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„Hast du über meine Erscheinung nachgedacht?“, fragte Mary, und Larry, schon bereit, alles zu erzählen, was er gerade dachte, begann: „Wenn ich ehrlich bin ...“
Mary fiel ihm ins Wort: „Ist schon okay, Larry. Wenn ich ehrlich bin, ist die Vision schon wieder so weit weg, dass ich mich frage, ob es vielleicht doch nur ein komischer Traum war.“
Unbefangen nahm sie seine Hand und Larrys Herz schlug plötzlich schneller. Widerstandslos ließ er sich von Mary den kleinen Hügel zur Kapelle hinaufziehen. Die Kapelle war verschlossen. Etwas von der alten Mary kam zum Vorschein, als sie lachend rief: „Ich will da hinein! Nachdem ich von einer anderen Dimension den Auftrag erhielt, die Menschheit zu retten, muss ich da hinein!“
Oh ja! Sie konnte sich auf ihn verlassen! Denn Larry, der auch den Küster des Dorfes mit seinem Boot nach St. Michael übersetzte, wusste, wo der Ersatzschlüssel lag. Im Nu stand die Tür offen und sie betraten die Kapelle, in der es, abgesehen von einigen Sonnenstrahlen, die durch die beiden kleinen Seitenfenster fielen, dunkel war. Sie fielen auf ein in Leder gebundenes Buch, das aufgeschlagen auf dem Stehpult vor dem Altar lag. Mary und Larry nahmen auf der letzten der fünf Bänke Platz. Von draußen drang kein Laut in die Kapelle, nicht einmal ein Vogelruf. Der schwache Duft von Weihrauch unterstrich die ruhige und friedliche Stille des kleinen Heiligtums.
„Hast du die Zündhölzer dabei?“, flüsterte Mary, und Larry kramte in seiner Jackentasche und reichte sie ihr.
„Wo muss ich hier Münzen für die Kerzen einwerfen?“, erkundigte sich Mary.
Larry, ganz Gentleman, stand schon neben ihr und es klimperte in der Spendendose. Drei Kerzen zündete Mary an. Larry warf noch etwas Geld in die Büchse, dann setzten sie sich beide wieder in die Bank. Eine Weile saßen sie nur schweigend da, dann stand Mary auf, und Larry dachte, sie wolle die Kapelle verlassen. Aber Mary, die der Weihrauchduft an Ernestino erinnerte, ging zum Altar, über dem ein großes, eindrucksvolles Bild hing. Sie konnte kaum etwas sehen, wusste allerdings, dass es den Namenspatron der Insel, den heiligen Michael, beim Kampf gegen einen gefährlichen Widersacher darstellte. Unter dem Bild standen zwei Vasen mit kümmerlichen Plastiklilien. Dann fiel Marys Blick auf das Buch, das auf dem Pult lag, vor dem sie jetzt stand. Erstaunt bemerkte sie, dass es auf der Seite aufgeschlagen war, auf der das gleiche Bild wie über dem Altar zu sehen war. Michael trug ein mächtiges Schwert – und, als Mary daraufsah, wurde es zu einem flammendem Lichtschwert, das so hell aufblitzte, dass sie geblendet die Augen schließen musste. Mary taumelte und sofort war Larry bei ihr. Er konnte das Aufflackern des Lichts gerade noch sehen, bevor es wieder erlosch. Eine Sekunde lang starrte er verblüfft auf das Schwert in der Hand des Heiligen, dann nahm er Marys Hand und gemeinsam gingen sie aus der Kapelle heraus.
„Was um Himmels willen war denn das?“, keuchte Larry, während er mit zittrigen Fingern die Tür abschloss und den Schlüssel wieder an seinem gewohnten Platz versteckte.
Mary holte tief Luft. „Ich bin so froh, dass du bei mir bist, Larry“, sagte sie und drückte fest seine Hand. „Ich würde sonst selbst glauben, dass ich verrückt bin. Das war genauso unglaublich wie die Erscheinung, die ich hatte. Glaubst du mir jetzt?“
„Ich hab dir immer geglaubt“, verteidigte sich Larry, „Es ist nur ...“
Mary schien ihn nicht zu hören. Als Larry sie ansah, stand Mary an seiner Seite und blickte aufs Meer. Sie schien ihm wie zur Salzsäule erstarrt.
„Was, was ist los ...?“, wollte Larry gerade fragen, als Mary abwinkte.
„Schhhh! Hör doch mal!“, forderte sie ihn auf.
Larry folgte ihrem Blick hinaus aufs Wasser und lauschte. Doch da war nichts, er hörte und sah nichts.
„Da ist nichts. Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte er, und Mary nickte langsam.
„Genau, da ist nichts ... es ist totenstill, viel zu still! Gerade eben war es noch windig, die Wellen klatschten gegen die Felsen und die Äste der Bäume knarrten im Wind. Und jetzt ... nichts!“
Erst jetzt fiel Larry auf, dass sie recht hatte. Kein Lüftchen war mehr zu spüren, das Meer lag plötzlich völlig ruhig vor ihnen, kein Geräusch war zu hören ... Das war merkwürdig und irgendwie unheimlich. Mary wagte kaum zu atmen, irgendetwas ging hier vor. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war, als wäre die Stille aus der Kapelle mit ihnen hinaus ins Freie getreten und hätte nun alles verstummen lassen. ... Plötzlich war ein Schrei zu hören. Mary fuhr zusammen und drehte sich um, um festzustellen, aus welcher Richtung der Schrei gekommen war.
„Komm mit, komm mit!“, wieder hörte sie den schrillen Ruf, und diesmal war er so laut, dass sie sich vor Schreck die Ohren zuhielt.
„Mary, was ist los, ist alles in Ordnung? Mary, sag doch was!“ Larry beunruhigte das Verhalten seiner Freundin. Er wollte sie gern hier fortbringen ... irgendetwas ging heute vor und was, das konnte er noch nicht einordnen.
„Alles in Ordnung, es war nur gerade einfach zu laut, dieser Schrei, wo ist der nur hergekommen?!“ Mary hatte sich wieder gefangen und schaute sich abermals suchend um.
„Welcher Schrei, wovon sprichst du, es ist totenstill hier.“ Larry war ganz offensichtlich verwirrt, denn er hatte nichts gehört, und Mary sah ihn erstaunt an.
„Willst du damit sagen, dass du das gerade nicht gehört hast?“, fragte Mary verwirrt und erzählte Larry von dem Schrei, den sie vernommen hatte, doch ihr Freund blieb ratlos, er hatte nichts gehört.
„So wie du es mir beschreibst, klingt das ganz nach dem Ruf eines Steinkauzes ... du weißt schon, der Totenvogel.“ Larry kannte diese Vögel, ihren Ruf und wusste, was der Volksmund über diese Tiere sagte: Ihr Ruf sei ein Zeichen dafür, dass in naher Zukunft jemand den Tod finden würde.
„Ja, du könntest recht haben, aber diese Vögel sind nachtaktiv, und ... warum habe nur ich allein ihn gehört?“, fragte sich Mary. In diesem Augenblick setzte der Wind wieder ein, die Wellen schlugen geräuschvoll gegen die Felsen und die Bäume wiegten ihre Äste im Wind. Alles war wieder genauso wie zuvor, als wäre es nie anders gewesen. Larry war noch immer etwas unheimlich zumute, doch er wollte Mary auf jeden Fall beistehen, auch wenn das heißen würde, dass künftig noch mehr solche Situationen auf ihn zukommen würden. Er betrachtete Mary aus den Augenwinkeln heraus: Ihre Wangen waren gerötet vor Aufregung und sie sah wunderschön aus. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie freundschaftlich an sich.
„Ich werde dich immer beschützen, egal was passiert!“
„Versprochen?“ Mary lächelte ihn an.
„Großes Ehrenwort! Ich lass dich nicht im Stich, egal was kommt. Und ich versprech dir sogar noch etwas: Wenn das alles geschafft ist und du deine Aufgabe erfüllt hast, werd ich dich heiraten und dann bau ich uns hier ein wunderschönes Haus mit Blick aufs Meer.“
Mary lachte und erwiderte: „Okay, ich nehm dich beim Wort.“
Larry war sich nicht ganz sicher, ob Mary ihn ernst nahm oder ob sie das für einen Scherz hielt, was er gesagt hatte. Aber das machte ihm nichts aus, er schwor sich, dass er sie eines Tages zur Frau nehmen und alles tun würde, um sie glücklich zu machen. Während er im Stillen Zukunftspläne schmiedete, war Mary ganz in Gedanken versunken, das Licht aus der Kapelle war ihr wieder eingefallen ...
„Was bedeutete dieses Flammenschwert?“, fragte sie und schüttelte den Kopf. „Ich muss mehr darüber wissen. Am liebsten möchte ich die Reise gleich beginnen.“
Ihre Augen leuchteten, als sie Larrys Hand ergriff, und sie rief: „Komm, Larry, wir müssen jetzt zurückfahren.“
Doff kaute gerade missmutig an einer langen Lakritzenschnur. Er hockte auf einem Baumstrunk in der Bucht und fühlte sich so einsam wie schon lange nicht mehr. Master Ruppy hatte ihm einen endlosen Vortrag über die stille Freude gehalten, die man empfinde, wenn man sich ganz und gar dem Beruf des Leichenbestatters widme. Danach war er ausführlich auf die Krisensicherheit seines Berufes eingegangen und hatte Doff zu dessen Entsetzen durch den Schauraum mit den offenen Särgen geschoben.
Doff schüttelte sich. Er brauchte dringend seinen Freund, aber er hatte Larry nirgendwo entdecken können, und Mary war in der Schule. Frustriert hatte er sich in dem Laden am Hauptplatz mit so viel Süßigkeiten eingedeckt, wie er sich leisten konnte, und das war nicht gerade wenig, weil ihm sein Onkel – wohl wegen der Aussicht, ihn bald unter seinen Fittichen zu haben – großzügig ein paar Pfund zugesteckt hatte.
Doff wünschte sich so weit wie möglich fort von Lysardh Fount und seinem Onkel. Während er seine Tüten leerte, starrte er trübselig in den Himmel. Danach zählte er die Krähen, doch ihr aufgeplustertes schwarzes Federkleid erinnerte ihn nur wieder an Master Ruppy. Gequält schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, leuchtete sein Gesicht. Endlich! Larrys Boot war in Sicht. Zu Doffs Überraschung war Mary auch an Bord. Das kränkte ihn, denn es bedeutete, dass sie ohne ihn auf St. Michael waren. Doch dann nahm er gerührt zur Kenntnis, dass die beiden sich ebenfalls riesig freuten, ihn zu sehen. Kaum hatten sie das Boot an Land gezogen, da stürzten sie sich auf ihn und umarmten und drückten ihn.
„Du wirst jetzt Leichenbestatter“, kicherte Mary und Doff, der gute Miene zum bösen Spiel machte, knurrte verlegen: „Nur über meine Leiche!“
„Was wolltet ihr denn auf der Insel? Und wieso war ich nicht dabei?“
Ein Blick in Marys Gesicht, das plötzlich einen ernsten Ausdruck hatte, sagte Doff, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein musste. Auch Larry, der zu bedenken gab, dass er das Boot zum Anlegesteg zurückbringen müsse, wirkte seltsam nervös, was gar nicht seine Art war. Neugierig bestürmte Doff Mary mit Fragen, doch sie winkte ab. Mary überlegte. Heute war Mittwoch. Laura spielte wie immer mit ihren Freundinnen in Corrdall Fort Karten, also würden sie im Haus ihrer Großmutter ungestört sein.
„Wir gehen zu mir“, schlug sie vor und alle waren einverstanden. Larry stieg wieder ins Boot und Mary und Doff machten sich an den Aufstieg durch die Klippen.
Um diese Tageszeit wirkte Lysardh Fount wie ausgestorben. Nicht einmal von Emily war etwas zu sehen, doch das war gut so, weil sie so wenig Aufsehen erregen wollten wie möglich. Immerhin war es ein normaler Schultag und gute Nachbarschaft hatte den Nachteil, dass jeder alles vom anderen wusste oder wissen wollte, und Emily war dabei keine Ausnahme, wie Mary aus eigener Erfahrung wusste.
Erst nachdem sie sich in Lauras Cottage um den runden Tisch versammelt hatten, weihte Mary Doff ein.
„Gut“, sagte er, zufrieden darüber, dass sein ungesprochenes Gebet erhört worden war. „Wann soll’s losgehen? Wir müssen doch jemanden retten, oder?“ Dabei steckte er sich das letzte Stück Marzipan in den Mund.
Mary lachte. „Wenn du so weitermachst, Doff, müssen wir dich bald durch die Gegend rollen.“
In Erinnerung an einen Hinweis, den er dem sprachgewandten Larry verdankte, konterte Doff: „Besser dick als doof.“
Larry verzog gequält sein Gesicht, aber Mary dachte, dass es einer von Doffs liebenswertesten Zügen war, dass er es niemandem nachtrug, wenn er sich über seine Dickleibigkeit oder Naivität lustig machte. Selbst für jeden Spaß zu haben, war er auf eine Weise großzügig, die sie immer wieder erstaunte.
„Also, was machen wir jetzt?“, wollte Doff wissen.
„Wir warten auf den nächsten Hinweis“, sagte Mary, die selbst noch keine Ahnung hatte, wie das alles gemeint war. „Oder was denkst du?“, wandte sie sich an Larry, der zustimmend nickte.
„Was auch kommt, wir bleiben zusammen!“
„Klar“, stimmte Doff kauend zu, doch Larry murmelte undeutlich: „Wir werden sehen.“
Mary streckte ihre Hände bis zur Mitte des kleinen Tisches aus und Larry und Doff legten ihre Hände auf ihre. Mit diesem kleinen Ritual besiegelten und erneuerten sie ihre Freundschaft – doch diesmal schloss Mary dabei die Augen, hob leicht den Kopf und ließ die Schultern fallen. Doff schielte zu Larry hinüber und sah, dass auch er die Augen geschlossen hatte, schluckte das letzte Marzipanstück hinunter und tat es ihnen gleich. Ihre Hände begannen zu pulsieren. Sie spürten eine vibrierende Kraft, die durch ihre Körper aufstieg und dabei zunahm. Ein Energiekreis bildete sich, eine Art schützender Bannkreis, und sogar die Luft, die sie umgab, schien zu knistern. Sie hatten keine Ahnung, wie lange sie die Spannung halten konnten, bis sich, wie auf ein unhörbares Kommando hin, ihre Hände lösten und sie ihre Augen wieder öffneten.
„Cool!“, flüsterte Doff.
Larry murmelte leise: „Wahnsinn!“, und Mary rief: „Das war unglaublich!“
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und Laura trat ein. Sie war klatschnass.
„Ich hatte Glück! Den ersten Bus hab ich versäumt, der nächste wäre erst in vierzig Minuten gekommen. Und dann dieser Wolkenbruch. Wie aus dem Nichts. Keine Möglichkeit, mich unterzustellen, keine Autos, die ich hätte anhalten können. Dann kam irgendwann Gott sei Dank Mr Griffin mit seinem Polizeiauto vorbei und hat mich mitgenommen.“
Larry sprang auf und half Laura aus der nassen Jacke, Doff nahm ihr die Tasche ab, und Mary lief in die Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen.
„Ein Wolkenbruch?!“, rief Mary fragend durch die offene Tür. „Sonst sieht man doch, wenn sich ein Unwetter zusammenbraut.“
„Ja, habt ihr denn nichts gemerkt?“, fragte Laura erstaunt, bevor sie im Badezimmer verschwand, um sich umzuziehen. „Es hat geblitzt. Und wie! Direkt über dem Dorf.“
„Es war wie vor einem Gewitter!“, platzte Doff heraus, „Nur stärker und wir ...“ Verwirrt verstummte er, als ihm Mary und Larry bedeuteten, den Mund zu halten.
„Was war vor dem Gewitter?“
„Nichts, Laura!“, rief Mary und schob Larry und Doff rasch in Richtung Eingangstür, wobei sie flüsterte: „Wir treffen uns jetzt jeden Tag gegen vier Uhr nachmittags in der Höhle, unserem Versteck in der Nähe vom Bootshaus. Falls einer von uns nicht kommen kann, sehen wir uns am nächsten Morgen vor der Schule.“
Erleichtert schloss Mary die Tür hinter den beiden und drehte sich um. Vor ihr stand ihre Großmutter im Bademantel und frottierte sich das Haar. Obwohl Laura schon so alt war, hielt sie sich sehr gerade, und ihr Gesicht zeigte trotz der vielen Falten immer noch die Spuren großer Schönheit. Einen Augenblick lang kam es Mary vor, als ob sie sich in den Augen ihrer Großmutter spiegelte, die nachdenklich auf ihre Enkelin gerichtet waren. Sie hatten dieselbe Farbe wie ihre Augen und die Augen ihrer Mutter, und Mary dachte traurig: „Wie die ruhige See bei schönem Wetter, aber unergründlich in ihrer Tiefe.“
„Du sollst mich nicht immer Laura nennen“, sagte die alte Dame ruhig. „Vor allem nicht vor deinen Freunden. Suchend sah sie sich um. „Wo sind sie eigentlich?“
„Die mussten heim“, antwortete Mary vage. Der Wasserkessel pfiff, und sie lief erleichtert nach nebenan, um den Tee aufzugießen. Laura folgte ihr in die Küche.
„Was ist denn los mit euch?“, fragte sie. „Ihr drei habt doch irgendetwas vor?“
Mary schüttelte den Kopf, und ihre Großmutter nahm sie fest am Arm und führte sie ins Wohnzimmer zurück.
„Setz dich, Kind“, forderte sie Mary auf, die gehorchte, dann nahm die Großmutter neben Mary Platz.
„Ich spüre doch, dass etwas passiert ist.“ Aufmerksam sah Laura ihre Enkelin an, bevor sie nachdenklich hinzufügte: „Ich sehe es doch, Mary, wenn ich dich anschaue. Du kannst mir nichts vormachen.“
Mary, die wusste, dass ihre Großmutter ihr nie böse war, seufzte unglücklich: „Ich kann es dir nicht erzählen“, sagte sie leise und versicherte dann: „Glaub mir, Großmutter, wir machen keine Dummheiten.“
Laura schwieg. Sie wusste seit heute Morgen, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Das war der Grund, weshalb sie früher als geplant nach Hause gekommen war.
„Ich hab für dich die Zigeunerkarten gelegt“, sagte Laura und schüttelte den Kopf, „doch ich konnte sie nicht deuten.“ Wieder schwieg Laura eine Weile, bevor sie fortfuhr: „Ich verstehe ihre Botschaft zwar nicht, konnte allerdings erkennen, dass uns große Veränderungen bevorstehen.“
Laura legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. „Versprich mir, Kind, dass du dich nicht in Gefahr bringst.“
Mary, der es wehtat, dass sie Laura nicht ins Vertrauen ziehen konnte, umarmte sie und sagte leise: „Ich hab dich sehr lieb, Großmutter.“
„Ich dich auch“, flüsterte Laura, „aber das weißt du ja.“
Dann lachte Laura und fragte: „Hast du heute noch was vor?“
Als Mary verneinte, zog Laura sie hoch. „Dann koche ich uns meinen berühmten Bohneneintopf, und während der vor sich hinköchelt, spielen wir eine Runde Karten. Ganz wie in alten Zeiten!“
Es wurde ein sehr gemütlicher Abend, an den Mary noch lange zurückdenken würde. Der Regen, der leise gegen die Fenster trommelte, der süße Duft von Bienenwachs, mit dem Laura die alten Möbel behandelte, der warme Schein der Lampen und das Knistern des Kaminfeuers: die vertraute Umgebung half Mary, sich zu entspannen. Sie gewann ihre spontane Fröhlichkeit zurück, und Laura ließ sich nicht mehr anmerken, dass sie sich Sorgen um ihre Enkelin machte. Was immer Mary erwartete, sie war überzeugt, dass sich dahinter etwas Gutes und Wundervolles verbarg. Sie hatte schon immer gewusst, dass dieses Kind im Leben eine besondere Aufgabe zu erfüllen hatte. Nun, da die Zeit gekommen war, musste sie Mary gehen lassen, so schwer ihr das fiel.
Als sie in ihrem Bett lag, dachte Mary mit großer Zärtlichkeit an ihre Großmutter und mit Wehmut an ihre Mutter, die ihr so ähnlich gewesen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie, wann immer sie als Kind bei ihrer Großmutter übernachtet hatte, auf ihrem Kopfkissen eine weiße Feder gefunden hatte. „Das ist ein Engelgruß, der dir gute Träume schenkt“, hatte Laura dann immer gesagt.
Trotz der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, und obwohl keine Feder mehr auf ihrem Kopfkissen lag, schlief Mary in dieser Nacht tief und traumlos.
Larry und Doff übernachteten im Bootshaus beim Anlegesteg. Während Larry bereits leicht schnarchte und von Mary träumte, konnte Doff lang nicht einschlafen. Er lag in der anderen Ecke der zugigen Holzhütte auf seiner Matratze, in warme Decken gehüllt, und lauschte dem Geräusch, das die Wellen machten, die sich am Steg brachen. Noch konnte er sein Glück gar nicht fassen: War er wirklich dazu bestimmt, gemeinsam mit seinen Freunden ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben? Es war beinah zu schön, um wahr zu sein.
Bilder aus seiner Vergangenheit quälten Doff: die unordentliche Wohnung seiner Eltern in Townsend; seine Mutter, die im selben Pub als Bedienung arbeitete, in dem sich sein Vater jeden Abend betrank; die täglichen, lautstarken Auseinandersetzungen seiner Eltern und die Gesichter seiner Geschwister, die sich erschrocken aneinanderkauerten. Hoffentlich ging es ihnen gut!
In Doffs Vorstellung wurde Larry zum Ritter in silberner Rüstung, der auf seinen Schimmel sprang, um aus seiner untergehenden Heimat zu fliehen, und Mary zur Lichtgestalt, die sie beide leitete. Langsam lullte ihn der Rhythmus der Meereswogen ein und Doff schloss die Augen. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern ging, rosig wie eine riesige Marzipankugel, die Sonne auf. Doff lächelte selig. Er würde keine Leichen für Master Ruppy waschen, sondern stattdessen ein großes Abenteuer erleben! ... Leise begann er zu schnarchen.
Der Aufbruch
In den nächsten Tagen trafen sich die Freunde immer zur verabredeten Zeit in ihrem Versteck. Gleich neben ihrem Eingang hatte sich eine Seedohle ihr Nest gebaut, das war allerdings zu ihrer Enttäuschung das einzig Bemerkenswerte, was sich ereignete. Mary fiel es zusehends schwerer, sich auf ihre alltäglichen Pflichten in der Schule zu konzentrieren. Am Nachmittag des dritten Tages betrat sie die kleine Buchhandlung in Lysardh Fount. Sie hatte beschlossen, ein Tagebuch zu führen, in dem sie alles aufzeichnen wollte. „Ablegen der Gedanken“ nannte sie es. Heute wollte sie damit anfangen.
Die Ladenbesitzerin, Mrs Toth, begrüßte sie wie gewöhnlich überfreundlich, was Mary nicht ausstehen konnte. Sie war grellblond gefärbt, davon abgesehen allerdings eher hausbacken, was sie vergeblich durch modische Kleidung wettzumachen versuchte. Ihren neugierigen, kleinen und flinken Augen entging nichts.
„Du strahlst ja richtig, Mary“, flötete sie mit der sanften Stimme, die ihren Kunden vorbehalten war. Larry hatte erzählt, dass ihr spindeldürrer Mann, der die Bäckerei zwei Häuser weiter betrieb, diese freundliche Stimme so gut wie nie zu hören bekam. Wie immer war Mary höflich, aber reserviert. Rasch sah sie sich um, entdeckte, was sie suchte, wechselte mit Mrs Toth einige belanglose Sätze über das Wetter, bezahlte das zu teure, aber schön gebundene Tagebuch an der Kasse und ignorierte die Frage der Buchhändlerin, ob sie denn schon einen Freund habe.
Als sie auf der Straße stand, atmete Mary erleichtert auf. Mit der Hand strich sie über den Buchdeckel, den ein Rosenmuster zierte, und dachte über die ersten Zeilen nach, die sie ihrem Tagebuch anvertrauen wollte. Ihre Reise sollte nach Pakistan gehen. Mary wusste nicht viel über dieses Land. Keiner von ihnen besaß einen Computer, doch Mary hatte sich in der Schule einige Fakten herausgesucht. Zum Glück besaß ihr Lehrer einen alten Computer, den er ihr zur Verfügung stellte ...
„Ein Reiseführer wäre gut“, dachte sie, „mit Fotos und allem Drum und Dran.“ Doch den müsste sie bei Mrs Toth bestellen und das war bei deren Neugierde und Tratschsucht zu riskant.
So schlenderte sie auf dem Nachhauseweg durch den nahen Park. Es war später Nachmittag, und sie wollte sich dort auf eine Bank setzen, um in Ruhe ihre ersten Einträge über die Erlebnisse der letzten Tage zu machen. Während sie über das Gras spazierte, fiel ihr ein junger Mann auf. Er saß allein auf einer Parkbank, blickte nachdenklich vor sich hin und schien auf jemanden zu warten. Mary ging langsamer und musterte den Mann aus dem Augenwinkel. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er hatte reine klare Gesichtszüge und außergewöhnlich grüne Augen. Sein makelloses Gesicht war umrahmt von dunkelblonden langen Haaren. Marys Schritte wurden noch langsamer und, ohne es selbst bemerkt zu haben, war sie plötzlich stehen geblieben. Es war, als ob eine unsichtbare Kraft sie zu diesem Fremden hinzog. Unvermittelt hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken und in diesem Augenblick ahnte sie es ... Noch ehe er ein Wort sagte, wusste sie, wen sie vor sich hatte ...
„Ich bin Troy, dein geistiger Begleiter“, sprach er und hielt ihr dabei seine Hand zum Gruß entgegen.
Er war es, der gute Geist, der Beschützer, den man ihr zur Seite gestellt hatte.
„Ich heiße Mary“, flüsterte sie leise, als sie ihm die Hand reichte. In dem Augenblick, als sich ihre Hände berührten, durchzuckte Mary ein merkwürdig vertrautes Gefühl, wie ein Blitz flammte in ihren Gedanken ein verschwommenes Bild auf. Sie sah Troy und sie sah sich selbst, es war wie eine Erinnerung aus einem längst vergangenem Leben. Sie wollte diesen Augenblick festhalten, so fasziniert war sie von ihrem Gegenüber. Die Kraft und die Liebe, die von ihm auf sie überströmten, gaben ihr ein noch nie da gewesenes Gefühl. Fasziniert sah sie in sein Gesicht. Es wirkte jung und dann doch auch wieder alt und weise. Sie fühlte sich von der ersten Sekunde an wohl in seiner Nähe.
Troy betrachtete das hübsche Mädchen, an dessen Seite ihn das Schicksal gestellt hatte, und war überrascht. Er hatte schon vieles auf Erden gesehen, eine Aura wie diese war allerdings selbst ihm noch nie begegnet. Ein strahlendes Violett umgab Mary. Troy war fasziniert von dieser Kraft, die von ihrem außergewöhnlichen Aurafeld ausging.
„Die höchste Göttliche Energie“, dachte er im Stillen. Dieser Gedanke ließ ihn unwillkürlich lächeln, und er wusste, warum gerade Mary auserwählt worden war. Langsam ließen sich ihre Hände wieder los. Troy trat einen Schritt zurück.
„Du solltest mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte er, „wir werden uns bald wiedersehen. Bevor die Reise beginnt, werde ich wieder zu euch stoßen und dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg.“
Er lächelte Mary noch einmal warm zu, bevor er sich abwandte und davonging. Mary schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie Troy nicht mehr sehen. Sie war verwirrt und enttäuscht, weil ihre Begegnung so abrupt geendet hatte und sie noch so viele Fragen hatte, doch sie war auch ungemein erleichtert. Das war die Bestätigung, auf die sie gewartet hatte. Ihre Vision war Wirklichkeit gewesen und kein Traum!