich für sein Verhalten in New Venango und wies mir seine eigene Felshöhle als Wohnung an.
Freitag, 26. Juni 1868:
Am Morgen ging ich mit Harry und Sam Hawkens zum Bee Fork, um die aufgestellten Fallen zu prüfen. Durch das Verhalten der Biber wurden wir auf zwei Ponca-Indianer aufmerksam gemacht, die durch die Gegend schlichen. Es schienen Kundschafter auf dem Kriegspfad zu sein. Was wollten diese hier? Waren sie uns wegen ihrer Niederlage bei Fort Niobrara auf den Fersen? Sam Hawkens musste Old Firehand sofort warnen, während Harry und ich uns nach der Hauptschar der Roten umschauen wollten, damit wir deren Stärke genau kennenlernen und unsere Maßnahmen danach richten konnten. Wir mussten wohl eine Stunde lang gehen, bis wir eine andere Spur entdeckten, die in Richtung ‚Festung‘ ging. Als wir dann Brandgeruch wahrnahmen, schlich ich mich allein weiter, um die Poncas zu zählen, doch ich erlebte eine böse Überraschung: In ihrer Mitte saß der weiße Häuptling Parranoh oder Tim Finnetey und von seinem Kopf hing die prächtige Skalplocke herab, während Winnetou sie ihm doch genommen und nicht eine Minute lang aus seinem Gürtel gebracht hatte. War der Schurke denn leibhaftig von den Toten auferstanden? Um nicht entdeckt zu werden, kehrte ich zu Harry zurück und wir verfolgten die zuletzt entdeckte Spur, stießen dabei auf Sam Hawkens, der die beiden Indianer beobachtet hatte. Dann kehrten wir ins Lager zurück. Zusätzlich zur Wache, die die nötigen Vorbereitungen zur Verteidigung treffen musste, verließ ich mit dem Kleeblatt, Old Firehand und Winnetou die ‚Festung‘, um das Lager der Poncas aufzusuchen. Wir waren nicht weit davon entfernt, als wir auf Parranoh und einige seiner Krieger stießen, mit denen es einen heftigen, lautlosen Kampf gab. Ich hatte Parranoh unter mir und konnte ihn unschädlich machen, während die anderen Gegner ebenfalls niedergemacht wurden. Winnetou riet uns, sofort in die ‚Festung‘ zurückzukehren, da wahrscheinlich die anderen Poncas dort einfallen würden. Den bewusstlosen Parranoh aber nahmen wir mit ins Lager. Die Vorbereitungen gegen den zu erwartenden Überfall nahmen den Nachmittag und den Abend voll in Anspruch.
Samstag, 27. Juni 1868:
Es war früh am anderen Tag. Unsere Kundschafter hatten noch einen zweiten Lagerplatz der Roten entdeckt und es waren mehr, als wir angenommen hatten, und so war unsere Lage heikel, denn wir zählten insgesamt nur vierundzwanzig Mann. Deshalb wurden Dick Stone und Will Parker losgeschickt, um Verstärkung von Fort Randall herbeizuholen.
Ich war auf den Felsen gestiegen, wo ich am vorgestrigen Abend Harry wiedergefunden hatte, der mir jetzt nachgekommen war. Er erzählte mir, dass sein Vater, Old Firehand, einst Oberförster in Deutschland gewesen und in den Strudel politischer Gärung geraten sei, weshalb er mit Frau und Sohn nach Amerika flüchtete. Seine Frau starb auf der Überfahrt. Er ging als Jäger in den Westen und ließ seinen Sohn im Osten bei einer Familie zurück. Da führte ihn ein Jagdzug hinauf an den Quicourt, mitten unter die Stämme der Assiniboins, und dort traf er zum ersten Mal mit Winnetou zusammen, der mit Intschu tschuna von Wyoming kam, um sich am oberen Mississippi den heiligen Ton für die Kalumets seines Stammes zu holen. Beide, Old Firehand und Winnetou, verliebten sich in Ribanna, die Tochter des Häuptlings der Assiniboins. Sie zog Old Firehand vor, obgleich er viel älter war. Trotzdem blieben Old Firehand und Winnetou Freunde. Als Winnetou zur Zeit des Frühlings zurückkehrte, fand er Ribanna als Mutter. Harry war erst einige Tage alt. Die Jahre vergingen und Harry wuchs heran. Da nahm ihn sein Vater mit in den Osten zum älteren Sohn. Als sie zurückkamen, hatte Tim Finnetey zusammen mit den Schwarzfuß-Indianern das Lager der Assiniboins, deren Krieger auf der Jagd waren, überfallen und alle Frauen und Kinder, darunter Ribanna mit ihrer kleinen Tochter, verschleppt. Winnetou, der gerade die Assiniboins besuchen wollte, folgte Old Firehand, Harry und den Kriegern auf der Suche nach den Räubern, die hier am Bee Fork gestellt wurden. Es kam zum Kampf, doch die Assiniboins unterlagen und wurden niedergemacht. Harry fand seine Mutter Ribanna und sein kleines Schwesterchen, von Tim Finnetey erschossen, tot auf dem Schlachtfeld. Nach Tagen kamen Winnetou und Old Firehand verwundet zu Harry zurück, der sich in der Nähe des Kampfplatzes versteckt hatte. Und seit dieser Zeit suchten sie Tim Finnetey, der jetzt als Parranoh weißer Häuptling der Poncas war. Während Harry und ich wieder hinunter in den Talkessel stiegen, gingen mir verschiedene Gedanken durch den Kopf: Harry war jetzt um die dreizehn Jahre alt. Er hatte Winnetou als den jüngsten Bewerber um Ribanna bezeichnet, er sei fast noch ein Knabe gewesen. Das müsste etwa um 1854 gewesen sein. Winnetou wäre damals gerade erst vierzehn Jahre alt gewesen, denn wie ich wusste, war er 1840 geboren. Wir hatten eigentlich nie Geheimnisse voreinander, doch seine große Liebe zu Ribanna verschloss er in seinem Herzen selbst vor mir, seinem Blutsbruder.
Im Lager hatte man einen Pfahl errichtet und Parranoh daran gebunden, um Gericht über ihn zu halten. Man beschloss, ihn dort hinzurichten, wo er Ribanna und ihr Töchterchen ermordet hatte: drunten am Bee Fork, außerhalb der ‚Festung‘. Dass man sich dabei wegen der Anwesenheit der Poncas in nutzlose Gefahr begab und dadurch auch unser Aufenthaltsort verraten wurde, ignorierte man vollkommen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass uns dadurch Unheil entstehen müsse. Natürlich würde ich nicht an der Urteilsvollstreckung teilnehmen. Doch meine Sorge trieb mich hinterher, denn ich hatte Indianerspuren entdeckt, die den unsrigen folgten. An einem freien Platz, wo sicher das Urteil über Parranoh vollstreckt werden sollte, standen unsere Leute und rundum unter den Büschen lagen versteckt die Ponca-Krieger. Hier war keine Zeit mehr zu verlieren. Ich nahm den Henrystutzen an die Wange und drückte ab. Nach kurzer Verblüffung gellte der Kampfruf der Indianer fast hinter jedem Strauch hervor. Bevor Harry seine Pistole auf Parranoh abschießen konnte, wurde er von einem der Poncas daran gehindert, die sofort ihren Häuptling befreiten. Obwohl viele in das Kampfgeschehen verwickelt wurden, gelang den meisten die Flucht. Mit Harry und Sam Hawkens kam ich in der Nähe unseres Lagereingangs an, der von Indianern belagert wurde. Fast gleichzeitig mit uns trafen auch Old Firehand, Winnetou und zwei der Jäger hier ein. Wir rollten nun von hinten die Linie der Belagerer auf, von denen einigen noch die Flucht gelang. Endlich gelangten wir durch das Wassertor in das Innere des Talkessels und waren damit vorerst in Sicherheit. Da Old Firehand bestätigt hatte, dass über die steilen Felswände kein Indianer ins Lager gelangen konnte, musste also der schmale Schluchteingang besonders gut verteidigt werden, falls der Gegner einen Angriff wagen sollte.