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„Was für Vorbereitungen denn?“, fragte Larry verstimmt. „Hat dieser Troy denn nichts Genaueres gesagt?“
Mary hatte die Freunde noch im Bootshaus angetroffen und überschwänglich von ihrer Begegnung mit Troy erzählt. Während Doff zufrieden wirkte, sah Larry verdrießlich aus. Mary strahlte von innen heraus und das machte ihn misstrauisch und verunsicherte ihn.
„Das ist wieder einmal typisch für dich!“, schimpfte Doff. „Hast du denn gar kein Vertrauen, Larry?“
Mary, die sich an ihre intensiven Gefühle erinnerte und an die Sprachlosigkeit, die es unmöglich gemacht hatte, Fragen zu stellen, spürte erschrocken, dass sie errötete. Das entging Larry nicht und es machte Mary selbst unsicher.
„Er wird zu uns kommen, wenn es so weit ist“, sagte sie mit mehr Nachdruck, als sie vorgehabt hatte. „Und dann erfahren wir bestimmt mehr.“
„Hoffentlich“, bemerkte Larry skeptisch und presste seine schmalen Lippen zusammen.
Doff, der sich von Larrys schlechter Laune nicht beirren ließ, gab zu bedenken: „Vielleicht hat Troy ja gemeint, dass wir unsere Dinge in Ordnung bringen sollten, bevor wir aufbrechen?“
Zu seiner Überraschung gab Mary ihm dafür einen Kuss und Doff stammelte verlegen, dass Troy ihn nicht gemeint haben könne, weil er selbst nichts in Ordnung zu bringen habe.
„Was ist mit Master Ruppy?“, widersprach Larry. „Er hat keine eigenen Kinder und du bist der einzige Nachfolger, damit seine Sargfabrik in der Familie bleibt.“
„Was heißt Sargfabrik?“, regte Doff sich auf. „Mein Onkel stellt keine Särge her, er verkauft sie.“
„Wenn schon“, beharrte Larry, „Er wird dich verfluchen, wenn du einfach verschwindest.“
„Juckt mich nicht, wenn ich in Pakistan bin.“ Doff kicherte. „Master Ruppy ist wirklich sehr um seinen Blutdruck besorgt. Wer würde ihn denn begraben, wenn er selbst nicht mehr da ist? Nein, der wird sich hüten, sich aufzuregen.“
„Hut ab vor deiner Logik“, schnaubte Larry sarkastisch.
„Kehr vor deiner eigenen Tür!“, rief Doff. „Denk an die Larkins!“
Das tat Larry auch, allerdings nur kurz. „Denen werde ich zwar fehlen, aber die finden sicher bald einen anderen Idioten, der für diesen Hungerlohn die Touristen herumschippert.“
Mary dachte, dass die kleine Rangelei damit beendet sei, doch Larry spielte noch einen letzten Trumpf aus. „Und was ist mit der Schule?“, fragte er.
Doff, dem die Schule gestohlen bleiben konnte, zuckte nur mit den Schultern, aber Mary wurde nachdenklich.
„Das Schuljahr ist bald vorüber“, sagte sie. „Und auf Laura kann ich mich verlassen. Ihr wird schon etwas einfallen.“
Dann zuckte sie zusammen. „Murphy!“, rief sie, „beinah hätte ich Murphy vergessen!“
Murphy hatte Mary den Kater getauft, den sie vor einem Monat auf der Hauptstraße nahe der Bushaltestelle am Straßen-rand halb tot und mit umgeknicktem Schwanz gefunden und ins Tierheim gebracht hatte. Seither hatte sie ihn oft besucht. Weil sie gut mit Tieren umgehen konnte, war sie inzwischen ein gern gesehener Gast im Tierheim.
„Morgen muss ich mit dem Bus nach Corrdall Fort, Murphy holen. Was ist, kommt ihr mit?“
„Warum willst du Murphy holen?“, fragten Larry und Doff wie aus einem Mund.
„Damit Laura nicht einsam ist, wenn wir auf unsere große Reise gehen“, antwortete Mary.
Larry, Doff und Mary nickten, und Mary war erleichtert, dass nun zwischen den beiden Streithengsten wieder alles in Ordnung war, und ging nach Hause zu Laura.
Den Rest des Tages versuchte Mary, sich zu benehmen wie immer. Ihre Großmutter sah sie zwar hin und wieder nachdenklich an, doch sie stellte keine Fragen, und dafür war Mary ihr dankbar. Nach dem Abendessen, das sie gemeinsam zubereiteten, schlief Laura auf der Bank in der Küche ein und ging danach früh zu Bett.
Am nächsten Morgen verließ Mary sehr früh das Haus, während ihre Großmutter noch schlief. Zu ihrer Überraschung wurde sie bereits von Larry erwartet, der in einer Ecke des Gartens stand, die Emily nicht einsehen konnte. Ein Blick in sein Gesicht sagte Mary, dass etwas Aufregendes geschehen sein musste.
„Was ist?“, fragte sie neugierig.
Larry grinste nur. „Das musst du selbst sehen!“
Als Mary und Larry das Bootshaus betraten, glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können.
„Das alles war heute früh einfach da!“, strahlte Doff sie übermütig an.
Mary musste so heftig lachen, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Doff hockte auf dem Boden neben einer Kiste, auf der sein Name stand. Er hatte sich eine sehr große Sonnenbrille aufgesetzt, eine grüne Schirmmütze über die roten, abstehenden Haare gestülpt und sah durch ein Fernglas. Um ihn herum verstreut lagen eine dicke Windjacke, warme Hosen und andere für eine Reise ins Gebirge geeignete Kleidungsstücke sowie ein Rucksack. Zwei Kisten waren noch ungeöffnet.
„Eine für dich“, grinste Doff, „und eine für Larry.“
„Von Troy?“, fragte Mary überglücklich, weil sie sich schon den Kopf darüber zerbrochen hatte, was sie für eine Reise nach Pakistan einpacken sollte.
„Na, im Versandhaus haben wir das nicht bestellt!“, rief Doff selig. Sogar Larry schien sich riesig zu freuen.
„Weihnachten zu Ostern!“, rief Doff und winkte mit einer langen Unterhose.
Als Mary die für sie bestimmte Kiste öffnete, lag obenauf ein Reiseführer von Pakistan. „Genau so einen hab ich mir gewünscht“, sagte sie.
Wie Mary packte nun auch Larry ihre Kiste aus. Da kamen eine Daunenjacke, Socken, lange Hosen, warme Unterwäsche und Pullover zum Vorschein. Sie fanden außerdem Wasserflaschen, einen Rucksack, einen Kompass und für jeden einen warmen Schlafsack und einen Notfallbeutel mit Taschenlampe, Kerzen, Streichhölzern und Verbandszeug in den Kisten.
Bisher war ihre Reise nur eine Vision gewesen und ihr Abenteuer nur eine Möglichkeit. Nun, da aus der Vision Realität wurde, waren sie überwältigt. Schweigend packten sie ihre Rucksäcke. Sie waren kaum fertig, als Troy durch die offen stehende Tür trat und sich zu ihnen auf den Boden hockte, als würden sie einander schon lange kennen.
„Ich bin Troy“, sagte er und gab Doff und Larry die Hand.
Beide bedankten sich für die vielen Sachen. Troy lächelte nur und winkte ab. Seine Bescheidenheit und sein ungezwungenes Benehmen eroberten Doffs Herz sofort und Larry fand Troy zu seiner eigenen Überraschung ebenfalls sehr sympathisch. Troy breitete eine Weltkarte vor ihnen auf dem Boden aus und tippte mit seinem Zeigefinger auf so geheimnisvolle Länder wie China, Indien, Afghanistan, den Iran und schließlich auf Pakistan.
„Und wann geht es los?“, fragte Doff beeindruckt. Er konnte es gar nicht erwarten, Master Ruppy und seinen Särgen zu entkommen.
„Wir brechen bei Vollmond auf“, sagte Troy lächelnd.
Larry, der die Gezeiten gut kannte, schnappte nach Luft. „Das ist ja heute!“, rief er.
„Genau“, bestätigte Troy ruhig und sah Mary an, die seinen Blick erwiderte, ohne zu erröten, was sie unendlich erleichterte.
„Cool!“, murmelte Doff, und wurde sich dann bewusst, dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit blieb, um sich mit einem ausreichend großen Vorrat an Süßigkeiten einzudecken. Doch plötzlich sprang er überraschend flink auf, warf seine Schirmkappe hoch in die Luft und hüpfte selbst auf und ab, während er triumphierend rief: „Hurra! Wir fliegen nach Pakistan!“
„Genau gesagt nach Islamabad“, lächelte Troy. „Heute Abend.“
Ab jetzt ging alles rasend schnell. Gegen Mittag holte Mary Murphy, begleitet von Larry und Doff, aus dem Tierheim. Abgesehen davon, dass sein Schwanz den Knick behalten würde, war aus dem jämmerlichen, schwarzen Fellbündel, das sie ins Tierheim gebracht hatte, ein prächtiger Kater geworden. Laura, deren Katze vor zwei Jahren selig eingeschlafen war, würde sich freuen.
„Ja, wen bringst du denn da?“, rief sie, als Mary ihr den laut schnurrenden Murphy auf den Schoß setzte. Mary schluckte und holte tief Luft, aber Laura unterbrach sie. „Du willst mich nicht allein lassen. Habe ich recht?“
Mary nickte bedrückt.
Sie hatten Futter und ein Katzenklo besorgt, das im Badezimmer Platz fand, obwohl Murphy es wohl kaum brauchen würde, weil er ein Freigänger war, wie Mary im Tierheim versichert worden war. Sie wollte ihrer Großmutter mit ihrem Geschenk so wenig Arbeit wie möglich machen. Murphy fühlte sich sofort zu Hause. Nachdem er gefüttert worden war, rollte er sich in der Küche auf der Bank neben dem Ofen zusammen und schloss zufrieden die Augen.
Laura, die wusste, dass sie Mary nicht aufhalten konnte, und die das auch gar nicht wollte, machte ihrer Enkelin den Abschied leicht. Nachdem sie Mary lang an sich gedrückt gehalten hatte, küsste sie sie zärtlich auf den Kopf und murmelte dabei etwas in der alten Sprache. Danach zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Murphy sprang von der Ofenbank herab. Jämmerlich miauend, schaute er so lange auf die geschlossene Tür, bis sie sich einen Spaltbreit öffnete. Er schlüpfte durch den Spalt und dann schloss sich die Tür hinter ihm.
Im Bootshaus traf Mary sich mit Troy, Larry und Doff. Als sie mit ihren Rucksäcken in den Abendbus nach Exeter stiegen, ging gerade der Vollmond auf und übergoss Lysardh Fount mit seinem Zauber. In Exeter nahmen sie den Bus nach London. Kurz vor Mitternacht kamen sie in Heathrow an. Troy, der für alles gesorgt hatte, übergab ihnen ihre Tickets, die Pässe und Wechselgeld, half ihnen beim Einchecken – er war ständig an ihrer Seite. Schweigend warteten sie in der Halle, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Immer wieder zählte Doff seine vier Nylonsäcke, die mit Süßigkeiten gefüllt waren. Mary, Larry und Troy trugen kleine Täsch-chen, die sie um die Hüften geschnallt hatten, was wirklich cool aussah, wie Doff neidisch feststellte. Jetzt ärgerte er sich darüber, dass er seine eigene Hüfttasche im Rucksack vergraben hatte. In der Maschine nahmen sie ihre Plätze ein. Mary hatte den Platz am Fenster, neben ihr saß Troy, dann kam Larry und Doff saß am Gang.
„Es ist so weit“, sagte Larry erstaunlich ruhig, als ihr Flugzeug auf die Startbahn rollte; wie Mary und Doff flog auch er zum ersten Mal.
Unter ihnen wurde das Lichtermeer von London kleiner und kleiner. Mary sah auf die langsam entschwindende Stadt, über der ein riesiger, voller Mond hing. Sie war aufgeregt und wehmütig zugleich. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie unterwegs sein würden und ob sie ihre Großmutter jemals wiedersehen würde. Troy nahm kurz ihre Hand und drückte sie beruhigend, und als Mary in seine klaren, grünen Augen sah, verlor sich ihre Angst. Zeit, verstand sie plötzlich, war wirklich etwas Relatives. Mary war jedoch zu müde, um darüber nachzudenken, und schloss die Augen. Noch konnte sie es kaum glauben, aber ihr großes Abenteuer hatte tatsächlich schon begonnen!
Einige Zeit später wurde Mary von merkwürdigen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Sie rieb sich die Augen und sah sich um. Scheinbar gab es leichte Turbulenzen, denn das Flugzeug schwankte ein wenig hin und her. Sofort gingen die roten Signallleuchten an, die die Passagiere dazu aufforderten, Platz zu nehmen, sich anzuschnallen und ihren Sitz in die aufrechte Position zu bringen. Ohne sich Gedanken zu machen, folgte Mary dieser Anweisung. Sie schaute zu Troy hinüber und stellte fest, dass er aus dem Fenster in die Dunkelheit sah, als ob er etwas suchen würde.
„Beunruhigt dich etwas?“, wollte sie wissen.
Troy antwortet zuerst nicht. Er schien zu konzentriert zu sein ... nach einigen Sekunden reagierte er auf Marys Frage: „Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen!“
Kaum hatte Troy den Satz zu Ende gesprochen, begann das Flugzeug heftig zu wackeln und von draußen war ein Rauschen zu hören, das immer lauter wurde. Einige Passagiere wurden unruhig und Doff und Larry wirkten inzwischen sichtlich nervös.
„Oh mein Gott, wir werden abstürzen! Ich bin zu jung, um zu sterben“, rief Doff. Er griff nach Larrys Hand und zog seinen Gurt noch ein wenig enger.
„Reiß dich zusammen!“, fuhr Larry ihn an und zog seine Hand weg. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber auch er hatte Angst.
Mary sah aus dem Fenster und erschrak: War da draußen etwas? Hatte sie da nicht gerade dunkle Schatten an der Außenseite des Flugzeuges gesehen? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass es kein Unwetter war, was diese Turbulenzen verursachte. Troy sah ernst vor sich hin, und Mary wusste, dass sie recht hatte.
„Was ist da los?“, erkundigte sie sich leise bei Troy.
„Wo Licht ist, da ist auch Schatten ... Es sind Schattenwesen, sie folgen uns. Du musst wissen, dass es auch Mächte gibt zwischen Himmel und Erde, die unser Vorhaben verhindern wollen. Keine Sorge, sie können uns im Augenblick nichts anhaben!“ Troy lächelte Mary an, um sie zu beruhigen.
Mary richtete ihren Blick wieder in die Dunkelheit; sie versuchte, mehr zu erkennen. Ihr war so, als wären da draußen große schwarze Körper mit Flügeln unterwegs. Sie musste an Fledermäuse denken, doch das, was sie zu erkennen glaubte, war größer. Zum ersten Mal wurde Mary wirklich bewusst, dass auf dieser Reise auch Gefahren lauern würden. Es gab Mächte, die sie an der Erfüllung ihrer Aufgabe hindern wollten. Doch erstaunlicherweise spürte sie keine Angst: Sie würde sich allem stellen und außerdem hatte sie Troy an ihrer Seite und natürlich auch Larry und Doff. Kurz darauf wurde es wieder ruhiger, die Turbulenzen hatten nachgelassen und das Flugzeug nahm weiter Kurs auf Pakistan. Die dunklen Wesen waren verschwunden und der Nachthimmel war wieder ganz klar. Mary lehnte sich in ihren Sitz zurück und ließ sich von den Sternen ihren Weg in den Schlaf leuchten.
In der Fremde
Einige Stunden später landeten sie in Islamabad. Mary hatte im Anflug auf Pakistans Hauptstadt einen Blick auf das fruchtbare Industal und die ersten Ausläufer des Himalaja-Gebirges werfen können. „Dort liegt das Dach der Welt“, hatte sie ehrfürchtig gedacht, wobei sie sich winzig vorkam.
Mary und Doff konnten es nicht fassen, dass sie sich plötzlich in einem fremden Land befanden, und Larry schien vollends weggetreten zu sein. In der Ankunftshalle summte es wie in einem Bienenstock. Die drei folgten Troy, um den es stets eine kleine Insel der Ruhe zu geben schien, wie in Trance durch das Gerangel und Gedränge zur Gepäckausgabe und sammelten dort rasch ihre Rucksäcke ein. Danach passierten sie ohne Probleme die Passund Zollkontrolle und verließen erleichtert den Flughafen. Doff schwenkte euphorisch seine Fahne in den Landesfarben, die er zu Hause selbst aus Segeltuch angefertigt hatte. Ein Zeichen der Verbundenheit mit dem Land und dessen Bevölkerung, das die nachdrängenden Menschen gutmütig zur Kenntnis nahmen, während sie das ungleiche Paar, den dünnen, langen Larry und den kleinen, dicken Doff bestaunten.
Sie nahmen ein Taxi, dessen Fahrer – ein kleiner, untersetzter Mann mit einem prächtigen schwarzen Bart – sofort einen Schwall unverständlicher Wörter auf sie losließ. Zu ihrer Überraschung unterhielt Troy sich mit ihm in der Landessprache, was Mary, Larry und Doff ein Gefühl der Sicherheit gab. Ein zäher Verkehrsstrom ergoss sich über ein weitläufiges Straßennetz. Sie fuhren an Grünflächen mit modernen Wohnhäusern und an einem See vorüber und tauchten in Straßenschluchten mit Wolkenkratzern und Bürogebäuden ein.
„Ist das zu fassen?!“, rief Doff enttäuscht. „Hier sieht es ja genauso aus wie in London!“
Larry schien plötzlich aus seiner Starre zu erwachen.
„Wo sind wir?“, fragte er dermaßen erstaunt, dass Mary hell auflachte.
Dann schien sich Larry, der beinah den ganzen Flug verschlafen hatte, zu erinnern. Plötzlich ganz der Alte, holte er tief Luft, und Mary, die Schlimmes ahnte, kicherte in sich hinein. Da ging es auch schon los: „Islamabad ist eine planmäßig angelegte Stadt am Nordrand des Potwar-Plateaus. Berühmt ist diese Stadt für ihre prächtigen Moscheen und Paläste und ihre vielen Gärten.“
Doff verdrehte die Augen, doch Larry war noch nicht fertig.
„Das Potwar-Plateau wird im Norden von den Bergketten des Himalaja begrenzt und im Westen von Indus.“
„Das reicht!“, maulte Doff, während Mary dachte, dass ein beinah fotografisches Gedächtnis nicht immer ein Segen sei. Und wie üblich, setzte Larry noch eins drauf: „Die Landessprache ist Pandschabi, das auch in Nordindien gesprochen wird.“
„Danke für den Unterricht, Larry“, schaltete Troy sich lachend ein. „Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass wir uns in Südasien befinden, im ehemaligen Gebiet West-Pakistan im Nordwesten des indischen Subkontinents. Außer an Indien im Osten und Südosten grenzt Pakistan im Nordosten an China, im Nordwes -ten an Afghanistan beziehungsweise den Iran und im Süden an das Arabische Meer.“
„Wo müssen wir hin?“, erkundigte sich Mary.
„In den Norden“, antwortete Troy. „Genauer gesagt in den westlichen Pandschab.“
„Nicht ins Industal?“, fragte Mary enttäuscht.
„Doch“, antwortete Troy. „Rawalpindi ist unser Ausgangspunkt.“
Mary dachte an einen wunderbar weichen Pullover ihrer Mutter und erkundigte sich: „Kommt da die Kaschmirwolle her?“
„Ja“, bestätigte Troy, „sie stammt von den berühmten Kaschmirziegen.“
Eine Weile schwiegen alle. Sie fuhren gerade durch eine belebte Geschäftsstraße, der Verkehr kam beinah zum Erliegen, und ein heftiges Hupkonzert setzte ein. Abgesehen von den vielen, für sie fremdländisch wirkenden Passanten, schien Islamabad eine moderne Großstadt wie jede andere zu sein. Vielleicht hupte man hier öfter, aber der Lärm und der Gestank waren der Gleiche. Außerdem war es sehr heiß.
„Wie hoch sind wir hier denn?“, erkundigte sich Larry bei Troy.
„Ungefähr fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel. Derzeit ist es hier noch relativ kühl. Am heißesten wird es im Juni.“
Doff, der an ihre Ausrüstung dachte, hatte andere Sorgen. „Wir müssen ins Gebirge?“, erkundigte er sich so zaghaft, dass Troy lachen musste.
„Beinahe die Hälfte dieses Landes besteht aus Gebirgen, Doff. Die andere Hälfte machen Wüsten aus, doch die liegen im Süden und da kommen wir nicht hin. Unser erstes Ziel ist das Hunzatal ganz oben im Norden. Dann werden wir weitersehen.“
„Wo liegt dieses Tal denn?“, fragte Mary.
Troy gab bereitwillig Auskunft: „Im Karakorum sowie im Nordwesten des Himalaja.“
„Wow!“, rief Larry, der seine Hausaufgaben gemacht hatte. „Da liegt doch der K2, hab ich recht? Das ist einer der höchsten Berge der Erde!“
Doff schnaubte so laut, dass Troy auflachte.
„Wir bleiben auf jedem Fall in Pakistan. Das Hunzatal ist übrigens sehr schön, sehr fruchtbar und grün. Außerdem kommen wir durch sehr alte und geheimnisvolle Wälder.“
„Gibt es da Trolle und Waldgeister?“, fragte Doff interessiert und ignorierte Larry, der ihn in die Seite boxte.
Troy sagte nur: „Ihr werdet vielem begegnen, was eure kühnsten Vorstellungen übertreffen wird.“
Mit seinen abstehenden roten Haaren und der geröteten Knollennase sah Doff selbst wie ein Troll aus. „Du weißt doch genau, wo wir hinmüssen, oder?“, erkundigte er sich besorgt, aber Troy antwortete nur: „Wir werden es wissen, wenn wir im Hunzatal sind.“
Mary versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was ihre Eltern ihr über die geheimnisvolle Kultur der Hindus in Indien erzählt hatten. Sie fragte Troy, der bestätigend nickte.
„Gleich morgen kommen wir an einer Ausgrabungsstelle vorüber. Der Ort, der Taxila heißt, war vor 1550 Jahren das letzte Zentrum der Induskultur. Die Menschen dieser Kultur meditierten schon vor 5500 Jahren im Yoga-Sitz. Sie waren geistige Krieger und besaßen ein großes spirituelles Wissen. Wenn sie an einen bestimmten Ort wollten, dachten sie an ihn und schon waren sie dort. Dann schloss sich das Dritte Auge der Menschen und seither können sie nur noch das sehen, was sich unmittelbar vor ihnen befindet.“
„Warst du damals schon da?“, fragte Doff treuherzig, was ihm einen neuen Rippenstoß von Larry eintrug.
Troy schwieg, doch Doff ließ nicht locker. Er fragte allen Ernstes, ob sie zu Fuß gehen würden. Diesmal verdrehte Larry die Augen, aber Troy erklärte geduldig, dass sie einen Wagen mieten würden, mit dem sie den größten Teil der Strecke zurücklegen könnten. „Den einen oder anderen Muskelkater wirst du schon in Kauf nehmen müssen, Doff.“
Er versicherte ihnen, sie würden genügend Zeit haben, sich auf die Bedingungen im Gebirge einzustellen, und damit war die Fragestunde beendet. Troy hob die Hand und ihr Taxi blieb stehen.
„Endstation“, sagte er, öffnete die Tür und half Mary beim Aussteigen.
Während Troy den Fahrer bezahlte, sahen sich die drei überrascht um. Die lange Fahrtzeit war so rasch vergangen, und es war ihnen gar nicht aufgefallen, dass sie sich bereits in einem völlig anderen Stadtteil von Islamabad befanden.
„Seht nur, ein Markt!“, rief Mary.
Larry und Doff erhaschten nur einen kurzen Blick auf das bunte Gewimmel am Ende einer kleinen und engen Straße, die sich zu einem weiten Platz öffnete.
„Den besuchen wir später“, sagte Troy und schob sie zu einem kleinen Gebäude, dessen Fensterläden zur Straße hin geschlossen waren.
„Eine Jugendherberge“, sagte Larry und deutete auf die mehrsprachige Tafel neben der Eingangstür.
„Ist dir das exotisch genug?“, blinzelte Mary Doff zu, nachdem sie die Eingangshalle betreten hatten.
„Das ist Zedernholz“, flüstere Larry, der die Läden bewunderte, in die Formen geschnitzt waren, durch die das Tageslicht fiel und so Rauten und Sterne auf Wände und Boden zauberte.
Troy unterhielt sich an der Rezeption mit einem hageren, bärtigen Mann, der einen blauen Turban trug. Er sah aus wie ein Inder, hatte aber eine Hakennase.
„Ich glaube, er ist ein Sufi“, flüsterte Larry Doff zu, der ihn fragte, was das sei. „Ein arabischer Mystiker“, erklärte Larry leise, als der wache Blick des Mannes auf sie fiel. Er wirkte zwar freundlich, allerdings auch sehr bestimmt, und Larry verstummte.
Troy brachte sie in den ersten Stock und wies ihnen ihre Zimmer zu. Mary und er selbst hatten je eines für sich, Larry und Doff schliefen in einem Raum. Zu ihrer Erleichterung sahen sie, dass die Fenster ihrer Zimmer auf einen kleinen, schattigen Innenhof hinausgingen. In den kleinen Räumen, in denen es nur Holzbetten, einen Tisch, zwei Sessel und ein Waschbecken gab, war es angenehm kühl.
„Ihr seid bestimmt hungrig“, sagte Troy. „Ruht euch eine Stunde aus und dann essen wir einen Happen und gehen anschließend auf den Markt.“
Damit waren alle einverstanden, besonders Doff, dem schon jetzt der Magen knurrte, aber sie waren auch sehr erschöpft und so versanken die drei Freunde schon bald in einen kurzen Schlaf, der jedem einen Traum schenkte.
Mary träumte von ihren Eltern. Sie waren lebendig und wieder doch nicht und sahen genauso aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Hand in Hand kamen sie auf Mary zu, die auf einer Waldlichtung stand. Es war kein gewöhnlicher Wald, denn jeder dieser Bäume hatte ein Gesicht, das ihr zulächelte. Eine leichte Brise ließ ihre Zweige tanzen, wodurch ihr die Blätter zuwinkten. Marys Mutter lächelte. In der Hand hielt sie ein Kästchen, das sie Mary reichte.
„Darin befindet sich ein Schlüssel“, hörte sie ihren Vater sagen.
„Du darfst ihn erst verwenden, wenn du weißt, wofür der Schüssel ist“, sagte ihre Mutter und strich Mary zärtlich übers Haar.
Dann verschwanden ihre Eltern und der Wald war ebenfalls nicht mehr zu sehen. Mary blieb allein mit dem Kästchen zurück, das sie an ihr Herz drückte, worin sie es in Gedanken verwahrte.
Auch Larry träumte von einem Wald, in dem er etwas suchte, es jedoch nicht fand. Er kam an großen, mit Moos bewachsenen Steinen vorüber, die ihm etwas in einer Sprache sagen wollten, die er nicht verstand. Einmal glaubte er, in einem Schatten seine Mutter zu erkennen. Sie öffnete den Mund und rief etwas, aber ein starker Wind verwehte ihre Worte. Larry war sich nicht sicher, ob seine Mutter lachte oder weinte. Er hatte das Bedürfnis, sie zu trösten.
Hinter ihm raschelte es. Aus einem Dornbusch trat ein sehr alter Mann mit einem sehr langen, weißen Bart, der ihm zuwinkte und ihm bedeutete, ihm zu folgen. Larry gehorchte und fand sich in einer Höhle wieder, in der große Kristalle von der Decke herabwuchsen. Der Alte hockte sich auf den Boden.
„Du bist jetzt mein Schüler“, sagte er und Larry setzte sich zu ihm und lauschte seinen weisen Worten.