- -
- 100%
- +
Die Hütte war gemütlich und einfach eingerichtet. Es gab mehrere Holzbetten und Schränke, sogar der Boden war aus Holz. Er knackte und knarrte bei jedem Schritt. Ich hievte mein Koffer auf das hintere Bett und hing meine verstaubte Jacke auf einem Bügel in den Schrank. Von der Decke hing über jedem der vier Betten ein großes Netz. Ein Blick auf die Glühbirne genügte, um zu wissen, warum sie über den Betten aufgehängt waren. Mehrere Moskitos schwirrten dort wild durcheinander. Die reinste Orgie aus summenden Moskitos. Beim Blick auf die schief im Rahmen hängende Eingangstür ahnte ich, dass es wahrscheinlich noch mehr Mücken werden sollten, wenn wir abends vorm Schlafengehen das Licht anhatten.
„Yes, mosquitos“, sagte Joschka. „Auch wenn ein paar Löcher im Netz sind, möchte man die Netze beim Schlafen nicht missen. Ich zumindest nicht, haha.“
Joschka meinte, wir könnten unsere Koffer später auspacken, schließlich war es gleich sieben Uhr und Zeit fürs Abendessen.
„Damn mosquito bites“, nuschelte McKenzie, während er seinen Koffer ausräumte. Jetzt wusste ich auch, warum dieser so schwer war. Er hatte eine komplette C&A-Filiale in seinem Koffer. Anziehsachen en masse. Hemden, Hosen, T-Shirts, Pullis, elektronische Geräte. Und Erdnussbutter natürlich. Auch im Koffer grinste mich eine Erdnuss mit Sonnenbrille an.
„Wow, McKenzie.“ Joschka rieb sich beim Anblick der vielen bunten Klamotten verwundert die Augen. „Tell me: How long do you want to stay? Crazy.“
Ich hatte ebenfalls mit dem Auspacken begonnen. Neben dem großen Koffer und den ganzen Einkäufen lagen schon mehrere Anziehsachen verteilt über meinem Bett. Eine Sache hatte es Joschka besonders angetan.
„Sag bitte nicht, dass da ein Brötchen drin ist?“ Er zeigt auf die Tüte vom Spar.
„Da ist noch ein Käsebrötchen drin, das Jessi nicht gegessen hat. Magst‘s haben?“
„Boah geil, gib her. Ich habe seit einem Monat nur Toast gegessen. Ich würde alles für ein Weizenbrötchen mit überbackenem Käse geben.“ Ich schmiss Brötchen samt Tüte in seine Richtung. „Kannst haben. Hier.“
„Danke, Mann.“ Gierig verschlang er es mit mehreren großen Happen.

Von unserer Hütte aus waren es etwa dreißig Meter bis zu den Duschen und Toiletten. Dort standen auch schon Anna, Jessi und Marlene.
Die Toiletten und Duschen erinnerten von der Qualität an einen Ein-Stern-Campingplatz. Zu mehr Sternen reichte es bei den vielen Insekten, Spinnen, Ameisen und Käfern nicht, die die einen Quadratmeter große Toilette für sich beanspruchten. Neugierig krabbelten sie über die Klobrille.
„Ihh.“ Jessi war begeistert. Sie gehörte zu den Menschen, die schon zusammenzucken, wenn sie in ihrer Nähe nur ein Insekt mit den Flügeln schlagen hören.
„Manchmal kann man sogar den anderen beim Geschäft von der Nachbartoiletten hören“, lachte Anna. „Ganz witzig, aber auch nicht immer, haha.“ Wieder musste ich an diese grinsende Erdnuss denken.
Vorbei an den Toiletten gingen wir weiter durch den Busch. Es dauerte bestimmt zehn Minuten, bis wir von der Volunteer Village das Farmgelände erreichten. Nicht selten scheuchten wir auf dem Weg durch den Busch zur Farm Gnus auf, die uns erst irritiert anschauten und dann wild und mit panischem Gesichtsausdruck davonstürmten. Während die Gnus mit ihren langen Gesichtern ziemlich bescheuert dreinschauten, sahen die vielen Mangusten mit ihren Knopfaugen und feuchten Näschen richtig süß aus. Neugierig schauten sie unter einem Busch hervor. Vor allem die Jungtiere und Babys brachten einen fast zum Dahinschmelzen. „Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.“ Anna machte uns den Mangusten-Lockruf vor. Der wurde zur Fütterung verwendet. „Brrrrrr“, und schon sprinteten dreißig hungrige Mangusten auf einen zu, um die besten Leckereien abzubekommen.

Bild von Marlene Handler
Das Farmgelände konnte man von Weitem schon gut sehen. Entlang eines Bolzplatzes liefen wir direkt auf ein rotes Gittertor zu, hinter dem bereits mehrere Hunde ihre Nasen durch die Gitterstäbe streckten. Ihr Bellen hörte man schon aus weiter Entfernung. Rechts vom Tor standen unter einem Vordach mehrere Geländewagen, Safarijeeps und Autos, auf deren Ladeflächen Käfige gebaut waren. Sogenannte „Cage-Cars.“ In der Serie hatte ich bereits gesehen, wie in Cage-Cars Geparden gemeinsam mit Volontären durch den Busch kutschiert wurden. Verrückt, dass ich bald einer von ihnen sein würde.
„In dem linken Backsteinhaus wohnt Dossie mit ihrer Family. Und in dem rechten Teil des Gebäudes …“
„Meinst du das Gebäude mit dem bunten Spielzeuggerüst im Vorgarten?“, unterbrach ich Anna.
„Ja genau, da wo die Schaukeln und Rutschen sind. Da ist die Schule der Buschmänner.“
„Heißen die wirklich Buschmänner?“, fragte Marlene.
„Yes. Die Buschmänner arbeiten hier auf der Farm und bekommen neben einem kleinen Lohn Brot und eine Unterkunft gestellt. Und ihre Kinder gehen halt hier zu Schule. Manchmal dürfen wir Volontäre sogar den Unterricht übernehmen, wenn wir für School-Interaction eingeteilt sind.“
„Kids do not like me“, erwiderte McKenzie und fing an zu lachen. „They don´t understand me.“ Ach, echt? Ich konnte mir ein Lachen nur schwer verkneifen. Selbst Anna musste bei seinem Massachusetts-Englisch oft nachfragen, was er von einem wollte.
Wir schritten durch die kleine Eingangstür im roten Gittertor. Eigentlich rechnete ich fest damit, beim Durchtreten von gleich mehreren Wachhunden besprungen zu werden. Doch weit gefehlt. Nachdem sie uns vor wenigen Minuten aus der Ferne noch wild angebellt hatten, lagen sie jetzt faul auf dem Boden und streckten alle vier Beine von sich.
„Denkt bloß dran, die Tore immer zu schließen“, sagte Joschka mahnend. „Sonst kommt Ham von draußen rein.“
„Wer ist Ham?“
„Ein Warzenschwein. Es versucht immer, die Farm zu stürmen und hier was Essbares zu finden. Wenn es sich einmal irgendwo einnistet, dann dauert es Stunden, bis man ihn von der Stelle bekommt. Letztens lag Ham einen ganzen Tag am Klo und versperrte den Durchgang mit seiner Plauze.“ Irgendwie stellte ich mir diese Situation ziemlich witzig vor. Erst Wochen später begriff ich, dass ein aufgedrehter Ham in einer Toilette mit seinen Hauern gar nicht mal so ungefährlich war. Dann war reinste Vorsicht geboten, um nicht wie die Hyänen von Pumbaa durch die Luft geworfen zu werden.
„Vor allem die Tore zur FoodPrep. In der FoodPrep bereiten wir das ganze Essen für die Tiere vor. Die Tore müssen dort immer, immer, immer geschlossen sein!“
„Was kann den passieren, wenn wir aus Versehen mal das Tor zu FoodPrep nicht schließen?“ Ich fragte aus reinem Eigeninteresse nach. Wenn man Schlüssel von außen an Haustüren stecken lässt, dann ist man in der Regel grundsätzlich auch ein potenzieller Kandidat dafür, Tore zur FoodPrep offen stehen zu lassen. Besser, sich der möglichen Konsequenzen bereits im Vorfeld bewusst zu werden. So schlimm konnte es schon nicht sein. Oder doch?
„Dann bringt Brutus alle Wachhunde hier draußen um!“
Uff! Mit dieser Konsequenz hätte ich jetzt nicht wirklich gerechnet. „Wer bringt hier wen um?“
„Brutus“, wiederholte Joschka. „Ihr werdet ihn noch früh genug persönlich kennenlernen.“ So richtig wusste ich nicht, wie ich das interpretieren sollte. Irgendwie löste dieser Name leichte Unruhe und Nervosität in mir aus. Brutus. Der Name klang schon gefährlich und brutal. Ein grauer Hund schien den Namen Brutus mitbekommen zu haben und streckte erschrocken den Kopf in die Luft. Ich schluckte. Auch wenn die Wachhunde sich gerade in einem faulen, trägen Zustand befanden, waren sie von ihrer Statur durchaus muskulös und kräftig gebaut. Ihre Zähne blinkten in der Sonne. Wer zu Hölle musste Brutus sein, der es gleich mit mehreren muskelbepackten Wachhunden aufnehmen konnte?
„Ihr werdet Brutus spätestens morgen vor der AM-Tour kennenlernen. Am besten, ihr kommt gut mit ihm aus“, empfahl uns Joschka grinsend.
Er behielt recht. Am nächsten Morgen lernten wir Brutus kennen und lieben. Mit seiner Freundin Beati, ebenfalls eine große Dogge, war er als persönlicher Bodyguard für die Volontäre in der FoodPrep, der Futtervorbereitungsstation tätig. Auf der Farm lebten nämlich auch Paviane, die gerne aus ihren Gehegen ausbrachen und die Farm und ihre Arbeiter auf Trab hielten. Und damit die Volontäre nicht schutzlos einem ausgewachsenen Pavian gegenüberstehen mussten, gab es in der FoodPrep den Brutus-Beati-Doggen-Security-Service. Neben seinem Beruf als Bodyguard war Brutus aber vor allem eine liebe Dogge, die es liebte, am Bauch und hinter den Ohren gestreichelt zu werden, Volontäre beim Fleischschneiden zu beobachten und ihnen das ein oder andere Stück Eselfleisch wegzufuttern.
In Gedanken an den blutrünstigen, gefährlichen Brutus beschloss ich mit mulmigem Gefühl, Joschkas Empfehlung nachzukommen und immer die Tore zu schließen.
Wir stiegen über ein, zwei schlafende Wachhunde und gingen an einem rostfarbenen Käfig vorbei. Die Sonne stand mittlerweile tief am Horizont und warf ein schlechtes Licht auf das Innere des Geheges. Im Dunkeln konnte man das dort wohnende Tier nur vermuten. Vor den dicken Stahlstangen stand ein elektrischer Zaun, auf dem zwei Schilder angebracht waren: „Jacobi“ und „Keep Distance“ stand dort jeweils geschrieben. Jacobi - klang niedlich.
„Bämmm.“ Ein dumpfer, lauter Ton schreckte uns alle auf. Er kam aus dem dunklen Gehege. Er klang gar nicht niedlich. Es war ein Ton, der nur dann entsteht, wenn etwas mit voller Wucht auf Stahl trifft. Ich zuckte zusammen, als ich zwei Augen im Dunkeln entdeckte, die von einem behaarten Körper umgeben waren. Schnell folgte ich den anderen. Was leben hier bitte nur für Monstertiere? Jacobi, Brutus ...
„Gumbi“, ergänzte McKenzie meine Aufzählung.
„Gumbi?“ Ich runzelte fragend die Stirn. Wer war den jetzt schon wieder Gumbi?
„Gumbi ist unsere Hyäne“, erklärte Anna und zeigte auf ein Gehege, dass unmittelbar an Jacobis Gehege grenzte.
Hyäne - ach du meine Güte. Auch das noch … Wie viele Jacobis, Brutusse und Gumbis sollte es hier den noch geben? Ich sah meinen Körper bereits nach der ersten Woche von Tattoos übersät.
„Hey Gumbi. You still living. Nice to see you, haha.“ McKenzie schaute freudig ins Gehege von Gumbi. Ich tat es ihm gleich. Man musste schon genauer hinschauen, um ein Tier im Gehege zu erkennen. Anstelle einer Hyäne sah ich nur ein graues Fellknäuel, das mitten im Gehege in der Sonne lag und sich nicht rührte. War das die Hyäne? Bis auf ein zuckendes Ohr und leichtes Bauchheben beim Atmen konnte ich kein Lebenszeichen erkennen. Anna erzählte, dass Gumbi einer der Stars auf der Farm war und mit seinem Alter von zwanzig Jahren eine der ältesten Hyänen weltweit sein musste. Man konnte ohne Probleme in sein Gehege gehen und ihn am Bauch streicheln. Gedanklich strich ich das hyänenartige Wollknäul aus meiner Brutus-Jacobi-Liste. Von ihm ging wirklich keine Gefahr aus.
„Wenn ihr ihn füttert, dann müsst ihr ihm zum klein geschnittenen Fleisch - seine Zähne sind nicht mehr so gut - drei Eier und zwei Vitamintabletten in den Napf legen“, erklärte Joschka. „Aber das lernt ihr alles in den nächsten Tagen. Auch was Jacobi und die anderen Paviane zu essen bekommen.“
Angekommen an einem weiteren Tor, stiegen wir erst über zwei schlafende Hunde und erreichten dann eine große Wiese. Bedächtig schloss ich das Gatter hinter mir. Auf der grünen Wiese bot sich uns ein interessantes Schauspiel. Mehrere Tiere liefen wild durcheinander, meckerten sich an oder beschnupperten sich gegenseitig am Hintern. Ein kleiner Steinbock namens Max duellierte sich gerade mit den Hörnern eines Lämmchens, während Melanie, eine gefühlt drei Meter große Babyantilope, neugierig den Panzer einer Schildkröte beobachtete, die langsam über das grüne Gras krabbelte. An einem kleinen Wasserloch versuchten zwei Gänsemännchen laut schnatternd herauszufinden, wer mehr Testosteron in den Flügeln hatte. Die Damenwelt schaute ihnen dabei interessiert aus dem Wasser zu und gab erste Wetten ab. Von den weißen Gänsen fiel mein Blick auf einen seltsamen Vogel. Wir liefen gerade über mehrere Steinplatten zu einem beleuchteten Gebäude, das am Ende der großen Wiese erbaut war. Noch nie hatte ich einen so hässlichen Vogel in meinem Leben gesehen. Sein Kopf war rosa gefärbt und ganz schrumpelig. Pickel übersäten sein ganzes Gesicht und er schrie wild durch die Gegend. Seine Augen waren vom Schreien ganz rot unterlaufen.
„Anna, was ist das für ein Vogel dahinten?“
„Meinst du den Vogel da?“
„Den mit dem rosa Kopf.“
„Ach den. Das ist ein Truthahn. Sag bloß, du hast noch nie einen Truthahn gesehen.“
„Ähm, schon, aber nicht in der Form …“ Ich dachte an das Truthahn-Baguette, das ich in Zürich gegessen hatte. Bei dem schrumpeligen langen Lappen, der ihm über den Schnabel hing, hatte ich plötzlich einen ganz komischen Nachgeschmack im Mund. Ich hoffte, dass das auf dem Baguette nicht das gewesen war, das dem Truthahn da im Gesicht baumelte.
„Ah, McKääääääänzie.“ Der Nachgeschmack und die Gedanken an das Truthahn-Baguette verschwanden, als wir den Restaurantbereich erreichten.
„Hey, McKäääääänzie. Huhu.“ Zwei dunkelhäutige Frauen in weißer Küchenkleidung standen hinter der Restaurantbar und hatten McKenzie entdeckt. Aufgeregt winkten sie lachend in seine Richtung. Sie wirkten wie zwei Teenager, die gerade Harry Potter persönlich gesehen hatten, wie dieser lässig zur Filmpremiere über den roten Teppich schritt. Ihr Gekreische deutete zumindest darauf hin.
„Nice to see you, McKenzie. How are you?“
„I äm good, thäääänks“, antwortete er lässig. „Girls, how are you?“ Beide Frauen kicherten aufgeregt. Langsam erwachte in mir der Eindruck, dass McKenzie auf der Farm der zweite Star neben Gumbi sein musste. Jeder kannte ihn und grüßte ihn lachend.
„Essen die Volontäre auch immer im Restaurant?“, fragte Marlene erwartungsfroh. Der Restaurantbereich mit den schön dekorierten und gedeckten Tischen hatte etwas und lud zum Verweilen ein. Über den Tischen hingen in den Baumkronen überall Lichterketten, die mit ihrem warmen Lichtschein das schöne Ambiente mit Blick auf die Tiere abrundete. Leider musste Anna sie enttäuschen:
„Leider nein. Hier essen meistens nur die Farmgäste, die draußen bei den Paviangehegen entweder campen oder dort einen Bungalow beziehen. Einmal in der Woche dürfen aber die Leaver hier essen.“
„Leaver?“
„Die in der Woche dann abreisen. Die dürfen sich eine Gästeliste zusammenstellen und dann hier den Abend ausklingen lassen. Ist immer was Besonderes, so ein Leaver-Dinner.“ Anna lächelte.
„Oft ist das Restaurant aber auch leer, weswegen wir nicht verstehen können, dass wir dann nicht hier essen dürfen“, ergänzte Joschka.
„Warum nicht?“, fragte ihn Jessi. „Wenn ihr da essen geht, dann sind das doch auch Einnahmen für das Restaurant. Weswegen haben wir sonst eine Kreditkarte bekommen?“
„Ist halt nicht gewollt. Aber gut - was soll man machen?“ Joschka zuckte mit den Schultern. „Ist deren Problem.“
„Man muss nicht alles verstehen. Wir essen immer dort hinten. Kommt mit. Die anderen warten schon auf euch.“ Wir folgten Anna an den Restauranttischen vorbei und näherten uns immer mehr den Stimmen, die rechts vom Restaurant zu hören waren.
Sie verstummten, als sie uns kommen sahen.
30 VOLONTÄRE UND EIN DIEB
(CHAPTER SEVEN)
Ich fühlte mich wie ein Artist in einer Zirkusmanege. Nicht etwa, weil der Ort mit der Feuerstelle in der Mitte und den vielen Bänken und Tischen drumherum stark an ein Zirkuszelt erinnerte. Vielmehr, weil uns gerade dreißig Augenpaare neugierig anschauten und unsere Körper von Kopf bis Fuß scannten. Es fehlten nur noch die Scheinwerfer und der Zirkusdirektor, der uns ankündigte. „Keine unüberlegten Aktionen, Männer! Nur lächeln und winken“, schoss mir die Taktik der Pinguine aus Madagaskar durch den Kopf. Keine unüberlegten Aktionen, McKenzie. Wie er setzte ich mein schönstes Lächeln auf.
„Hey, Guys.“
„Hey, Anna“, schallte es zurück. Alle Augen waren auf sie gerichtet.
„Say hello to the Newbies.“
„Hello Newbies.“ Ich schmunzelte, schien ich mich doch sehr an ein Fußballspiel erinnert, in dem die Heimmannschaft gerade ein Tor erzielt hatte und der Stadionsprecher die fünfzigtausend Kehlen zum Ausrasten brachte.
„Torschütze mit der Nummer 10: Luuukas …“
„… Podolski.“
„Luuukas …“
„… Podolski.“
„Luuukas …“
„Podolski - Fußballgott!!!“
„Neuer Spielstand: Deutschland?“
„1.“
„Frankreich?“
„0.“
„Danke schön!“
„Bitte!“
„Schalala …“
„Schalalalalalaalalalalal“
Zufrieden drehte sich Moderator Anna zu uns. „So, Leute: Das sind die Oldies, also die anderen Volontäre. Nächste Woche gehört ihr dann auch zu den Oldies, wenn wieder Neue kommen. Setzt euch einfach an irgendeinen Tisch dazu und denkt dran: English please.“
Ich schaute in die Runde und in die vielen neugierigen Gesichter. Jungen und Mädchen, die Mädchen waren deutlich in der Überzahl, saßen bunt gemischt zusammen unter einem Holzdach, das sich im großen Bogen um die Feuerstelle erstreckte und die einzelnen Tische und Bänke bedeckte. Ich schaute zu Jessi und Marlene.
„Wollen wir uns erst mal bei jedem vorstellen? Vielleicht besser, als sich direkt irgendwo stumm hinzusetzen.“
„Wenn du vorgehst …“
„Gern!“, zwang ich mich zu sagen und steuerte den von uns aus nächstgelegenem Tisch an. An ihm saßen zwei Erwachsene von der Gruppe getrennt. Die Frau hatte schulterlange Haare, der Mann die gleiche Frisur wie Joschka. Die Frisur schien echt der Renner zu sein.
„Hi, I am Silas. Nice to meet you“, sagte ich zu dem Mann und bekam einen festen Händedruck zurück. Vor Schmerz biss ich mir auf die Lippe.
„Hi, I´m Alex. Nice to meet you.“ Von Alex ging ich um den Tisch herum zu der Frau und streckte ihr meine leicht zerquetschte Hand entgegen. Ich hoffte, dass sie einen sanfteren Griff hatte.
„Hi, I am Silas. Nice to meet you.“
„Nice to meet you, too. My name is Michi. Alex’s wife.“ Ich nickte. Michi und Alex machten beide einen netten und freundlichen Eindruck. Ich vermutete, dass sie wie Dossie als Koordinatoren hier arbeiteten. Sie waren deutlich älter als alle anderen Volontäre. Ich lächelte sie an und ging weiter zum nächsten Tisch. Dreißig Händedrücke und „Hi I am Silas. Nice to meet you“-Sätze später setzte ich mich an den Tisch, wo auch schon Anna und Joschka Platz genommen hatten. Von da aus versuchte ich noch einmal alle Namen am Tisch durchzugehen. Neben mir saß links McHänsi, äh McKenzie, rechts Jessi und daneben Marlene. Ganz rechts auf der anderen Seite Anna und daneben Joelle. Neben Joelle saß dann Lara, nein Lena. Oder hieß sie doch Lara? Ich war mir nicht mehr ganz sicher. Neben Lara-Lena saß Nathalie, die sich gerade mit Joschka am Tisch unterhielt und mit ihm tiefe Blicke wechselte. Und dann noch der Junge mit dem Rasiererhaarschnitt, ganz links gegenüber von McKenzie. Er fing, meine ich, auch mit J an. John oder Johnny. Er machte einen ruhigen, ganz gelassenen Eindruck. Der erste Eindruck täuschte nicht. Er sprach auch so. Wie ich einige Tage später herausfand, war er sechsundzwanzig Jahre alt und bildete mit Anna zusammen eins der beiden „Couples“ auf der Farm. Neben Anna und Johnny waren noch Nathalie und Joschka ein Pärchen. Sie alle hatten sich zum ersten Mal auf der Farm gesehen und kennengelernt. Und anscheinend auch gleich gut verstanden. Schon romantisch, so eine Afrika-Lovestory …
Mein Blick fiel auf Lea, die zwischen Nathalie und Lara-Lena saß und mich im gleichen Moment auch anguckte. Ich lächelte sie an. Lea hatte naturbraune Haare, die sie, ähnlich wie Michi, bis zu den Schultern trug. Auf ihrem weißen Shirt war ein Regenbogen abgebildet, der sich vom einen zum anderen Ärmel zog. Sie hatte braune Augen und ein paar Sommersprossen im Gesicht. Sie ist echt hübsch, dachte ich mir und schaute schnell nach vorne zu Anna, damit mein Blick zu Lea nicht zu auffällig wurde. Anna hatte sich hinter der Feuerstelle an einem Tresen positioniert, auf dem bereits mehrere dampfende Töpfe standen.
„Okay, guys. Today we have spaghetti with tomato sauce.“ Sie machte eine kurze Pause. Ein Raunen ging durch die Manege.
„Everyone can have one big scoop spaghetti and one scoop of sauce. This sauce here is with meat and this sauce is for the vegetarians.“
„Snooboobs starts“, rief Joschka rein.
„Nice try Joschka“, lachte Anna. „Newbies starts, snooboobs are the last group.“ Enttäuscht verschränkte Joschka seine Arme. Auf dem Hinweg zur Farm hatten wir Newbies von den beiden schon erfahren, dass es unterschiedliche Gruppen gab. Jede Gruppe hatte ihren eigenen Namen und war für verschiedene Tiere auf der Farm zuständig. Gruppenweise ging es dann auch zum Essenholen. An manchen Tagen kam es so durchaus vor, dass man trotz knurrendem Magen erst als Letzter sein Essen abholen durfte.
Nachdem neben uns Newbies auch alle Crocs, Owls und Foreveralones ihre Teller mit Nudeln und Tomatensauce befüllt hatten, durfte dann endlich auch Joschka mit seiner Gruppe die Kelle schwingen. Zumindest war er in seiner Gruppe der Erste in der Schlange.
„Lass es dir schmecken“, sagte ich zu Joschka und schob mir die x-te Gabel in den Mund. Mein Teller war schon fast leer, so einen Hunger hatte ich gehabt. Ich wollte gerade am Tisch fragen, ob man sich ein zweites Mal nachnehmen durfte, da wurde ich auf einmal von einem panischen Schrei unterbrochen. Erschrocken und fast an einer Nudel erstickt schaute ich auf, von wem der Schrei kam. Es war Jessi, die sich die Arme schützend vors Gesicht hielt.
„Ah, ein Affe. Hilfe.“ Affe? Hier? Ich dachte sofort an Jacobi, der vielleicht aus seinem Käfig ausgebrochen war. Joschka hatte von ihm erzählt, als wir zur Farmwiese gingen. Er lebte allein in seinem dunklen Käfig, weil er ein Problemaffe war. Bei Versuchen in der Vergangenheit, ihn in eine Paviangruppe zu integrieren, hatte es stets Verletzte gegeben. Mit ihm war wirklich nicht zu spaßen, vor allem, wenn es ums Essen ging. Die Schilder vorm Gehege hatten also ihren Grund. Aufgeregt schaute ich mich wie die anderen am Tisch um. Jacobi konnte überall sein. Vorsichtshalber ließ ich mein Essbesteck nicht aus der Hand. Plötzlich sah ich ihn. Jacobi, einen muskulösen, brüllenden Pavian mit großen Zähnen und Pranken? Nein, schlimmer. Erleichtert fing ich wie die anderen am Tisch an zu lachen. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Ein kleines Babyäffchen hüpfte vor mir über den Tisch. Mit seinem Schwanz stieß es fast eine Cola-Dose um.
In den Händen hielt es Jessis Feuerzeug, das es ihr mit einem Überraschungsangriff zuvor stibitzt hatte. Daher Jessis Schrei. Sie wurde von einem Baby attackiert. Siegessicher sprang Enrico, so hieß der Babyaffe, von Schulter zu Schulter, ehe er vor Joelle sitzen blieb und sich sein neues Spielzeug in den Mund steckt. Er hätte seine Flucht besser fortgesetzt. Ohne zu überlegen, packte Joelle ihn mit einer Hand am Rücken und versuchte, ihm seine Diebesbeute wegzunehmen. Doch er dachte nicht mal daran loszulassen.
„Enrico. Enrico. Lass los.“ Doch Enrico hörte nicht und griff stattdessen Joelle an die Nase. Nach ein paar Sekunden überließ er ihr das Feuerzeug. Er hatte etwas anderes entdeckt. Etwas Besseres, etwas Funkelndes - Jessis Nasenpiercing. Neugierig sprang er in Jessis Richtung, die schützend ihre Hände vors Gesicht riss. So schnell ihn seine kleinen Füße auch trugen, er kam nicht weit. Joelle packte ihn ein zweites Mal und zog ihn von Jessi weg.
„Eeennnricccooo Lllloooossss! Enrico. Lass Jessica in Ruhe. Loss.“ Doch Enrico dachte gar nicht daran aufzuhören. Er wollte das Nasenpiercing um jeden Preis haben. Wild zappelnd versuchte er sich aus Joelles Händen zu lösen. Das Nasenpiercing ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.
„Enrico loss! Was ist denn mit dir?“ Kopfschüttelnd machte sie mit dem dreißig Zentimeter großen, energiegeladenen Enrico kurzen Prozess. Sie stopfte ihn unter ihren Pulli. Mit Joelles Aktion war Enrico gar nicht zufrieden. Sofort fing er unterm Pulli an laut zu quieken und wild mit den Beinen zu schlagen. Nach kurzer Zeit ging ihm jedoch die Kraft aus. Die Beinschläge wurden immer schwächer und langsamer, bis er schließlich ganz aufgab und sich seinem Schicksal ergab. Jetzt sah man nur noch eine atmende Beule unter Joelles Pulli.