Seewölfe Paket 22

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Nachdem die Bootsriemen-Träger gleich zu Beginn die Flucht ergriffen hatten, kamen auf jeden Angreifer mindestens drei Männer von der „Dragon“. Arthur Gretton konnte es sich leisten, Stewart an den Rand des Kampfgetümmels zu treiben und die Klinge mit ihm zu kreuzen.
Nur wenige der Knüppelhiebe trafen überhaupt. Innerhalb von zwei, drei Minuten mußten O’Learys Kerle begreifen, daß sie den Mund zu voll genommen hatten. Säbel und Äxte zerschmetterten ihre primitiven Schlagwaffen, und dann setzten die Männer von der „Dragon“ ihre keineswegs ungeübten Fäuste ein.
Das verbissene Keuchen der Kämpfenden wurde immer mehr von Schmerzenslauten und Schreien überlagert. Nach wie vor klirrten die Säbelklingen Grettons und Stewarts, doch schon jetzt war abzusehen, daß der Erste Offizier seinen ehemaligen Kommandanten in zunehmende Bedrängnis brachte.
Plötzlich mußte Arthur Gretton voller Verblüffung feststellen, daß sich Stewart mitten in einer neuen Attacke Hals über Kopf herumwarf und die Flucht ergriff.
Erst einen Atemzug später erkannte Gretton den Grund für dieses absonderliche Verhalten. Lächelnd ließ er den Säbel sinken.
Am Rand der Lichtung waren etwa dreißig Männer von der „Orion“ aufmarschiert. Unter dem Kommando von Marc Corbett nahmen sie Aufstellung und brachten ihre Musketen in Anschlag. Zusätzlich waren sie noch mit Pistolen und Entersäbeln bewaffnet.
Sekunden später hatten auch O’Leary und seine Kerle begriffen.
Hals über Kopf warfen sie sich herum und folgten Stewarts Beispiel, als säße ihnen der Gehörnte persönlich im Nacken. Jene, die von den „Dragons“ nicht sofort Abstand gewinnen konnten, kriegten zur Untermalung der neuen Lage noch einen Tritt in den Hintern.
„Auf geht’s, Freund, so kommst du schneller in Fahrt!“ brüllte Geoff Kearney, nachdem er einem der O’Leary-Strolche seinen Stiefel in den Achtersteven gerammt hatte.
Der Mann stolperte armrudernd, raste mit kleinen schnellen Schritten los und hatte gleich darauf die übrigen Fliehenden eingeholt.
Brüllendes Gelächter von der „Dragon“-Crew hallte den Kerlen nach, und gleich darauf stimmten auch die Männer von der „Orion“ mit ein. Sie ließen ihre Musketen sinken, denn es war nicht erforderlich gewesen, auch nur einen einzigen Schuß abzugeben.
In panischer Hast erreichten Charles Stewart und Sir Robert als erste die „Privat-Jolle“ des ehemaligen Kommandanten. Keuchend verharrten sie, nachdem sie die beruhigende Feststellung getroffen hatten, daß sich die beiden Goldkisten noch an ihrem Platz befanden.
Joe Doherty hockte unerschütterlich wie ein Granitfelsen auf der Achterducht.
Mit einer Kopfbewegung deutete er zu den beiden anderen Jollen, die etwa einen Steinwurf weit entfernt lagen.
„Gibt wohl Ärger, was?“
Stewart und Monk ruckten herum.
Drüben marschierten die Bewaffneten unter dem Kommando von Marc Corbett auf und versperrten den Weg zu jenen Jollen, die Arthur Gretton für sich beanspruchte.
„Dieser Hurensohn!“ fluchte Stewart. „Dieser verdammte Schweinehund von einem Ersten Offizier erdreistet sich …“
Sir Robert unterbrach ihn mit einer heftigen Handbewegung. Schon waren die Schritte der anderen im Dickicht zu hören.
„Lamentieren hilft uns nicht weiter, Stewart. Wir müssen sehen, wie wir mit dem Problem fertig werden. Wie viele Männer passen in die Jolle?“
Stewart starrte ihn an.
„Neunzehn“, sagte er tonlos. „Das ist die äußerste Belastung.“
„Dann müssen wir unsere Auswahl treffen“, sagte Sir Robert kalt.
Aus dem Unterholz brachen sie jetzt hervor, stolpernd, fluchend und keuchend. Auch die sieben Gentlemen waren dabei, das Entsetzen stand in ihren bleichen Gesichtern.
Charles Stewart hatte augenblicklich verstanden, auf was Sir Robert hinauswollte. Eilends wandte sich der Ex-Kommandant zu seinem Leibwächter um.
„Es könnte wirklich Ärger geben, Mister Doherty. Aber mehr von unseren eigenen Leuten. Wenn einer gegen meine Befehle verstößt, hauen Sie ihm was aufs Maul. Klar?“
Ein Grinsen kerbte sich in das wüste Gesicht des Monstrums.
„Aye, aye, Sir“, sagte er, und es klang wie ein Grollen aus der Tiefe seines mächtigen Oberkörpers. Voller Vorfreude auf mögliche Taten richtete er sich auf und nahm hinter Stewart Aufstellung, als dieser die heranstürmende Meute mit Donnerstimme und energischen Handbewegungen zum Stehen brachte.
„Halt, halt! Zur Panik gibt es keinen Grund, verdammt noch mal. Haltet gefälligst Ruhe. Wir müssen jetzt sorgfältig überlegen, wie es weitergeht.“
Einer der Gentlemen trat einen Schritt vor und zupfte dabei mit blasierter Miene an seiner verdreckten Kleidung. Die Art, wie er es tat, hatte etwas Vorwurfsvolles – als sei Stewart für den derzeitigen erniedrigenden Zustand der Hochwohlgeborenen verantwortlich.
Der Mann war ein dünnes und blasses Bürschchen von fünfundzwanzig Lenzen, doch er sah wesentlich älter aus. Das zügellose Leben hatte unübersehbare Spuren in sein Gesicht gegraben. Sein Name war Sir James Sandwich. Stewart kannte ihn bereits.
„Was gibt es da zu überlegen?“ sagte Sandwich mit unangenehm hoher Stimme. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Bewaffneten unter Corbetts Kommando. „Allem Anschein nach steht uns nur diese eine Jolle zur Verfügung. Es dürfte eine Selbstverständlichkeit sein, daß zuerst wir, die Angehörigen des Adels, damit in Sicherheit gebracht werden. Später können Sie dann Ihre Überlegungen anstellen, Stewart.“
Sandwich wollte allen Ernstes auf die Jolle zustelzen, und er forderte seine Standesgenossen mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.
„Keinen Schritt weiter!“ brüllte Stewart mit Donnerstimme.
Wenn die Hochwohlgeborenen tatsächlich erschrocken zurückprallten, lag das aber nicht an ihm, sondern an Doherty. Das Monstrum war einen Schritt neben seinen Gebieter getreten und neigte drohend den riesenhaften Oberkörper vor. Mehr war nicht nötig.
„Was soll das heißen?“ schrie Sandwich schrill.
Sir Robert Monk gab ihm die Antwort mit eiskaltem Grinsen.
„Daß Sie hierbleiben, mein Bester. Sie und die anderen. Mister Stewart und ich brauchen Sie nicht. Sie sind absolut nutzlos.“
Sir James Sandwich sperrte den Mund auf, und auch die übrigen Gentlemen starrten Monk fassungslos an. Ausgerechnet er, einer der ihren, war ihnen in den Rücken gefallen. Das war mehr, als sie auf Anhieb verkraften konnten. Eine bittere Medizin, die sich nicht so schnell herunterwürgen ließ.
Und in den nächsten Minuten gab es keine Gelegenheit mehr für sie, abermals Proteste zu äußern.
„Mister O’Leary“, sagte Stewart entschlossen.
„Sir?“ Der Bootsmann der „Lady Anne“ trat vor.
„Sie gehen mit an Bord, außerdem die beiden Söhne Sir John Killigrews. Bestimmen Sie weitere dreizehn Mann aus Ihrer Crew, die Sie für geeignet halten, die Jolle zu besetzen.“
„Aye, aye, Sir“, sagte O’Leary knapp. Er hatte sofort begriffen. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste, nichts anderes zählte mehr. Und er wußte, daß sich die Auserwählten haargenau nach diesem Grundsatz richten würden.
Im Handumdrehen bestimmte O’Leary die brutalsten und rücksichtslosesten Schläger aus der „Lady Anne“-Crew als Jollenbesatzung. Sie waren gewitzt genug, sich schnellstens auf die Seite von Charles Stewart, Sir Robert Monk und O’Leary zu begeben, wo inzwischen auch die ferkelgesichtigen Killigrew-Söhne erleichtert Aufstellung genommen hatten.
Die übrigen Kerle aus O’Learys Meute brüllten ihren Protest hinaus. Doch die Stentorstimme ihres Bootsmanns übertönte alles.
„Schnauze halten, oder ich lasse sie euch stopfen!“
Das wirkte. Denn die von O’Leary Bevorzugten bauten sich mit drohendem Grinsen in einer Linie auf. Ihre Pranken, zu Fäusten geballt, waren deutlich genug.
Im nächsten Moment war es Sir Robert Monk, der den Gentlemen einen erneuten Schock zufügte.
„Mister O’Leary!“ rief er. „Bitte veranlassen Sie, daß Sir James und seinen Freunden die Waffen abgenommen werden.“
Der Bootsmann der „Lady Anne“ brauchte es nicht ausdrücklich zu wiederholen.
„Dann mal los, Männer“, sagte er grinsend und teilte mit knappen Handbewegungen fünf Kerle ein, die die Spezialaufgabe zu übernehmen hatten.
Während die Hochwohlgeborenen vor Entsetzen zu zittern begannen, erkannten die Zurückgewiesenen aus der Killigrew-Meute ihre Chance.
„Los jetzt!“ schrie einer von ihnen. „Das lassen wir uns nicht gefallen!“ Und mit erhobenen Fäusten stürmte er als erster auf die Jollen-Crew zu. Die anderen folgten ihm wutentbrannt.
O’Leary und die anderen duckten sich verteidigungsbereit.
„Mister Doherty!“ rief Stewart schneidend.
Das Monstrum walzte auf die Angreifer los und fällte drei von ihnen mit einem einzigen sensenartigen Hieb.
Zur selben Zeit stießen die Gentlemen quiekende Schreie aus, als ihnen von derben Pranken die zierlichen Prunkdegen entrissen wurden. Viel ließ sich mit diesen Waffen nicht anfangen, aber sie waren besser als nichts.
O’Leary und seine Auserwählten ließen nun ebenfalls ihre Fäuste wirbeln. Gemeinsam mit dem wild grunzenden Doherty gelang es ihnen, die Angreifer zurückzutreiben. Ein halbes Dutzend der Kerle wälzte sich jammernd am Boden – die Auswirkung von Dohertys Hieben. Der Anblick wirkte auf die übrigen demoralisierend.
„Los jetzt!“ befahl Charles Stewart. „Bringt die Jolle zu Wasser! Und dann nichts wie weg!“
Joe Doherty stemmte sich als erster gegen den Spiegel des Bootes, folglich genügte es für die anderen, mit halber Kraft zu schieben.
Die Kerle an Land erwachten aus ihrer Fassungslosigkeit, als die Jolle bereits vollständig bemannt war und im Uferwasser Fahrt aufnahm.
Mit wildem Gebrüll stürmten ein paar von ihnen in die Fluten und schwammen dem Boot nach.
Die sieben Gentlemen beschränkten sich darauf, ein schrilles Wehklagen anzustimmen.
Unterdessen erreichten drei, vier Kerle schwimmend die Jolle und versuchten, das Dollbord zu packen. Es blieb beim Versuch. Doherty hieb ihnen die Faust auf die Schädel, daß sie unter Wasser gestoßen wurden und blubbernd zurückblieben.
Einer aus der Meute, der mit den anderen in ohnmächtiger Wut am Strand ausharrte, bückte sich nach einem Stein und schleuderte ihn mit einem wilden Schrei dem Boot nach. Augenblicklich folgten die anderen seinem Beispiel.
Schon der erste Stein war ein Volltreffer.
Charles Stewart verspürte einen harten Schlag am Kopf und kippte bewußtlos nach vorn. Doherty konnte ihn gerade noch abfangen und verhindern, daß sein Master zwischen die Duchten fiel.
Im nächsten Moment ging bereits ein Steinhagel auf die Jolle nieder. Flüche und Aufschreie der Getroffenen waren die Folge.
Die Kerle am Strand stimmten ein Triumphgeheul an. Ein paar von ihnen liefen auf den für sie erreichbaren Ausgang der Bucht zu, um die Jolle von dort aus mit weiteren Steinwürfen einzudecken. Daß sie Monk und Stewart nicht mehr aufhalten konnten, dämmerte ihnen bereits. Doch die mit aller Kraft geschleuderten Steine milderten, wenigstens ihre Wut.
8.
Es war ein beschämendes Bild, das den Zuschauern von der „Orion“ und der „Dragon“ geboten wurde.
Dieses Bild wurde um keinen Deut schöner, als jetzt Sir James Sandwich auf den Ersten Offizier der „Orion“ zustelzte.
Die Männer aus den Crews der beiden Kriegsgaleonen hatten sich inzwischen gemeinsam am Strand versammelt. Angesichts des blasierten Jünglings mit den verlebten Gesichtszügen wechselten sie belustigte Blicke. Viele von ihnen mußten sich die Hand vor den Mund halten, um nicht in Lachen auszubrechen.
Die übrigen Hochwohlgeborenen verharrten in einiger Entfernung und spähten erwartungsvoll herüber. Unterdessen befanden sich die zurückgebliebenen Kerle aus der Killigrew-Meute noch auf der Landzunge. Sie hatten das Steinewerfen aufgegeben. Die Jolle hatte inzwischen zuviel Distanz gewonnen.
Für die Männer von der „Dragon“ und auch für ihre Gefährten von der „Orion“ bestätigte sich unterdessen der Eindruck, den sie in den vergangenen Stunden von Charles Stewart gewonnen hatten. Schon früher war er durch seine rauhbeinige und oft rücksichtslose Art aufgefallen. Doch dabei hatte er sich meistens noch fair verhalten.
Die Aussicht auf Gold und Reichtum schien jetzt allerdings sein wahres Ich ans Tageslicht gebracht zu haben. Nichts hielt ihn mehr zurück, auf sein Ziel loszusteuern. Das entwürdigende Schauspiel, das er soeben mit der Jolle geboten hatte, war das letzte deutliche Beispiel dafür.
Die Männer aus den beiden Crews konnten nur noch Abscheu und Ekel für Stewart empfinden. Wer sich in einer Gemeinschaft von Schiffbrüchigen befand und dann nur an den eigenen Vorteil dachte, der war nichts anderes als ein gewissenloser Schurke.
Während die Jolle bereits das offene Wasser erreicht hatte, baute sich Sir James Sandwich vor dem Ersten Offizier der „Orion“ auf. Sandwich verschränkte die dürren Arme vor der mageren Brust und reckte überheblich das spitze Kinn vor. Seine verdreckte Kleidung ließ nur noch ahnen, wie elegant er einmal ausgesehen hatte, als er noch frisch gepudert in den ersten Reisetagen an Bord des Flaggschiffs herumgelungert hatte.
Ihm selbst wurde indessen keineswegs bewußt, daß sein Anblick zur Heiterkeit reizte.
„Sie sind der Erste – äh – Offizier der ‚Orion‘, nicht wahr?“ sagte er schnarrend und musterte Corbett dabei geringschätzig von Kopf bis Fuß.
Corbett lächelte kaum merklich. Dieses Bürschchen kannte ihn natürlich genau. Nur versuchte Sandwich, sich an die Gepflogenheit der Hochwohlgeborenen zu halten, sich Namen von Menschen niederen Standes nicht zu merken.
„Warum sollte ich Ihnen verraten, wer ich bin?“ entgegnete Corbett und verstärkte sein Lächeln.
Sir James blinzelte irritiert. Sein Mund klappte auf und wieder zu.
„Lassen Sie den Unsinn, Mister!“ schnarrte er. „Was fällt Ihnen ein, sich mir gegenüber so aufzuführen!“
Das Lächeln des Ersten Offiziers schwand. Ruckartig trat er einen Schritt vor, es hatte den Anschein, als wolle er den Dürren am Kragen packen und durchschütteln. Doch er beließ es bei der drohenden Geste.
Sir James war erschrocken zurückgewichen, stolperte und konnte sein Gleichgewicht gerade noch halten.
Die Männer von den beiden Kriegsgaleonen lachten glucksend. Es war einfach unfaßbar, woher diese gepuderten Affen ihre Unverschämtheit nahmen – in einer Situation wie dieser, in der nichts von dem zählte, was sie daheim in England an Macht und Beziehungen spielen ließen.
„Weshalb tun Sie so, als ob Sie mich nicht kennen?“ sagte Corbett schneidend. „Heraus damit, Sandwich. Wenn Sie schon mit mir reden wollen, dann will ich zuerst diese Frage beantwortet haben.“
„Papperlapapp“, fauchte der Hochwohlgeborene. „Ich habe nicht Ihre, sondern Sie haben meine Fragen zu beantworten. Ist das klar? Im übrigen verlange ich, Sir Edward zu sprechen. Er ist der einzige Mann von Stand in dieser ganzen Bande von …“
Corbetts Fäuste zuckten vor und gruben sich eisenhart in den Seidenstoff des Hochwohlgeborenen-Wamses. Ohne sonderliche Anstrengung schüttelte er das Kerlchen durch, daß dessen Kopf vor und zurück wackelte.
„Ich habe eine Frage gestellt“, sagte Corbett wütend. „Wenn Sie nicht gleich antworten, lasse ich Sie in Eisen legen. Haben Sie mich verstanden!“ Das war natürlich höllisch übertrieben. Aber der Zweck heiligte die Mittel. Diesen arroganten Burschen mußte endlich der Kopf zurechtgerückt werden. Wenn ihnen auch der Grips fehlte, so mußten sie doch begreifen lernen, daß sie die Rechte anderer Menschen nicht ständig mit Füßen treten durften – nicht in einer Situation wie dieser, in der sie ohnehin alle an einem Strang zogen.
Corbett wiederholte seine Frage: „Weshalb taten Sie so, als ob Sie mich nicht kennen?“
Sandwich ächzte gequält.
„Ich habe Sie nicht sofort erkannt, Mister Corbett. Wirklich nicht. Nach diesen furchtbaren Geschehnissen sind wir alle ein bißchen durcheinander, nicht wahr?“
„Sie vielleicht.“ Corbett stieß ihn angewidert von sich. „Sagen Sie, was Sie von uns wollen, und dann ersparen Sie uns Ihren Anblick.“
Hinter ihm nickten die Männer voller Grimm. Was sich dieser magere Schnösel von einem Gentleman leistete, ging auch ihnen mächtig gegen den Strich. Lachen konnte man darüber nur begrenzte Zeit. Dann kochte einem unweigerlich die Galle über.
Sir James Sandwich zupfte sein Wams zurecht und straffte seine Haltung. Er wandte sich kurz um und erblickte die anderen, die ihn fordernd und aufmunternd ansahen. Er räusperte sich, und es klang wie das Rascheln von trockenem Herbstlaub.
„Zunächst einmal, Mister Corbett“, sagte er näselnd, „sind für mich und die übrigen sechs Gentlemen umgehend Hütten zu errichten. Selbstverständlich brauchen wir Einzelquartiere.“
Marc Corbett schüttelte fassungslos den Kopf.
„Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“ erkundigte er sich mit gespielter Höflichkeit.
„Eine fast überflüssige Frage“, sagte Sandwich von oben herab. „Die Mittagszeit ist längst vorüber. Für mich und die anderen Gentlemen ist es höchste Zeit, zu speisen. Lassen Sie also schleunigst die Tafel richten und dann servieren.“
Marc Corbett beschwichtigte die Männer hinter sich mit einer Handbewegung. Er selbst wußte, daß er sich nicht mehr lange zur Ruhe zwingen konnte.
„Mehr Wünsche haben Sie nicht?“ fragte er, immer noch scheinbar höflich.
„Im Augenblick nicht“, erwiderte Sir James Sandwich. „Auch wir müssen uns der Ausnahmesituation anpassen und uns in Bescheidenheit üben. Sie und die Männer sollten sich ein Beispiel daran nehmen, Mister Corbett. Später dürfen Ihre Leute unsere Schuhe putzen …“
Das war mehr als genug.
Ein zorniges Raunen ging durch die Reihen der Seeleute.
Marc Corbett konnte nicht mehr verhindern, daß ihm der Kragen platzte.
„Warum verlangen Sie nicht auch noch, daß wir Sie füttern sollen?“ brüllte er. Die Zornesadern an seinen Schläfen schwollen an. „Oder jeden einzelnen Bissen vorkauen, was?“
Sandwich war noch einen Grad blasser geworden. Entsetzt wich er zurück und streckte abwehrend die Arme aus.
„Ich warne Sie, Corbett!“ schrie er mit zitternder Stimme. „Nehmen Sie sich nicht zuviel heraus!“
Aber der Erste Offizier war nicht mehr aufzuhalten. Mit einer raschen Bewegung hieb er dem mageren Bürschchen die Arme weg und packte ihn erneut am Kragen. Wieder schüttelte er ihn durch, wobei der beängstigende Eindruck entstand, Sandwichs Kopf auf dem dürren Hals könne abbrechen.
„Jetzt hören Sie mal gut zu“, sagte Corbett grob. „Ich werde den Teufel tun und für Sie und Ihresgleichen Hütten bauen lassen. Und keiner der Männer wird eine Tafel für Sie richten oder Sie sonstwie bedienen. Haben Sie das begriffen?“
Sir James schluckte krampfhaft. Sein Adamsapfel bewegte sich dabei ruckend auf und ab.
„Ja“, sagte er weinerlich, „um Himmels willen, ja.“
Corbett stieß ihn von sich.
„Dann ist es gut. Denken Sie ein bißchen nach. Spucken Sie selbst in die Händchen, und sorgen Sie für sich selbst.“
Sandwichs Augen weiteten sich. Der Gedanke, die bloße Vorstellung dessen, was Corbett angedeutet hatte, erschien ihm grauenvoller als alles andere, was bisher geschehen war.
„Das – das kann doch nicht Ihr Ernst sein“, stammelte er.
Diesmal konnten sich die Männer nicht mehr zurückhalten. Schallendes Gelächter ertönte. Spätestens jetzt mußten auch die in einiger Entfernung wartenden Gentlemen begriffen haben, wie wenig der sehr ehrenwerte Sir James Sandwich mit seinem Befehlsgang ausgerichtet hatte.
Corbett musterte den Müßiggänger verächtlich und von oben bis unten.
„Begreifen Sie endlich“, sagte er barsch, „daß Sie hier keine Rechte oder Privilegien mehr genießen. Es sei denn, Sie ordnen sich in die Gemeinschaft ein und packen mit an, wie wir alle es tun.“ Er wandte sich halb um und deutete zum Strand, wo Sir Edward Tottenham gemeinsam mit dem Schiffszimmermann dabei war, einen angetriebenen Schiffsbalken zu zersägen. „Nehmen Sie sich ein Beispiel daran. Sir Edward, auch ein Mann von Stand, läßt sich nicht bedienen!“ Ohne den Dürren noch zu beachten, wandte sich Corbett kurzerhand um.
Sir James Sandwich blickte den Männern nach, die sich einfach von ihm entfernten, als sei er Luft. Er verstand die Welt nicht mehr. Insgeheim verfluchte er seine Teilnahme an dieser Karibik-Reise als den schlimmsten Fehler, den er jemals in seinem Leben begangen hatte. Doch das durfte natürlich niemand wissen. Ein Mann von Adel gestand anderen gegenüber keine Fehler ein.
Während er zu den anderen zurückschlurfte, überlegte Sir James bereits, wie er seinen Freunden am besten erklärte, daß das Pack zur Zeit mit dringlicheren Arbeiten beschäftigt sei und daher für das Richten der Tafel noch keine Gelegenheit bestehe.
Marc Corbett einigte sich unterdessen rasch mit Arthur Gretton, dem Ersten Offizier der „Dragon“.
Ein Teil der Crew half beim Bau der Hütten mit, ein anderer Teil der Männer von der „Dragon“ wurde den Tauchergruppen zugeordnet. Es sollte versucht werden, die beiden gesunkenen Kriegsgaleonen so weit wie möglich auszuschlachten. Die beiden letzten Jollen der „Dragon“ wurden in den Bereich des nunmehr gemeinsamen Lagers verholt.
Niemand kümmerte sich jetzt mehr um die erlauchten Adligen und ebensowenig um die zwölf zurückgebliebenen Kerle von der „Lady Anne“. Bei ihnen handelte es sich um eine so unbedeutende Minderheit, daß von ihnen kaum eine Gefahr drohte, zumal das Lager mittlerweile nach allen Seiten gut bewacht wurde.
Sir James Sandwich und seine Gentlemen setzten sich beleidigt in den Schatten oberhalb des Strandes und zeigten weiterhin keine Bereitschaft, auch nur einen Finger zu rühren.
Die zwölf Kerle von der „Lady Anne“ trödelten am Strand entlang, immer weiter vom Lager weg, bis sie sich schließlich vollends verdrückt hatten.
Die Jolle mit Stewart, Monk und den übrigen Halunken war unterdessen nach Südosten gesegelt und ebenfalls außer Sichtweite.
9.
Für die Arwenacks war dieser Tag so düster, als hingen dichte schwarze Wolken unmittelbar über ihren Köpfen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß die Sonne nach wie vor strahlend am blauen Himmel stand und eine handige Brise die See zu freundlichem Wellengang streichelte.
Die „Isabella“ lag an diesem Nachmittag des 23. August in der Südbucht der östlichsten Insel der Pensacola Cays. An Bord des schlanken Schiffes herrschte im wahrsten Sinne des Wortes Grabesruhe.
Der Kutscher hatte an Bord das Regiment übernommen, und keiner wagte, seinen Anordnungen auch nur andeutungsweise zu widersprechen. Klipp und klar und unmißverständlich hatte er erklärt, daß auf dem Schiff absolute Ruhe zu herrschen habe. Andernfalls könne er für nichts mehr garantieren.
Am gestrigen Tag, auf der Fahrt zu den Pensacola Cays, hatte der Kutscher das Unmögliche gewagt. Mit Hilfe Mac Pellews und der Zwillinge hatte er die Pistolenkugel herausgeholt, die in Hasards Rücken eingedrungen und dicht vor dem Herzen steckengeblieben war.
Alle an Bord der „Isabella“ hatten den Atem angehalten und das Schlimmste befürchtet.
Aber der Seewolf war dem Kutscher nicht unter der Hand weggestorben.
Dennoch hatte sich bislang keine rechte Besserung einstellen wollen. Jeder wußte, daß Hasard noch lange nicht über den Berg war.
Ben Brighton harrte regungslos wie ein Standbild an der Heckbalustrade des Achterdecks aus. Doch seine Ruhe war nur äußerlich. Innerlich empfand er ein Vibrieren und Rumoren, wie er es selten erlebt hatte.
Ähnlich erging es zweifellos den Männern. Die meisten hockten auf der Kuhl, redeten nur im Flüsterton, und wenn sie sich tatsächlich einmal bewegen mußten, dann taten sie es so leise, daß sie sich dabei selbst nicht hörten.
Die Anspannung, die auf der Crew des Seewolfs lastete, war geradezu körperlich spürbar.
Es war wie ein Schmerz, der sie alle gepackt hatte und zur Hilflosigkeit verdammte.
Sie konnten nichts tun für Philip Hasard Killigrew, buchstäblich nichts. Das bißchen Hilfe, das möglich war, mußte sich zwangsläufig auf einen kleinen Personenkreis beschränken. Denn es konnten nicht ständig alle Mann in die Krankenkammer poltern, wo Hasard noch immer ohne Bewußtsein lag.










