Seewölfe Paket 22

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„Schade“, sagte Sir Edward. „Ich dachte schon, sie merken es erst, nachdem wir sie ins Wasser geworfen haben.“ Auch auf dem Gesicht des sonst so ernsten Mannes lag ein Lächeln.
„Wir müssen von jetzt an mit ihrer Gegenwehr rechnen“, fuhr Marc Corbett fort. Danach gab er den Befehl an die Scharfschützen, bei der ersten Reaktion der Spanier das Feuer zu eröffnen. Mit dem Trupp, der an Land geblieben war und sich je zur Hälfte auf die West- und Ostseite der Bucht verteilt hatte, war vereinbart worden, daß beim ersten Schuß, der fiel, mit dem Deckungsfeuer begonnen werden sollte.
„Mit ihren Kanonen können die Dons jetzt schon nichts mehr anfangen“, sagte Marc Corbett triumphierend. „Wir liegen bereits unterhalb ihres Schußwinkels, sie können höchstens noch über unsere Köpfe schießen …“
Mitten in seine Worte hinein blitzten auf der Galeone die ersten Musketenschüsse auf. Für die Engländer war das das Zeichen, den beabsichtigten Enterkampf einzuleiten.
„Feuer!“ brüllte Marc Corbett.
Gleich darauf krachten auch die Musketen und Tromblons der eigenen Scharfschützen. Wie das der Erste Offizier der früheren „Orion“ mit seinen Mannen abgesprochen hatte, feuerten nicht alle auf einmal, sondern stufenweise – getrennt nach den einzelnen Jollen. Während die einen schossen, waren die anderen schon wieder dabei, ihre Musketen nachzuladen.
Auch am West- und Ostufer der Bucht krachten plötzlich die Musketen. Die Spanier befanden sich plötzlich in einem Kugelhagel, der von drei Seiten auf sie einprasselte.
Mitten in das Getöse hinein brüllte plötzlich eine Kanone an der Backbordseite der Galeone auf. Eine Feuerzunge stach aus dem Rohr und trieb die schwere Eisenkugel fauchend über die Köpfe der Engländer weg. Sie schlug viele Yards hinter ihnen ins Wasser der Bucht.
Offenbar hatten die Dons die Einsatzmöglichkeiten der Geschütze überschätzt. Die Wirkungslosigkeit der Kugel schien sie jetzt davon überzeugt zu haben, daß auf die kurze Distanz mit den Kanonen nichts mehr auszurichten war. Sie schwiegen deshalb, dafür aber begannen zwei Drehbassen zu wummern, die schwenkbar auf das Schanzkleid montiert waren und eine weit größere Gefahr darstellten.
Weder Marc Corbett noch Sir Edward oder Arthur Gretton konnten verhindern, daß einige Männer getroffen wurden. Zwei sanken tot, drei andere verletzt von den Duchten.
Die Scharfschützen nahmen die Seesoldaten an den Drehbassen sofort verstärkt unter Feuer, um sie in Deckung zu zwingen. Dabei trafen sie zwei mit ihren Musketenkugeln.
Niemand konnte die anrückenden Engländer aufhalten. Noch bevor die Spanier weiteres Unheil anrichten konnten, hatten die Engländer die Kriegsgaleone erreicht. Den Dons war nicht einmal die Zeit geblieben, die Anker zu lichten. Als sie die Angreifer gesichtet hatten, mußten sie sich zunächst auf die Gefechtsbereitschaft konzentrieren, aber nicht einmal dazu hatte die Zeit ausgereicht.
Jetzt kam ein neuer Umstand hinzu, der ebenfalls nicht geeignet war, die Kampfmoral zu stärken. Die von der „Caribian Queen“ zusammengeschossene Galeone begann zu sinken.
Das Schiff war ein Stück seewärts abgetrieben und lag stark nach Steuerbord gekrängt im Wasser. Zunächst wurde das Vorschiff überflutet, nur das Heck ragte noch aus dem Wasser und bot einen gespenstischen Anblick. Wohl jeder – ob Spanier oder Engländer – hatte das Sterben eines Schiffes schon miterlebt. Trotzdem kroch allen ein kalter Schauer über den Rücken, als auch das Heck mit einem lauten Zischen und Gurgeln versank. Wenig später ragten nur noch die Mastspitzen aus dem Wasser. Planken, Taue und leere Fässer wurden an die Oberfläche getrieben.
Die Engländer rissen sich schon nach wenigen Sekunden von diesem Anblick los. Sie hatten die ankernde Galeone erreicht und mußten jetzt alles auf eine Karte setzen. Ihr weiteres Schicksal hing vom Gelingen dieser Aktion ab, darüber war sich jeder von ihnen klar.
Trotz des Widerstandes der Spanier flogen die ersten Enterhaken an der Backbordseite hoch und verkrallten sich im Holz des Schanzkleides. Die Männer hangelten in Windeseile nach oben, um sich den Weg an Bord freizukämpfen. Der eigentliche Enterkampf begann.
Die Dons versuchten, sich mit einem letzten Aufbäumen zu verteidigen. Don Gregorio de la Cuesta und die anderen Señores von den Achterdecks beider Kriegsschiffe brüllten pausenlos Befehle. Wo es nötig war, feuerten sie die Seesoldaten und Mannschaftsmitglieder an oder drohten mit drakonischen Strafen für den Fall des Zurückweichens. Dennoch war die spanische Abwehr eine recht schwache Angelegenheit. Die eh schon genervten Männer waren dem Überraschungsangriff der Engländer nicht mehr gewachsen, ihre Kampfmoral hatte bereits zu stark gelitten.
Obwohl ein harter Kampf, Mann gegen Mann, tobte, obwohl Pistolenschüsse krachten und das Metall der Blankwaffen gegeneinanderklirrte, war es nur ein kurzer Kampf.
Auch die beiden Kommandanten und die Offiziere hatten sich mit ihren Degen ins Getümmel gestürzt. Die beiden Offiziere der gesunkenen Galeone waren zum Quarterdeck abgeentert, wo sie in Unterstützung des Kapitäns dieses verbliebenen Schiffes versuchten, die aufenternden Engländer zurückzudrängen. Aber es war ihnen kein großer Erfolg beschieden. Im Gegenteil – die Spanier wurden mehr und mehr über die Decks gedrängt, die Verteidigung galt immer mehr der eigenen Person als dem Schiff.
Auch Marc Corbett, Sir Edward und Arthur Gretton waren in heftige Degenduelle verwickelt, nachdem es ihnen gelungen war, die Decksplanken der Galeone zu betreten.
Marc Corbett, der tatkräftige Erste Offizier der „Orion“, stürmte den Backbordniedergang hinauf, der vom Quarterdeck zum Achterdeck führte. Er hatte sich nicht getäuscht, der Befehlshaber der Spanier befand sich dort und warf sich ihm sofort entgegen.
Don Gregorio de la Cuesta schwitzte heftig. Der Schweiß aber brannte höllisch in der blutverschmierten Schramme, die er an der Stirn empfangen hatte. Der aufgeschlitzte Ärmel seines Uniformrockes verlieh ihm ein recht ramponiertes Aussehen.
Ein harter Degenkampf entbrannte, in dessen Verlauf sich Don Gregorio als gewandter Kämpfer erwies.
„Stirb, Engländer!“ keuchte er und versuchte, Marc Corbett den Degen in die Brust zu stoßen.
Dieser parierte jedoch den Angriff geschickt.
„Ich denke nicht daran, Ihnen diesen Gefallen zu tun, Señor!“ rief er zurück. Dann drang er auf de la Cuesta ein und trieb ihn ein Stück zum Steuerbordschanzkleid hinüber.
Der Capitán wich zunächst zurück, doch dann fand er seinen Rhythmus wieder und riskierte erneut einige heftige Ausfälle. Marc Corbett mußte in der Tat höllisch aufpassen, aber er fing sich rasch wieder und bot dem Spanier die entsprechenden Paraden. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß ihm die Degenspitze Don Gregorios die linke Seite der Uniformjacke in Fetzen riß.
Dieser winzige Erfolg schien den Capitán zu beflügeln – zumindest für kurze Zeit. Er kämpfte mit verbissenem Gesicht, seine zusammengekniffenen Augen spiegelten Wut und Haß wider. Marc Corbett konnte es ihm nicht einmal verdenken, wenn er bedachte, welche Schlappen dieser Mann in den letzten Stunden schon hatte einstecken müssen.
Aber auch er selber war ein wendiger Kämpfer, der sich von einigen Stoffetzen nicht beeindrucken ließ. Seine Ausfälle wurden immer häufiger. Er trieb den Capitán vor sich her in Richtung Querbalustrade.
Dann geschah es plötzlich.
Marc Corbett, der soeben einen gefährlichen Degenstoß abgewehrt hatte, traf die rechte Hand Don Gregorios mit einem raschen Hieb. Der Spanier stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, dann polterte sein Degen auf die Planken.
Noch bevor er sich danach bücken konnte, setzte ihm Marc Corbett die Spitze seiner Waffe an den Hals.
„Halt, Señor!“ befahl er mit harter Stimme. Sein Gesicht strahlte äußerste Entschlossenheit aus. „Wenn Sie nicht aufgeben, muß ich Sie töten.“
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, zumal Corbett die spanische Sprache einigermaßen gut beherrschte. Don Gregorio gab sein Vorhaben mit wütendem Gesicht auf.
„Zum Teufel mit Ihnen, Engländer!“
„Leider muß ich Ihnen auch diesen Gefallen verweigern“, sagte Corbett. „Aber ich weiß, daß Sie selber zu ihm gehen werden, wenn Sie sich meinen Anordnungen widersetzen oder aber irgendeinen Trick versuchen. Stellen Sie sich mit dem Rücken gegen die Balustrade!“ Mit der Degenspitze am Hals dirigierte er ihn an den gewünschten Ort.
„Was verlangen Sie?“ keuchte der Capitán. Seine Augen funkelten vor Zorn.
„Zunächst einmal, daß Sie sich mit Ihren Leuten ergeben, und zwar bald, wenn Sie ein größeres Blutvergießen vermeiden wollen. Streichen Sie die Flagge und geben Sie Ihren Soldaten, und Seeleuten den Befehl, die Waffen zu strecken!“
„Ich denke nicht daran!“ Die Wangenmuskeln des Spaniers zuckten.
„Dann sehen Sie sich um“, sagte Corbett. „Das Schiff ist bereits innerhalb der nächsten Minuten in unserer Hand. Sollen wegen Ihrer Dickschädeligkeit noch weitere Männer sterben? Na los, sehen Sie sich alles an. Ich erlaube Ihnen, sich langsam umzudrehen, damit Sie das Schiff überblicken können.“
De la Cuesta drehte sich um und vermied dabei jede hastige Bewegung, zumal er jetzt die Degenspitze des englischen Offiziers am Rücken spürte. Der Engländer hatte tatsächlich recht, sie hatten keine Chance mehr, das Schiff auf Dauer zu verteidigen. Die Angreifer waren zu überraschend und in zu großer Anzahl erschienen.
„Wie steht’s, Señor?“ fragte Marc Corbett. „Ich gebe Ihnen zehn Atemzüge lang Zeit, den Kampf zu beenden.“
Der Capitán schluckte hart.
„Na gut“, sagte er schließlich mit belegter Stimme. „Ich habe keine andere Wahl.“
Gleich darauf dröhnte seine Stimme über die Decks. Er forderte seine Landsleute auf, den Kampf sofort einzustellen und sich zu ergeben.
Zu spät wurde Don Gregorio klar, daß er in jüngster Vergangenheit einen gewaltigen Bock geschossen hatte. Statt die schiffbrüchigen Engländer, die sich bei seinem Eintreffen auf der Insel verschanzt hatten, anzugreifen, hätte er sich zuerst den beiden Schiffen widmen sollen, von denen dieser grobschlächtige Bootsmann O’Leary gesprochen hatte, den er zusammen mit noch fünfzehn anderen Kerlen in einer Jolle aufgegriffen und unter Druck ausgehorcht hatte.
Dem Bootsmann nach sollten sich zwei Schiffe – darunter sogar das Schiff Philip Hasard Killigrews, des legendären Seewolfs – in einer Bucht der Pensacola Cays befinden. Genau diese beiden Schiffe hätte er zuerst und überraschend angreifen und ausschalten müssen, so sagte er sich jetzt in später Erkenntnis, um zu verhindern, daß sie ihn – wie es jetzt geschehen war – bei dem Landeunternehmen überfielen. Denn jener düstere Zweidecker mußte eins jener beiden Schiffe sein, daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr.
Zwar hatte der verdammte Bootsmann behauptet, die schiffbrüchigen Engländer auf der Insel hätten nichts mit den Mannschaften des Killigrew auf den beiden Schiffen zu tun – im Gegenteil, den Schiffbruch habe man gerade diesem Killigrew zu verdanken, ihm und einem blutrünstigen Piratenweib, das einen Zweidecker kommandiere. Aber in diesem Fall mußte der Bootsmann gelogen haben, meinte de la Cuesta und wußte nicht, daß gerade das ein Irrtum war.
Die Offiziere, Seesoldaten und Männer der Besatzung traf der Befehl Don Gregorios teils wie ein Schock, teils fühlten sie sich aber auch erleichtert, denn viele von ihnen hatten längst begriffen, daß sie das Schiff nicht auf Dauer verteidigen konnten.
Der Kampf wurde augenblicklich eingestellt. Die Blicke der Spanier waren auf das Achterdeck gerichtet, wo Don Gregorio an der Querbalustrade stand, hinter ihm ein englischer Offizier.
Auf die Anweisung Marc Corbetts hin wiederholte der Capitán seinen Befehl, die Waffen zu strecken.
Der eigentliche Kapitän der Galeone, der sich noch auf dem Quarterdeck befand, schien sich in seiner Rolle nicht sonderlich wohlzufühlen.
„Nehmen Sie mich als Geisel!“ rief er. „Ich bin der Kapitän dieses Schiffes!“
„Danke für Ihr freundliches Angebot, Señor“, erwiderte Marc Corbett, „aber ich denke, Ihr Verbandsführer befindet sich bei uns in besten Händen. Vorausgesetzt, man befolgt seine Anordnungen und kapituliert. Lassen Sie Ihre Waffen auf die Planken fallen!“
Die Spanier gaben sich endgültig geschlagen. Die Degen, Säbel, Cutlasse, Messer und Pistolen fielen polternd und klirrend auf die Decksplanken. Die Engländer überwachten den Vorgang. Viele stimmten laute Hochrufe an, denn ihr Enterkampf hatte den gewünschten Erfolg gehabt: das spanische Kriegsschiff war in ihrer Hand.
Doch die Begeisterung sollte nicht lange dauern, denn schon in den nächsten Augenblicken breitete sich schlagartig neue Verwirrung aus – Verwirrung an beiden Fronten.
4.
Don Gregorio de la Cuesta verstand plötzlich die Welt nicht mehr, als der düstere Zweidecker – noch während seine Soldaten die Waffen streckten – wie eine geisterhafte Erscheinung fast längsseits der Galeone auftauchte – drohend, mit ausgerannten Stücken und besetzten Drehbassen.
Marc Corbett, Sir Edward und die übrigen Mannen der englischen Crews waren nicht weniger verblüfft, denn auch sie hatten im Getümmel des Enterkampfes nicht mehr auf den Zweidecker geachtet, der in nördliche Richtung davongesegelt war.
O Lord, jetzt würde sich zeigen, welche Ziele dieses unheimliche Schiff verfolgte. Die Situation spitzte sich dramatisch und beängstigend zu. Warum war der Zweidecker zurückgekehrt? Wollte er auch noch dieses Schiff versenken oder gar entern? Oder wollte man verhindern, daß es die Engländer als Prise nahmen? Diese Fragen lagen ihnen schwer auf der Seele.
Don Gregorio de la Cuesta und seine Offiziere allerdings waren in diesem Augenblick fest davon überzeugt, doch in eine Falle geraten zu sein. Das alles sah zu sehr nach Absprache zwischen dem Zweidecker und den Engländern aus. Um so mehr überraschte sie kurze Zeit später das, was tatsächlich geschah.
Jetzt war sie deutlich zu sehen – jene schlanke, rassige Frau, bei der es sich wohl um das „blutrünstige Piratenweib“ handeln mußte, von dem der Bootsmann gesprochen hatte. Don Gregorios Augen hefteten sich wie gebannt auf den Körper dieser Frau, die auf dem Achterdeck stand.
Sir Edward hatte sich gerade zu Marc Corbett und dem gefangenen spanischen Capitán auf das Achterdeck begeben, als auch er wie angewurzelt stehenblieb und zu dem düsteren Schiff mit den beiden Kanonendecks hinüberstarrte.
Plötzlich geriet Bewegung in die Gestalt der Frau, die mit verschränkten Armen vor der Querbalustrade des Achterdecks verhielt. In ihrer Nähe stand ein wüst aussehender Mann, der an einen brutalen Schläger erinnerte.
„Streicht die Flagge, Engländer!“ rief die Frau mit schneidender Stimme. „Wenn ihr diese Aufforderung nicht befolgt, jagen wir eine volle Breitseite in die Galeone!“
Sir Edward und Marc Corbett erblaßten. Don Gregorio aber atmete erleichtert auf, denn nach den Worten des „Piratenweibes“ hatte es den Anschein, als wolle sie die Engländer zur Strecke bringen. Diese Illusion wurde jedoch gleich wieder zerstört.
„Das gleiche gilt natürlich auch für die Spanier“, fuhr die Frau fort, „für den Fall, daß sie Lust verspüren sollten, den Spieß noch einmal umzudrehen.“
Jetzt erschlaffte auch die Gestalt de la Cuestas.
„Verdammt!“ murmelte er erschüttert und wirkte ziemlich hilflos, denn jetzt hatte er überhaupt keinen Durchblick mehr. Wem wollte dieses rassige Weib denn nun an den Kragen – den Engländern oder den Spaniern? Oder gar allen beiden?
Auch die Mannen der „Orion“ und „Dragon“ standen samt ihren Offizieren ziemlich belemmert da und wußten im Augenblick nicht, wie sie sich verhalten sollten.
„Eine äußerst unangenehme Situation“, sagte Sir Edward mit einem raschen Seitenblick auf den spanischen Kommandanten und seine Leute. „Sind die Geschütze nicht wenigstens teilweise einsatzbereit?“
„Das schon, Sir“, erwiderte Marc Corbett, ohne die Frau auf dem Zweidecker aus den Augen zu lassen. „Womöglich könnten wir jetzt den Zweidecker mit einer Breitseite eindecken. Bei dieser Entfernung von knapp dreißig Yards wäre das wohl kaum ein Problem, aber ich fürchte, daß die Kerle da drüben auf jeden Fall schneller wären als wir. Im Gegensatz zu uns haben sie gewissermaßen die Hand am Drücker, und wer bei dieser kurzen Distanz zuerst schießt, hat gewonnen.“
„Hm, wirklich verdammt unangenehm“, murmelte Sir Edward. „Und daß die Kerle auf dem Zweidecker zu schießen verstehen, ist uns ja inzwischen allzu sattsam bekannt. Wir würden höchstwahrscheinlich den kürzeren ziehen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Befehle dieses Frauenzimmers zu befolgen, so sehr uns das auch widerstreben mag.“
Für weitere Erörterungen blieb den beiden Männern von der „Orion“ keine Zeit, denn die Stimme der Roten Korsarin tönte erneut zu ihnen herüber.
„Na, haben Sie sich meinen Befehl gründlich genug überlegt, Señores und Gentlemen? Wenn meiner Anordnung nicht sofort Folge geleistet wird, werde ich den Feuerbefehl geben, vielleicht beschleunigt das Ihre Entscheidungsfreudigkeit.“
„Was erwarten Sie von uns, Madam?“ ließ sich jetzt Marc Corbett vernehmen.
„Daß auch ihr Engländer sofort die Waffen fallen laßt!“ rief Siri-Tong zurück. „Danach werdet ihr zehn Engländer und zehn Spanier bestimmen, die die Waffen einsammeln und auf der Kuhl anhäufen.“
Marc Corbett wandte sich zu Sir Edward.
„Tut mir leid, Sir, aber diese Frau scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Wenn wir nicht gehorchen, wird es noch größeren Ärger geben.“
„Veranlassen Sie das, was nötig ist“, sagte Sir Edward mit starrem Gesicht. „Wir kommen ohnehin nicht drum herum.“
Der Erste Offizier gab einige Befehle, und die Mannen, deren Enterkampf so hervorragend geglückt war, ließen verhalten fluchend und zähneknirschend die Waffen fallen – wie es zuvor schon die Dons getan hatten.
Marc Corbett bestimmte die Männer, die das Waffenarsenal einzusammeln hatten. Nachdem das geschehen war, wandte er sich an Siri-Tong.
„Ihr Befehl wurde ausgeführt, Madam!“ meldete er. „Es wird niemand Widerstand leisten. Doch alle an Bord dieser Galeone, ob Engländer oder Spanier, wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns erklären könnten, was Sie mit dieser Aktion bezwecken. Schätze gibt es auf diesem Schiff mit Sicherheit nicht, es handelt sich um eine spanische Kriegsgaleone. Wir, die Engländer, haben sie gekapert, weil wir als Schiffbrüchige eine Möglichkeit suchten, diese Insel zu verlassen. Zudem haben uns die Spanier massiv angegriffen, wie Sie wissen.“
„Noch ist es nicht an der Zeit, Rechtfertigungen vorzubringen“, sagte Siri-Tong kalt. „Was ich mit dieser Aktion bezwecke, wird Ihnen schon sehr bald klarwerden. Ich verlange nämlich, daß die beiden Kommandanten und die Offiziere der ‚Orion‘ und ‚Dragon‘ an Bord meines Schiffes kommen.“
Marc Corbett zeigte klar.
„Bedauerlicherweise kann der Kommandant der früheren ‚Dragon‘ diesen Befehl nicht befolgen, Madam!“ rief er dann. „Mister Stewart befindet sich nämlich als Gefangener an Land.“
Als Gefangener? Siri-Tong war überrascht, aber sie verbarg diese Überraschung.
„Dann lassen Sie ihn holen!“ befahl sie.
„In Ordnung, Madam!“ tönte es zurück. „Wir werden uns sofort darum kümmern.“
Marc Corbett beauftragte Arthur Gretton damit, den schurkischen Charles Stewart von der Insel zu holen und bei dieser Gelegenheit auch die Mannen, die dort verblieben waren, von der derzeitigen Lage zu unterrichten.
Wenig später wurde ein englisches Boot mit Arthur Gretton an Bord von sechs unbewaffneten Rudergasten zur Insel gepullt. Ein weiteres Boot nahm Sir Edward und die übrigen Offiziere an Bord, um sie zu dem Zweimaster hinüberzubringen.
Die Rote Korsarin musterte die Gentlemen mit eisigen Blicken. Die Männer konnten nicht verhindern, daß sie ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürten. Alle hatten sich inzwischen auf der „Caribian Queen“ eingefunden, einschließlich des abgesetzten Kommandanten der „Dragon“, Charles Stewart, den man gefesselt an Bord gebracht hatte.
Während sich Siri-Tong an der Querbalustrade des Achterdecks aufhielt, hatten sich die Gentlemen unten auf der Kuhl in einer Reihe aufstellen müssen. So blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu der Frau hochzuschauen. In der Tat hatte sich das die Rote Korsarin – sehr zur Genugtuung Barbas – einfallen lassen, um die Offiziere bewußt zu brüskieren.
„Knien sollten sie, Madam“, hatte Barba geflüstert, „knien wie auf einer Kirchenbank.“
Das aber war ihr wohl doch etwas zu weit gegangen, denn es lag nicht in ihrer Absicht, die Männer zu demütigen. Vielmehr ging es ihr darum, die Lage endgültig zu klären und die Ränke und üblen Machenschaften, mit denen die Engländer in der letzten Zeit den Seewolf und seine Männer verfolgt hatten, zu beenden.
Nach kurzem Schweigen räusperte sich Siri-Tong und verschränkte dann abermals die Arme. Ihre mandelförmigen, etwas schräggestellten Augen musterten die Engländer ohne jegliche Scheu. Indem sie sich sämtliche Floskeln ersparte, kam sie ohne Umschweife zur Sache.
„Sie, Mister Corbett“, begann sie, „haben vorhin nach dem Zweck dieser Aktion gefragt. Ich habe Ihnen eine Antwort versprochen, doch dazu ist es allerdings nötig, daß ich etwas weiter aushole und auf Ereignisse der letzten Zeit zurückgreife. Vielleicht werden Sie und die anderen Gentlemen mich dann verstehen.“
„Wir werden uns die größte Mühe geben, Madam“, entgegnete Corbett und deutete sogar eine leichte Verbeugung an. Er, der draufgängerische und tatkräftige Mann, konnte nicht verhindern, daß ihm diese Frau eine ganze Menge Respekt einflößte. O ja, das mußte schon eine ganz besondere Frau sein, die es schaffte, einen solch imposanten Dreimaster mit zwei Kanonendecks zu befehligen und alle die rauhen Kerle, die bei ihr fuhren, im Zaum zu halten. Corbett konnte ihr im stillen die Bewunderung nicht versagen, auch wenn er jetzt – wie die anderen – mit bangem und erwartungsvollem Gesicht zum Achterdeck hochstarrte.
„Da sind also“, fuhr die Rote Korsarin fort, „vier englische Kriegsschiffe und eine Karavelle in die Karibik ausgelaufen, mit dem Auftrag, nach Philip Hasard Killigrew, den man den Seewolf nennt, zu fahnden, ihn zu fangen und nach England zu verbringen, um ihn dort – man höre und staune – wegen Betruges, Unterschlagung sowie Hoch- und Landesverrats vor ein Gericht zu stellen. Eigentlich sollte man annehmen, daß man in England Ehrenmänner mit diesem Auftrag betraut hat. Doch kaum hatten diese fünf Schiffe die Bahama-Inseln erreicht, fielen diese Ehrenmänner, die der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen sollten, über eine spanische Handelsgaleone her, welche, wohlbemerkt, bereits die Flagge gestrichen hatte, und schossen sie brutal zusammen. Mehr noch: Die Besatzung wurde massakriert, nachdem ein gewisser, an dem Unternehmen beteiligter John Killigrew und seine Mannschaft die Galeone geentert hatten …“
„Eben“, unterbrach sie der stiernackige und verschlagen aussehende Charles Stewart und hielt seine gefesselten Hände hoch. „Das war Killigrew, Madam, und wir sind nicht für ihn verantwortlich.“
„Schweigen Sie!“ fuhr ihn Siri-Tong mit harter Stimme an. „Ich habe Sie nicht nach Ihrer persönlichen Meinung gefragt. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, daß gerade Sie als letzter das Recht haben, den ersten Stein nach einem anderen zu werfen.“
Damit hatte die Rote Korsarin den Nagel auf den Kopf getroffen. Die anderen Männer nickten bestätigend zu ihren Worten, und Arthur Gretton, der Stewart abgesetzt hatte, warf ihm sogar einen zornigen Blick zu.
„Dieser Mann, John Killigrew“, fuhr Siri-Tong unbeirrt fort, „plünderte die spanische Galeone aus, zumal sich dort eine Ladung Goldbarren befand. Um diese Beute für sich behalten zu können, nahm er aus den Reihen seiner Verbündeten einen gewissen Sir Andrew Clifford als Geisel und setzte sich unbehelligt mit seiner Karavelle und der Goldbeute von dem Verband ab. Danach leierte man an Bord der Karavelle den grandiosen Coup – der selbstverständlich mit dem eigentlichen Auftrag nicht das geringste zu tun hatte –, indem man sich sinnlos betrank und außerdem den Entschluß faßte, nach Süden zu segeln, wo man auf den Inseln Frauen zu finden hoffte. Genauer gesagt: Man war entschlossen, irgendwo Indianerweiber aufzutreiben, über die man das Recht zu haben glaubte, sie nach Gutdünken vergewaltigen zu können. Sir Andrew Clifford hingegen konnte mit einer nachgeschleppten Jolle von der Karavelle fliehen und wurde schließlich von Philip Hasard Killigrew, dem Seewolf, aufgegriffen. Ins Verhör genommen, berichtete dieser ‚Ehrenmann‘, mit welchem Ziel die fünf Schiffe aus England ausgelaufen waren. So erfuhr Philip Hasard Killigrew, den vom Charakter her ganze Welten von seinem früheren Pflegevater, John Killigrew, trennen, von den ungeheuerlichen Beschuldigungen, die gegen ihn am königlichen Hof erhoben worden waren.“










