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„Go, go. Come on. Go away.“ Erneut hörte ich den Farmarbeiter rufen. Ich schaute zu ihm, um zu sehen, wenn er meinte. Er meinte nicht die drei Männer. Diese waren über alle Berge verschwunden. Ich entdeckte einen kleinen Jungen, der sich uns vorsichtig von der Seite näherte. Schüchtern zeigte er auf unsere Taschen. Seine Hose war an einem Bein komplett zerrissen, sein T-Shirt mindestens zwei Größen zu groß. Seine Füße waren vom hellen Staub ganz weiß gefärbt. Verzweifelt schaute er jeden von uns in die Augen und formte seine Lippen zu Wörtern.
„Go, go“, schrie der Farmarbeiter und warf einen kleinen Stein in seine Richtung. Der Junge wich reaktionsschnell aus. Ich merkte, wie er auf meine Cola-Dose schaute. Diese hatte ich in meiner Hand fast ganz vergessen. Sie war noch halb voll.
„Leute, ich glaube, der Junge hat Durst und möchte was trinken. Was soll ich machen?“ Hin und hergerissen schaute ich die Gesichter der anderen. Das Betteln des Jungen konnte ich nicht einfach ignorieren. Er musste ungefähr so alt sein wie mein Bruder.
„Musst du wissen“, sagte Jessica. „Wenn du möchtest, dann gib ihm was. Pass aber auf, dass das kein anderer mitbekommt. Dann wollen alle was haben.“ Ich schaute zum Jungen. Er machte eine trinkende Geste und zeigte dabei auf meine Flasche. Ich überlegte. Jessi hatte recht. Wenn die anderen Menschen mitbekommen würden, wie ich dem Jungen etwas abgab, dann sollte uns der Bus besser jetzt als gleich einsammeln. Mein Blick fiel auf einen Busch, der links von mir gute drei Meter entfernt war und mit ein paar Ästen zusammen wahrscheinlich so etwas wie ein Beet darstellen sollte. Ohne weiter unnötig nachzudenken, ging ich langsam Richtung Beet und machte beim Gehen mit der Cola ein paar Trinkbewegungen. Jeder, der mich jetzt beobachtete, sollte denken, dass ich gerade meine Flasche leer trank und wegschmeißen wollte. Langsam und vorsichtig, um nichts umzustoßen, stellte ich die halb volle Cola auf den Boden ab und ging wieder zurück zu den anderen. Sie hatten mir die ganze Zeit nachgeschaut. Ich setzte mich zu ihnen auf den Boden und machte eine leichte Kopfbewegung nach links zum Jungen. Er schaute mich abwartend an. Ich deutete auf die Dose und nickte. Er verstand und lächelte. Mit schnellen Schritten lief er zum Beet und hob die Cola vom Boden auf. Gierig trank er ein paar Schlucke und schaute sich dabei um. Keiner hatte ihn beim Trinken bemerkt. Er nickte mir zu und lief eilig davon. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Ich schaute ihm noch eine Weile nachdenklich nach.
„Hast du gut gemacht, Zilas.“ Jessi klopfte mir auf die Schulter. „Hast dem Kleinen eine Freude gemacht. Sehr gut.“
„Ich hoffe.“ Ich lächelte ihr zu. „Ich hoffe …“

„1080 Eier. 1080. Ernsthaft?“ Kopfschüttelnd zählte Jessi die Pakete noch mal nach, die im Bus zwischen den Sitzreihen auf dem Boden standen und den Durchgang versperrten. „Rechnet mal bitte mit, Freunde. Ich glaub das einfach nicht.“ Ich lehnte mich in den Gang, um besser zählen zu können.
„Wir haben sechs Pakete. Jedes Paket hat sechs Paletten. Jede Platte hat eins, zwei, drei … jede Platte hat fünfundzwanzig, ne, Quatsch, sind sechs Reihen, dreißig Eier. 30 Eier mal 6 Paletten mal 6 Pakete sind?“
„1080“, sagte ich. „180 mal 6. 100 mal sechs ist 600. 80 mal 6 sind 480. 600 plus 480 macht 1080.“ Ich lachte.
„Ja, 1080 ist richtig.“ Marlene kam mit anderer Formel und Rechnung auf das gleiche Ergebnis. Jessi schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Sagt mir bitte nicht, dass ich mir wegen 1080 Eiern zwei Stunden lang in der Hitze einen weggeschwitzt habe in der Hose? Bitte nicht.“ Ich hätte ihr gerne etwas anderes gesagt. Doch es war wahr. Wir hatten zwei Stunden auf dem Parkplatz gewartet. Wegen 1080 Eiern. Es macht einfach keinen Sinn. Als ich die ersten Eier-Kartons zum ersten Mal im Gang sah, schossen mir gleich mehrere Fragen durch den Kopf:
Warum 1080 Eier? Warum? Verstehen sie Spaß? Hier in Namibia? Quatsch. Wo soll denn bitte die versteckte Kamera sein? Könnte das da eine sein? Expect the unexpected. Als ob 1080 Eier wirklich für unexpected stehen? Niemals. Und wieso lacht McHänsi gerade so dreckig hinter mir? Hat er was damit zu tun? Wusste er davon? Heißt er jetzt eigentlich McHänsi oder McKäääänzie? Und warum kauft er bitte zwei große Gläser Erdnussbutter und kein Brot dazu? Silas, du schweifst ab ...
Ich schüttelte den Kopf. Auf all die vielen Fragen fand ich spontan keine Antworten, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mit großen Schritten vorsichtig über die Pakete zu steigen und mich auf meinen Platz zu schwingen. Die anderen taten es mir gleich und stolperten ebenfalls über die Pakete zu ihren Plätzen. So verrückt diese ganze Geschichte mit den Eiern auch war, irgendwie war es auch witzig. Ich schaute von meinem Platz zurück zu Jessi. Seufzend ließ sie sich in ihren Sitz fallen und blickte erschöpft aus dem Fenster. Mit ein bisschen Abstand und einer kurzen Hose würde hoffentlich auch sie bald über die Zahl 1080 lachen können …

BRUTUS, JACOBI UND GUMBI
(CHAPTER SIX)
Der Staub rieselte von der Decke und wirbelte durch den ganzen Bus. Steine schlugen mit lautem Knall von draußen gegen die Fenster und hinterließen große Macken in der Scheibe. Der Sitz vor mir bebte und zitterte. Nur die Bodenhalterung mit den drei Schrauben verhinderte, dass er mit uns durch die Luft flog. Vor gut zehn Minuten hatten wir die ruhige asphaltierte Straße verlassen und waren auf einen Schotterweg eingebogen. Über Schlaglöcher und faustgroße Steine bretterten wir jetzt mit guten siebzig Sachen hinweg. Immer wieder wechselte unser Fahrer die Spur und fuhr zeitweise nach europäischer Straßenverkehrsordnung auf der rechten Fahrbahn. Gegenverkehr gab es nicht und wenn doch, dann konnte man ihn in der Ferne schon Minuten vorher erkennen. Beziehungsweise eine näherkommende graue Staubwolke, der man dann rechtzeitig ausweichen konnte. Ich drehte mich um in die letzte Reihe. Unser Anhänger war noch da. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet. Mit seiner nicht vorhandenen Federung hüpfte er die ganze Zeit auf der steinigen Offroad-Straße hinter dem Bus her. Sonderlich glücklich hörte sich seine Radachse dabei nicht an.
Rums. Ein Eierkarton war vorne gegen die Fahrerkabine gerauscht. Ein weiterer machte sich gerade von Jessis Sitzreihe auf dem Weg, es ihm gleichzutun. Ich klammerte mich an den Haltegriff vor mir und hielt mit den Beinen meine Tasche fest. Wo war eigentlich meine Jacke? Ich suchte den ganzen Boden ab, bis ich sie schließlich fand. Sie war auf dem Weg nach vorne einem Eierkarton in die Quere gekommen und bildete dort so etwas wie einen Staudamm. Ganz verstaubt und verdreckt sah sie aus. Es graute mir schon vorm Saubermachen.
Ein lauter Knall, gefolgt von McKenzies Lachen, ertönte und schreckte uns alle auf.
„Oh fuck“, sagte er lachend. „I think we gonna die, haha.“
„Ob wir die Fahrt überleben, weiß ich nicht, aber die Eier werden es auf jeden Fall nicht schaffen, wenn das hier so lange noch so weitergeht.“ Die 1080 Eier hatten sich gerade von meiner Jacke verabschiedet und rauschten gegen einen weiteren Karton.
„Jetzt weiß ich auch, warum er so viele Eier gekauft hat.“ Jessi schaute mich fragend an. Die Sache mit den Eiern hatte ihr echt den Stecker gezogen.
„Ja, weil nur zehn Prozent heil auf der Farm ankommen.“
„Das stimmt.“ Sie lachte. „Wenn überhaupt.“
„Dann gibt es heute Abend halt Rührei“, sagte Marlene freudig. „Gibt Schlechteres.“
Salz und Pfeffer hätten wir ganz sicher nicht mehr gebraucht. Der Staub wirbelte nur so durch die Luft. Ich hustete und trank danach ein wenig Wasser aus meiner Flasche. Meine Kehle war durch die staubige Luft ganz trocken geworden.
„Meint ihr, wir brauchen noch lange?“, fragte Marlene und schaute auf ihre Uhr.
„Keine Ahnung. Wie spät ist es eigentlich?“ Ich hatte gar kein Zeitgefühl mehr.
„Du hast doch selber eine Uhr …“
„Oh stimmt ja.“ Um meinen Orientierungssinn schien es durch das ganze Gerüttel auch nicht mehr so gut zu stehen. „Was, halb sechs?“ Ungläubig starrte ich auf meinen Arm. „Marlene, weißt du noch, wie ich am Morgen gehofft hatte, dass wir zum Mittagessen pünktlich auf der Farm ankommen?“ Sie lachte und nickte mit dem Kopf.
„Könnte knapp werden mit dem Essen, wenn du mich fragst.“ Ich gab ihr recht. Von nun an ging es nur noch darum, wenigstens zum Abendessen pünktlich anzukommen. Die Käsebrötchen waren bei den ganzen Schlaglöchern längst verdaut, sodass ich einer richtigen Mahlzeit mehr als offen gegenüberstand. Den anderen ging es nicht anders. Nur bei McKenzie war ich mir nicht ganz sicher. Manchmal lachte er plötzlich und murmelte in der Folge irgendwelche Sätze vor sich hin. Fünf Minuten später war er wieder am Schlafen oder machte irgendwelche Dehnbewegungen für seinen Nacken und Rücken. So richtig wurde ich aus seinem Verhalten nicht schlau.
Wir passierten ein großes Tor auf der linken Seite und fuhren weiter durch den Busch. Begleitet wurden wir von einem Zaun, der mich an die Serie erinnerte, die ich vor Jahren im Fernsehen gesehen hatte. Aufmerksam versuchte ich, Tiere zu erkennen, die sich vielleicht dahinter im Gebüsch versteckten. Ich war mir nicht sicher, aber manchmal schien ich mir einzubilden, etwas im Busch gesehen zu haben. Jessi, Marlene und McKenzie taten es mir gleich und scannten mit ihren Augen die Landschaft hinter dem Zaun.
„Hä?“ McKenzie drehte sich überrascht zu Jessi. Jessi musste mehrmals schnipsen, bis er reagierte. Er war wieder am Träumen gewesen.
„What do you think? When will we arrive?“
„Well, I think …“, überlegte er. „Maybe twenty minutes. I guess.“ Wir erreichten ein weiteres Gatter. Auf ihm stand auf einem Schild geschrieben: „10 Kilometers.“ McKenzie lag mit seiner Vermutung gar nicht mal so falsch. Zwanzig Minuten konnte bei dem Tempo gut hinkommen. Wir fuhren mit vielleicht zwanzig Stundenkilometer zwischen den beiden Zäunen her. Die Straße war an einigen Stellen nicht allzu breit. Aufgeregt zählte ich die Minuten runter und versuchte mich an die Folge zu erinnern, in der Volontäre mit einem etwas kleineren, robusteren Bus die Farm erreichten und von den anderen empfangen wurden. Ich meinte, dass in der Folge ein grünes Haus vorkam.
„Leute, ich glaube, wir sind da“, sagte Marlene plötzlich. „Guckt mal: Da steht so ein grünes Haus. Da zwischen den Bäumen.“
„Wo?“ Gespannt schaute ich aus dem Fenster. Leider verdeckte gerade ein Dornenbusch die Sicht. „Ich sehe nichts.“
„Ich auch nicht.“
„Ja, wartet. Gleich müsstet ihr es sehen. Da …“ Jetzt sah ich es auch. Ohne Brille konnte man das gut getarnte Haus gar nicht erkennen. Kein Wunder, dass Marlene im Vorteil war und es zuerst sah. Umringt von Büschen stand es direkt unter einem großen Baum, dessen Äste fast bis zum Boden hingen. Es sah wirklich genauso aus wie in der Serie. Wir parkten wenige Meter vom Gebäude entfernt. Erst von Nahem fiel mir auf, dass das Gebäude keine Türen und Fenster hatte. „Hey Rico.“ McKenzie schien es nicht großartig zu interessieren, dass das Haus keine Fenster hatte. Wie aus dem Nichts sprang er plötzlich von seinem Platz auf und hämmerte seine Faust gegen die Fensterscheibe. Es fehlten nur Millimeter und er wäre volle Kanne gegen die niedrige Decke des Busses gedonnert.
„Hey Rico. Rico. What´s up, määäään? Hey Rico, haha.“ Euphorisch griff er im Stehen nach seinem Rucksack und sprang wie ein energiegeladener Flummi über die 1080 Eier. „Yeah. Rico haha.“
Er hörte gar nicht mehr auf mit seinen Rico-Rufen. Vielleicht war er bei einem großen Schlagloch doch gegen die Decke gekommen. Wir stiegen über die Eier-Kartons und folgten ihm nach draußen.
„Silas, schau, der Strauß dahinten.“ Jessi hatte zuerst herausgefunden, wen McKenzie so überschwänglich begrüßte. Sie zeigte auf einen Strauß, der gerade über die Wiese an zwei grasenden Gnus vorbei sprintete.
„Hey Rico. Why are you running? Stop it!“ Bei McKenzies Rufen hätte ich wahrscheinlich auch die Flucht ergriffen. Neugierig schaute ich mich in der Gegend um. Bis auf den panisch, flüchtenden Strauß hatte sie noch viel mehr zu bieten. Vom grünen Gebäude aus hatte man einen super Blick auf eine Wasserstelle, die gute zweihundert Meter von uns entfernt in der grünen Graslandschaft lag. An ihr versammelten sich gerade mehre Antilopen und Springböcke, die vom Lärm irritiert in unsere Richtung starrten. Mein Blick fiel auf einen Pool, der mir beim Aussteigen noch gar nicht aufgefallen war. Auf seiner Wasseroberfläche schwammen mehrere tote Motten, wenn sie nicht im Kies neben dem Pool lagen. Um den Pool standen mehrere Holzliegen bereit, wobei eine ziemlich kaputt und ramponiert aussah.
„Ich weiß schon, wo ich meine Freizeit in den nächsten vier Wochen verbringen werde.“
„Ich weiß es auch“, grinste Marlene.
„Wir brauchen nur so was wie einen Kescher. Ich sehe das Wasser vor lauter Motten nicht.“ Glücklicherweise lag direkt neben den Treppenstufen einer.
„Hey, guckt mal, Leute, da kommen zwei auf uns zu.“ Jessi hatte ein Mädchen und ein Junge entdeckt, die hinter einem Dornenbusch aufgetaucht waren. Auf einem schmalen Weg, der vorbei am Dornenbusch mitten aus dem Busch zum Gebäude führte, liefen sie in unsere Richtung. Sie lächelten von Weitem.
„Hey, guys, nice to meet you. My name is Anna and that is Joschka.“
„Hi.“
„Can we help you with your baggage?“ Anna hatte blonde lange Haare und erinnerte mich vom Aussehen ein wenig an meine Schwester. Sie hatte einen richtigen Lockenkopf. Joschkas Haare waren dagegen ein wenig kürzer als ihre. Um einiges kürzer. Ich überlegte, ob mir sein Maschinenkurzhaarschnitt auch stehen würde, ließ den Gedanken jedoch schnell fallen, auch wenn kurz geschorene Haare bei den Temperaturen in Namibia sicherlich keine allzu schlechte Idee waren. Beide kamen wie ich aus Deutschland. Dankend nahmen wir ihre Hilfe an. Bei unseren ganzen Koffern, Taschen und Jacken konnten wir gut Hilfe beim Tragen gebrauchen. Vor allem McKenzie brauchte bei seinem XXL-Koffer Hilfe, den er kaum durch den ganzen Sand geschoben bekam. Voll bepackt folgten wir Anna und Joschka ins Gebäude. Im Inneren standen überall Holzbänke und Tische mit Soßen und Gewürzflaschen bereit.
„Hier essen wir immer zu Mittag und verbringen unsere Pausen. Wir haben hier sogar einen Kiosk, wo ihr Kaltgetränke und Chips kaufen könnt“, sagt Anna und deutete auf einen Tresen, hinter dem ein Kühlschrank mit Cola- und Fanta-Dosen stand.
„Is Hermän still the barkeepär?“, fragte McKenzie neugierig.
„Yes, haha“, lachte Joschka. „Why do you know him?“
„Well, it is my fourth time here. Last year I always ordered juice by him. What is with crazy Ädlin? Is he still coordinator on the farm?“
„Whaat, your fourth time?“ Joschka schaute ihn mit großen Augen an. „Sick. Yes he is …“ McKenzie grinste zufrieden. Wir setzten uns auf eine Bank, die direkt am Eingang stand. Von da aus ließ ich meinen Blick im Raum umherschweifen. Der Boden war mit Kieselsteinen bedeckt, während an den Wänden Bilder von ehemaligen Volontären hingen, die gemeinsam mit Affen auf den Schultern in die Kamera lachten. Oben an der Decke sah man mehrere Handabdrücke, die in den unterschiedlichsten Farben und Größen zu uns runterwinkten.
„Wie viele Volontäre sind momentan hier auf der Farm?“, fragte Jessi beim Anblick der Bilder.
Anna schaute Joschka fragend an, der bereits am Zählen war.
„Was meinst du? Wie viele sind wir momentan? Zwanzig, oder?“
„Kommt ungefähr hin. Neunzehn, zwanzig müssten wir etwa sein.“
„Und wo sind die alle?“, fragte Marlene. Bis auf Rico waren Anna und Joschka die einzigen Zweibeiner, die wir bisher gesehen hatten.
„Die sind auf der Farm und warten schon gespannt auf euch“, sagte Anna. „Ihr werdet sie beim Abendessen gleich alle kennenlernen.“ Abendessen klang gut, dachte ich mir und zwinkerte Marlene zu. „Wir warten jetzt hier noch auf Dossie. Dossie ist Headcoordinator auf der Farm und verantwortlich für alle Volontäre.“ McKenzies Augen fingen an zu leuchten.
„You know Dossie, right?“ McKenzie nickte.
„Ihr werdet sie auch mögen“, versprach uns Anna. „Genau, was ich euch noch sagen wollte. Dossie wird es euch wahrscheinlich gleich auch noch ans Herz legen. Die meisten Volontäre sprechen deutsch, jedoch gibt es auch ein paar, die kein Deutsch verstehen. Deswegen unterhaltet euch am besten auf Englisch, damit die anderen nicht ausgeschlossen werden.“ Sie schaute zu McKenzie. „I told them that we have to speak in English. Not all people understand German …“
„Oh, I know the rule, but in the last years the rule did not work very successful. The most people spoke German. I do not care.“ McKenzie zuckte lachend mit den Schultern. Wie sich in den nächsten Wochen herausstellte, mussten Anna und Dossie mehrmals die Englisch-Regeln vor allen wiederholen und uns ins Gewissen reden.
„Look, Dossie is coming.“ Wir schauten nach draußen zum Pool, an dem Dossie gerade vorbeiging. Mit einem großen Lächeln begrüßte sie uns wenig später herzlich in der Tür.
„Hey guys, nice to meet you.“ Sie reichte jeden von uns die Hand. „My name is Dossie and I am responsible for all volunteers with my team. Hopefully you had a good trip?“ Sie setzte sich neben Anna und Joschka auf die Bank und legte eine Mappe auf den Tisch. Dossie hatte eine etwas stämmigere Figur. Sie trug eine Kappe, unter der ein Pferdeschwanz zum Vorschein kam. Wie Anna hatte sie naturblondes Haar. An ihrem Hals trug sie ein kleines Tattoo, das wie ein Herzschlag aussah. Zumindest interpretierte ich die Linie hinter dem Herzen so. Auch Anna war tätowiert. An ihrem Unterarm stand „Hakuna Matata.“ Passte zu ihrer Person. Irgendwie bekam ich jetzt auch Lust auf ein Tattoo. Eines, das mich vielleicht an die Reise erinnern würde. Die Zahlen 800 und 1080 kamen mir gleich in den Sinn. Naja, die Auswahl war noch nicht so überzeugend. Vielleicht würde sich in den nächsten Wochen noch bessere Motive ergeben.
„Yes, thank you Dossie“, sagte Marlene.
„Nice to hear.“ Dossie lächelte. „McKenzie nice to see you. How are you, my friend?“
„Hi Dossie. I am good. Thänks.“
„Nice that you are here guys. There is a lot of work on the farm, and we really appreciate your help.“ Anna und Joschka nickten. Ihren dreckigen Beinen und Armen zufolge hatten sie heute schon ordentlich angepackt.
„Did Anna and Joschka already tell you something about the rules and the AM-Tour?“
„The English rule?“
„Exactly.“
„They did, but not about the AM-Tour.“
„Alright. You must know that we have people from all over the world here. People from France, New Zeeland, Norway, Germany, Switzerland and Namibia. I really thank you when you respect it. Speak English. That’s the language everyone understands.“ Wir nickten brav, wobei wir uns keine Illusionen über unsere mangelnden Sprachkenntnisse machten.
„Tomorrow you will be part of the AM-Tour. Anna, did you tell them about the breakfast time?“
„No. Do you want?“
„You can do it.“
„Okay. McKenzie, I guess you know the times, right? McKenzie?“
„Hä?“ McKenzie war mit seiner Aufmerksamkeit schon wieder woanders. Er hatte Rico entdeckt, der gerade neugierig um unseren Bus schlich und nach Nahrung suchte. Wahrscheinlich hatte er den Geruch von Eiweiß aufgenommen. Ich schaute auf seine aufgepumpten, muskulösen Beine. Ein Tritt von ihm und ich hätte mein afrikanisches Tattoo.
„The times, yes. I can remember.“
„Perfect. Breakfast is always from seven to quarter to eight. After breakfast, all volunteers have a meeting with Dossie and her team. In the meeting we normally speak about the day, the upcoming work and yes …“ Sie überlegte, ob sie irgendwas vergessen hatte.
„… the AM-Tour tomorrow.“
„Ah yes, thanks, Dossie. As Dossie said before all of you will be part of the AM-Tour tomorrow. Please be at quarter to six at the farm. My advice: Wake up against five, then you have enough time to walk over.“ Fünf Uhr. Ich schaute zu Jessi, die wie ich mit Ausschlafen morgen gerechnet hatte. Zumindest sehnten wir uns jetzt schon danach, auch wenn wir noch keinen Tag gearbeitet hatten. Das Volontär- und Farmleben - nichts für Langschläfer.
„How the tour looks like you will see tomorrow.“ Ich war beeindruckt von ihrem einwandfreien, flüssigen Englisch. Beim Koffertragen zu unseren Schlafplätzen erzählte uns Anna später, dass sie schon seit Weihnachten auf der Farm lebe. Davor war sie für mehrere Wochen in Kapstadt gewesen und hatte dort ein Kinderprojekt betreut. Kein Wunder also, dass sie so gut Englisch sprach.
Dossie reichte uns Neuankömmlingen jeweils einen Umschlag mit der Bitte, das Schreiben darin unterschrieben samt Umschlag bis spätestens Montag im Farmoffice abzugeben. Irgendein Schreiben mit einer Einverständniserklärung. Das Schreiben fasste mehrere Seiten. Neben dem Schriftstück, das bestimmt in Schriftgröße 6 verfasst war, lag in dem Umschlag eine Karte, die unser Zahlungsmittel für all unsere Käufe auf der Farm sein sollte.
„You have to pay 500 Rand when you lose your card“, ergänzte Dossie und schaute in meine Richtung. Sie schien zu ahnen, wer von uns Neuen wahrscheinlich am ehesten seine Karte verlieren würde. Damit lag sie auch gar nicht mal so falsch. Neben Schlüsseln, die ich auch gerne mal im Haustürschloss von draußen stecken ließ, ging mir meistens irgendwas verloren. Vorsichtig steckte ich die Karte erst mal zurück in den Umschlag.
„Anna und Joschka will show you the accommodations where you sleep. After that you will meet all volunteers and the staff by dinner. I think that’s all information for this moment.“ Sie kontrollierte ihre Liste. „Oh no. Maybe one word to the rooms. Marlene, you share a room with Jessi, Adelle and Flo. And Silas you …“ Gespannt schaute ich zu ihr. „You will share your room with Mckenzie. Alright?“ Bitte nicht … Mir schossen sofort die beiden Erdnussbuttergläser in den Kopf. Ich konnte nur drauf hoffen, dass McKenzie keine Erdnussbutterunverträglichkeit hatte. Aber er war Amerikaner. Stolzer Amerikaner. Er konnte Erdnussbutter bestimmt gut ab. McKenzie grinste mich glücklich an.
„Sounds good“, sagte ich diplomatisch. Hoffentlich ging das mit ihm auf einem Zimmer gut …
„Joschka, gehst du mit Silas und McKenzie? Ich zeig dann Marlene und Jessi, wo ihre Hütte ist.“
„Machen wir so.“ Dossie hatte sich mittlerweile von uns verabschiedet. Mit einem weißen Geländewagen fuhr sie schon mal Richtung Farm vor. Wir sollten sie nachher wiedertreffen.
Der Weg, den Joschka einschlug, führte vorbei an mehreren Büschen und Bäumen. Die Holzhütten, die wir passierten, sahen alle gleich aus. Zu jeder Holztür führte eine dreistufige Treppe mit einer Holzreling. Neben den Hütten waren Wäscheleinen gespannt, auf denen Socken und Unterwäsche im Wind hin und her baumelten. Wenn sie nicht schon am Boden im Sand lagen. Jede Hütte hatte ihren eigenen afrikanischen Namen. Manche kamen einem Zungenbrecher gleich. Unsere Hütte hatte einen vergleichsweise einfachen Namen …

„Ovambo ist eure Hütte, Silas.“ Joschka blieb vor einer Hütte stehen, die etwas abseits gelegen war. „Moment: Wo ist McKenzie hin?“
„Keine Ahnung.“ Ich drehte mich um. „War er gerade nicht noch hinter uns? Ah, da ist er ja …“ McKenzie tauchte plötzlich hinter einem Dornenbusch auf. Sichtlich angestrengt zog er seinen Koffer durch den Sand. Seine Körperhaltung sah dabei alles andere als gesund aus. Er machte sich selbst das Leben schwer.
„Carry, McKenzie, carry. Not pulling.“
„What?“
„Not pulling. Carry …“
„Ah.“ Er warf seine Durch-den-Sand-zieh-Taktik über den Haufen, hob den Koffer mit beiden Armen ein Stückchen in die Luft und freute sich, dass er jetzt viel schneller vorankam. „Thääänks for your äädvice, määän.“ Wild schnaubend erreichte er die Treppe, an der Joschka und ich warteten. Ich wollte gar nicht wissen, was McKenzie alles in seinem Koffer hatte.