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Ein stämmiger Mann in zerschlissenen Jeans kam unter dem Stelzenhaus hervor, begrüßte Noks Bruder in gebrochenem Thai und nickte seiner Schwester stumm zu. Er wies die beiden zu einer schmalen Bambushütte, die gleich nebenan an einen Felsen gelehnt stand. Unter einem der Stelzenhäuser sah man auf einer Liege einen alten, ausgemergelten Mann mit nacktem Oberkörper. Er schickte in kurzen Abständen Schmerzensrufe durch das Dorf, während neben ihm Hühner den Boden nach Essbarem aufsuchten. Vor ihm hatte sich ein Pulk von Neugierigen gebildet: Meist Männer, aber auch Minderjährige, die sich zwischen den Erwachsenen drängten. Eine Frau in schwarzem Rock mit bunten Mustern an den Säumen hielt ein Kind in einem Tragetuch auf dem Rücken. Ein Mann mit Dreieckskopf kauerte am Boden. Neben seinen Füßen lag ein brauner, harziger Würfel und ein kleines Tongefäß, darin ein rußgeschwärzter Löffel. Der Mann griff zur Wasserpfeife, die neben ihm auf dem Boden stand, ein Schlauch mit Mundstück baumelte herab. Er reichte es dem Alten, der seine dürre Hand danach ausstreckte, während der Mann ein Feuerzeug über den Pfeifenkopf hielt.
Ton und Nok achteten nicht weiter darauf. Sie setzten sich auf zwei kleine Schemel aus Rattan, die im Schatten neben der Bambushütte standen. Der Clanchef hatte sich zurückgezogen. Die Sonne schimmerte nun durch die Nebelschwaden.
»Hier wirst du bleiben können, fürs Erste, oder müssen, wie man’s nimmt.« Ton fingerte eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines Hemdes. »Es ist vermutlich nicht ganz dein Geschmack, aber du hast keine andere Wahl. Im Übrigen war das mit der Hütte für dich kein Problem. Sie sind uns noch etwas schuldig. Du weißt ja: Mit den Kurierfahrten haben sie ziemlich gutes Geld verdient.«
Nok nickte. Sie sah übermüdet aus. Als sie ihr Foto in den Zeitungen gesehen hatte, war sie sofort mit dem Taxi zum Busbahnhof Mo Chit gefahren und hatte den nächsten Nachtbus nach Mae Sai genommen, einer Kleinstadt im äußersten Nordwesten des Landes, fast 900 Kilometer von Bangkok entfernt. Im Dunkel des Busses brauchte sie sich kaum Sorgen zu machen, erkannt zu werden, zumal sie schon im Taxi ein Kopftuch und eine Sonnenbrille getragen hatte. Mochte man sie für eine Muslimin halten, die es ja überall im Land gab, auch im hohen Norden. Im Morgengrauen hatte Ton mit seinem Jeep am Busbahnhof von Chiang Rai, der Provinzhauptstadt, gewartet, um die Kontrollposten der Armee und der Polizei zu umfahren, die vor allem dafür eingerichtet waren, um Drogenkuriere abzufangen. Noks Eltern in Mae Sai aufzusuchen, erschien ihr und Ton zu riskant, auch wegen der Nachbarn. Es war alles vorbereitet. Ton hatte Klebreis und Hühnerfleisch am Spieß gekauft, das Nok mit einer scharfen, grünen Chilisauce aus einer winzigen Plastikblase würzte, während Ton die Straße hinauf in die grün bewaldeten Berge nahm, die die Grenze zu Burma bildeten.
»Gut, dass er tot ist«, sagte Ton und beugte sich auf dem wackligen Schemel vor, während er die qualmende Zigarette zwischen den Lippen hielt. »Wir übernehmen quasi seinen Part wieder, wie vorher auch. Ich habe mir das schon überlegt. Du bringst die Steine nach Bangkok, sobald wieder Gras über diese Geschichte gewachsen ist. Du siehst schmal aus im Gesicht.«
»Ich war das nicht!«
»Das glaubt dir sowieso niemand. Es ist außerdem egal. Du wirst ohnehin gesucht, weil du ja nach Deutschland solltest.«
Nok schüttelte energisch den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das wird den Behörden ziemlich egal sein, ob die Farang da zu ihrem Recht kommen. Die werden sich nicht viel Mühe geben, solange mich nicht wieder jemand auf dem Präsentierteller überreicht. Aber du hast recht: Gut, dass er tot ist. Und ich werde herausfinden, wer das getan hat, damit man mich in Ruhe lässt.«
»Nichts wirst du tun«, antwortete Ton hart und schnippte die Kippe weit von sich. »Du kannst ab und an mit nach Burma kommen, damit du die Wege kennenlernst. Das kann nicht schaden. Was ist mit diesem Farang?« Ton wandte sich seiner Schwester zu. »Der scheint ja unberechenbar zu sein. Wie kommt er dazu, dich einfach so aus dem Gefängnis zu ziehen? Ich meine, ist ja gut, dass er es gemacht hat, aber spinnt der? Sollen wir dafür sorgen, dass er geschnappt wird? Vielleicht glätten sich dann die Wogen etwas schneller.«
»Nein. Lass das!« Das war deutlich und bestimmt. Nok schaute hinunter ins Tal, aus dem die Nebelschwaden immer höher stiegen. Sie hatte Sehnsucht nach ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester, dem Haus, das sie ihnen dort unten gebaut hatte, als sie aus Deutschland zurückgekehrt war – mit dem Geld Lochners, das er beim Backgammon gewonnen oder ergaunert hatte, so ganz klar war das nicht. Jedenfalls hielten sich dadurch Noks Skrupel ziemlich in Grenzen, als sie es an sich genommen hatte. Und eigentlich auch, was seinen Tod anging. War nichts wert gewesen, der Kerl. Der Einzige, der sie jemals dermaßen über den Tisch gezogen hatte, dass sie … aber das war Vergangenheit.
»Nächste Woche kommst du am besten schon einmal mit«, schlug Ton vor. »Wir fahren hier über die Berge nach Burma, über Schleichwege. Wir nehmen wie immer einen der Akha mit. Die wissen, wie man an den Grenzern vorbeikommt. Und gleich im nächsten größeren Ort sitzt mein Händler. Zuverlässiger Typ. Hat saubere Steine.«
Nok nickte gedankenverloren. »Sauber, ja. Aber mit deinen dreckigen Amphetaminen lass mich in Ruhe. Damit will ich nichts zu tun haben.«
»Was ist? Denkst du an diesen Farang? Nok, ich kenne dich!«
6.
Wie Wagner auf die Sündenmeile der Sukhumvit Road gelangt war, wusste er selbst nicht mehr so genau. Er war mit der U-Bahn ziellos hin- und hergefahren, als könne er so seiner drohenden Verhaftung entfliehen. Schließlich war er an der Station Nana ausgestiegen und fand sich oben auf der Straße in einem engen Treiben aus Kleinhändlern auf dem Bürgersteig, hupenden und röhrenden Autos, Tuk-Tuks und Motorrädern wieder, die ihre Abgase mit der schwer lastenden Schwüle des ausklingenden Tages mischten. An der Straßenecke boten zwei Afrikaner Frauen zur Prostitution an. »Can I help you? You like black lady?«
Schon seit einiger Zeit hatte Wagner das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Auch als er die Stufen zu einer der Fußgängerbrücken über die Sukhumvit Road nahm, um eines der unzähligen Department Stores auf der anderen Straßenseite zu betreten, sah er, dass dieser Polizist in seiner schwarzen Uniform etwa 10 Meter unter ihm dasselbe tat. Wagner wollte eigentlich nur in das Kaufhaus, um für eine Weile der Hitze zu entfliehen. Wohltuend empfing ihn die Kühle der Air-Condition-Anlage. Er nahm eilig die Rolltreppe, fuhr in die 4. Etage hinauf und betrat eine Buchhandlung. Verstohlen blätterte er in einer der bunt bedruckten Tageszeitungen, um zu prüfen, ob sein Konterfei ihm dort wieder entgegenlächelte. Dieses Mal nicht, stellte er erleichtert fest, schlenderte zu einem Regal hinüber, in dem Wörterbücher aufgereiht standen, und nahm absichtslos einen dicken Band »Deutsch-Thai« in die Hand. Er schlug ihn auf und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass dieser schwarze Bulle in der Nebenabteilung sich betont angestrengt in ein Buch vertieft hatte, in dem es offensichtlich um Wild Life ging. Ein zähnebleckender Tiger und ein Elefant mit erhobenem Rüssel teilten sich den Buchdeckel. War Wagner nahe daran, paranoid zu werden? Oder war das tatsächlich dieser Vierschröter mit schwarzem Stirnband, dem er auf dem Flur der Shiny Gem über den Weg gelaufen war? Diesmal ohne Stirnband, dafür aber als Polizist. Wagner stellte schnell das Buch zurück und verließ die Buchhandlung. Unten auf der Straße mischte er sich eilig unter die Passanten, die sich zwischen den Läden und den Kleinhändlern auf dem Bürgersteig aneinander vorbeischoben, wechselte in eine der Seitenstraßen und betrat einen der vielen Pubs, die nach außen hin offen waren. Junge Frauen bedienten Farang aller Coleur mit Bier oder Whiskey. Über den Gästen hingen Fernseher, in denen Fußball und Musikvideos gezeigt wurden, deren Klänge sich mit dem Verkehrslärm mischten. An vielen Tischen saßen meist ältere Herrschaften in Shorts, Westler, die sich von Thai-Frauen hofieren ließen, wenn sie Getränke spendierten. Wagner schob sich auf einen Hocker, bestellte ein Bier und beobachtete die andere Straßenseite, wo sich unter blinkenden Neonlichtern ein Massagesalon an den anderen reihte. Frauen in engen Röcken lockten Farang an, die mehr oder weniger verstohlen an ihnen vorbeiflanierten. »Hello Mister! You want massage?« Einige wollten und wurden sogleich ins Innere der Etablissements geleitet.
»Hier ist doch sicher frei.« Ein gertenschlanker Mittfünziger mit sehr schütterem Haar wartete nicht auf die Antwort und nahm neben Wagner Platz. Vermutlich hatte er dessen deutschsprachigen Stadtplan von Bangkok auf dem Tisch gesehen, und vermutlich war er darauf aus, Wagner zuzutexten. Sofort sprudelte er los, und so erfuhr Wagner bald, dass dieser Mensch von seiner thailändischen Frau verlassen worden war, was ihm aber überhaupt nichts ausmachte, und dass im Übrigen über kurz oder lang alle Farang von ihren thailändischen Frauen verlassen wurden. Das sei einfach so. Wagner nickte lustlos.
»Sie auch?«
»Nee, bin Single«, antwortete Wagner knapp und sah zu, wie gegenüber ein junger Farang von einer drallen Frau an seinem Ohrring hinter dunkel getönte Scheiben gezogen wurde. Die anderen Frauen vor dem Massagesalon kreischten vor Vergnügen.
»Dann also Sextourist, was?« Ziemlich überheblich, dieser Mensch.
»Nee, sowas mache ich nicht.«
»Hoi, also eher Moralapostel, der sich was verkneift, wie? Frage mich dann immer, warum sich so jemand auf der Sukhumvit herumtreibt. Bangkok ist weiß Gott groß genug.«
Wagner war im Begriff aufzustehen und zu zahlen, als sich direkt unter ihm auf den Stufen dieser Polizist ins Blickfeld schob und ihm direkt ins Gesicht schaute, ziemlich unverwandt. Wagner lief es bei aller Hitze kalt über den Rücken. War er genau jetzt reif für viele Jahre Thai-Knast? Natürlich war das der Vierschröter aus der Shiny Gem!
»Ich hab auch mal so gedacht, früher«, redete der Typ kraft seiner anscheinend geballten Erfahrung weiter drauf los. »Johann, wenn’s recht ist«, und Wagner streckte ihm notgedrungen die rechte Hand entgegen. »Jens meinerseits.« Wie mochte wohl dieser Bulle heißen, der sich zum Tresen begab, dort etwas bei einer Kellnerin bestellte und sich am Nebentisch niederließ.
»Du darfst nicht vergessen, dass die Frauen verdammt viel Spaß dabei haben. Siehst du ja da drüben. Die schnappen sich meist einen knackigen Farang mit großen Füßen, weil sie dann wissen, dass die anderen Extremitäten automatisch auch groß sind, und fahren in der Regel mit dem gut ab. Halten sich den Typ ein paar Tage warm, lassen sich aushalten. Two more Chiang Beer, please«, lächelte er der Kellnerin hinterher, die dem Polizisten gerade ein Glas Whiskey mit Eiswürfeln und eine Flasche Sodawasser hinstellte.
»Woher weißt du das eigentlich? Von deinen großen Extremitäten?« Wagner fühlte sich irgendwie auf seinem Hocker wie gebannt von dem starren Polizistenblick, der wieder direkt auf Wagner gerichtet war. Am besten weiter unterhalten, einen Freund haben in der Not, dachte Wagner. »Schon mal daran gedacht, dass die das tun müssen, um ihre arme Familie in der Provinz zu unterhalten?«
»Oh je, die Leier wieder. Das sind doch alles Klischees. Man merkt, dass du neu bist. Die meisten machen das nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen.«
»Und wie unterscheidest du das?«
»Bauchgefühl. Und die paar Dickwanste und Rentner lassen sie zwischendurch auch noch über sich ergehen.«
»Mir wird schlecht.«
»Denen aber nicht. Sie seifen sie ein, nehmen sie aus, und der Opa hat das Gefühl, doch noch ein Womanizer zu sein. – Zum Wohl«, Johann schwenkte sein Glas in Richtung Wagner. »Glaubst du, die würden lieber in der Fabrik arbeiten?«
»Zum Wohl. Vielleicht könnte man die Freier bestrafen.«
Johann lachte laut: »Willst du das Land kaputt machen? Es lebt davon, von den Touristen, und es kommen nun mal nicht wenige genau deshalb hierher, um sich einseifen zu lassen, und nur deshalb.«
Das Bier begann zu wirken, es war ja immerhin das zweite, und Wagner begann, Sitzfleisch zu spüren. Das war nicht nur unerhört, was dieser Johann da von sich gab, das klang auch irgendwie aufschlussreich und empörenderweise stimmig. Eigentlich liebte Wagner es ja, wenn jemand gegen den Strich gebürstet war.
»Sag mal: Kennen wir uns nicht irgendwoher?« Johann schaute ihn prüfend an.
Nicht der auch noch! Wagner wurde mutig. »Womöglich aus der Zeitung, was?« Es war wie ein Ausbruch, der Mut der Verzweiflung.
»Quatsch. Kommst du auch aus Köln?«
»Nee, Wuppertal.«
»Ja dann nicht. Obwohl, man weiß ja nie!«
»Eben«, antwortete Wagner und wechselte plötzlich wie ferngesteuert an den Nebentisch. Offensichtlich machte Chiang Beer offensiv. Wagner suchte die Entscheidung.
»Hello Mister! Jens.«
Wagner schob seine Rechte über den Tisch. Der Bulle hielt reglos sein Glas Whiskey vor den Mund, trank einen Schluck und setzte es ganz langsam ab. Und jetzt die Handschellen, dachte Wagner. Johann würde ihm helfen, irgendwie, kraft seiner Erfahrung.
»Nuan. My name Nuan«, kam es zwischen dünnen Lippen hervor, ohne dass der Mann auf Wagners ausgestreckte Hand achtete. »You not contacting my girlfriend, okay?« Nuan zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn.
»What?«
»Nok, my girlfriend. You no contact. Finish!«
Wagner blieb der Mund offen stehen. Was wurde das hier? Eine Eifersuchtsszene statt Handschellen? Eilig bestellte er einen Whiskey und ein Bier. »No no, I only helped here.«
»Yes, you helped her, and now finish, okay? She belong to me.«
»You are police?«, blöde Frage, dachte Wagner.
»I am everything«, murmelte Nuan und schickte einen gefährlichen Blick herüber.
»Looks like«, erwiderte Wagner.
»You no more contact or get lost. I know who you are.«
Wagner nickte beflissen. »I no dangerous«, passte er sich Nuans Sprache an.
»But me.«
»Now I only travel.«
»Good for you.« Der Mann entzündete eine Filterzigarette, die einen seltsamen Geruch verströmte. Ein wenig süßlich. Fast glaubte Wagner, das wäre eine Art thailändisches Marihuana. Aber die Schachtel, die auf dem Tisch lag, sah original aus. Es waren indonesische Kretekzigaretten mit Nelkengeschmack, die die Lippen und die Zunge ein wenig betäubten.
Johann gesellte sich umstandslos zu den beiden und schob sein Glas Bier auf den Tisch. »Scheint ja ne interessante Runde zu werden. Ist immer gut, wenn man Polizisten auf seiner Seite hat. Du lernst schnell, Jens.«
Ein paar Getränke später war Nuan so sehr abgefüllt, dass er aus Versehen den Wohnort von Noks Eltern preisgab, während er erzählte, dass er sich beinahe dorthin habe versetzen lassen, warum, das ließ er offen, dass er seinen Antrag aber schnell wieder zurückgezogen habe, weil er dort oben im Norden kaum jemanden verstand. »They speak other language, they no really Thai, they are mix«, lachte er und schob eilig nach, als er seinen Fehler bemerkte: »But she not there. You not go, okay?« und versuchte wieder einen bedrohlichen Blick. »Normally I bring you to jail. But maybe you good guy. You helped Nok, but now enough.«
»No problem, brother.« Wagner schlug Nuan aufgeräumt auf die Schulter.
Johann mischte sich ein: »Ich weiß zwar nicht genau, worum es bei euch geht, aber um sicher zu sein, musst du ihm was bieten, irgendwas.«
»Habe ich doch. Whiskey ohne Ende.«
»Sowas hilft nicht, nicht wirklich. Das ist nur als Appetizer zu betrachten. Komm, ich zeig’s dir. Kjep taang!«, rief er der Kellnerin zu. »No problem, Mister, we only change the place.«
Johann und Wagner teilten sich die Rechnung. Sie nahmen Nuan in die Mitte, der immerhin noch geradeaus gehen konnte, und Johann führte über die Staße auf die lange Reihe der Massagesalons zu. Weiter hinten prangte ein grünes Kreuz über blinkenden Neonlampen. Es war mittlerweile dunkel geworden. Vor dem Etablissement hockten fünf Frauen in weißen, engen Röcken auf Plastikstühlen. »Yes Mister. Come here, please. I will be your nurse!«
Johann steuerte zielsicher auf die Frauen zu.
»Nee, ne?« Wagner schüttelte den Kopf und blieb stehen.
»Doch«, beharrte Johann. Nuan lachte hässlich, und die Frauen wurden wieder mutiger, nachdem sie kurz gezögert hatten, weil sie nicht wussten, ob Nuan in seiner Uniform in Amtshandlungen begriffen oder rein privat unterwegs war. Eine der Frauen hatte ihren Daumen in den Mund gesteckt und schob ihn rhythmisch hin und her.
»Gib mal tausend Baht. Komm. 25 Euro und du tust deinem neuen Freund einen Gefallen und hast bei ihm für eine Weile einen Stein im Brett.«
Wagner zögerte, stattdessen fingerte Johann eine 1000-Baht-Note aus der Tasche und gab sie der Frau. Er zeigte mit dem Daumen auf Nuan und schob ihn auf die Stufen.
»Tham arai waan hai nit noi.« Thailändisch konnte der also auch, stellte Wagner fest und fühlte sich schmutzig. Nuan verschwand albern gackernd mit der Fau hinter das dunkel getönte Glas der Eingangstür.
»So, der ist versorgt«, meinte Johann, während die anderen vier Frauen nun Wagner anbaggerten.
»Nee, ne?«
»Up to you.« Johann zuckte mit den Schultern. »Ich warte drüben im Pub auf dich.«
»Nix da!«, rief Wagner, während eine der Frauen ihn an der Hand die Stufen hinaufzuziehen begann.
»Oh no, nono!« Wagner machte sich eilig los.
»Pen khon khii ai noi«, erklärte Johann. Die Frauen lachten und riefen Wagner hinterher, der bereits die Straße überquert hatte.
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Dass du ein bisschen schüchtern bist«, antwortete Johann, der ihn eingeholt hatte. »Lass mal die 1000 Baht rüberwachsen. Das ist ja schließlich dein Freund. Eigentlich haben die Frauen das nicht so gern, mit Polizisten, weil die sich das ab und zu umsonst holen. Als potentielle Beschützer. Gibt ja immer wieder Farang, die ausrasten. Mann, ich glaube, du hast mir ein bisschen was zu erzählen. Diese Nok und der Bulle da und du, was ist mit euch? Sollen wir noch ein Bier?«
7.
Wagner versuchte ein Nickerchen. Das Schaukeln des Busses hatte ihn müde gemacht, aber zu mehr als dösen reichte es nicht. Die gewagten Überholmanöver des Fahrers ließen keinen Schlaf zu. Der Mann machte vor allem in den Kurven vom Recht des Stärkeren gegenüber den vielen Pickups Gebrauch. Am liebsten wäre Wagner mit dem Zug gefahren, das schien ihm sicherer, aber es gab keine Eisenbahnlinie in den hohen Norden. Also keine entspannte Nachtreise, zumal wieder eine kitschig-bunte Show aus einem Monitor über den Fahrgästen lärmte.
Neben Wagner hatte Johann es sich auf dem weichen, mit Velours bezogenen Sitz gemütlich gemacht. Es war ein so genannter VIP-Bus für etwas mehr als 1000 Baht. Das war immerhin eine Reise über fast 900 Kilometer. Johann hatte das linke Bein in den Gang zwischen den Sitzreihen ausgestreckt und blätterte in einer älteren Ausgabe der Bangkok Post, die in der Wartehalle des Busbahnhofes Mo Chit auf einem der Plastikstühle gelegen hatte. Wagner musste gelegentlich den Kopf ein wenig zur Seite nehmen, wenn Johann eine neue Seite aufschlug. Er war aber froh, dessen Mitteilungsdrang für eine Weile nicht ausgeliefert zu sein.
Johann war Frührentner, nachdem er sich als Postbote jahrzehntelang die Hacken krumm gelaufen hatte, und verbrachte seitdem die Monate zwischen September und März in Bangkok. Dort hatte er sich ein kleines Appartment zugelegt. Das Haus, das er seinerzeit in Nong Khai, einer Stadt im Nordosten des Landes, mit seiner Frau gebaut hatte, konnte er seit der Trennung abhaken. Das Grundstück war auf sie ausgeschrieben. Für Farang war es nicht möglich, in Thailand Land zu erwerben. Und egal, ob da nun eine Hütte oder ein großes Haus stand, Eigentümer war derjenige, dem das Grundstück gehörte, außer man hatte notariell eine Regelung gefunden, nach der explizit dem Farang das Haus gehörte. Johann hatte da anscheinend seinerzeit etwas fahrlässig gehandelt, womit er nicht der Einzige war. Es gab vermutlich Zigtausende von Farang, die ihre Lebensträume in irgendeinen Winkel des Landes versetzt hatten, um sich später in einer engen, überteuerten Wohnung wiederzufinden, wenn sie nicht ohnehin von Thailand die Nase voll hatten. Mit lauter solchen Geschichten hatte Johann gestern Abend auf Wagner eingeredet, der sich immer wieder genötigt sah, den Satz »Ja, aber die Nok, die ist nicht so« einzuflechten, nachdem er zuvor Johann über seine Absichten in Thailand aufgeklärt hatte, im Groben zumindest. Dennoch: Irgendwie wurde Wagner allmählich klar, dass Johann der Richtige war, Klischees abzuräumen, in diesem Land des Lächelns, den tiefgläubigen Menschen und ihrer bedauernswerten Lage in der Dritten Welt, wie es nicht zuletzt auch der Reiseführer vermittelte. Gleichzeitig spürte Wagner, dass es verdammt noch mal nicht leicht sein würde, andauernd dieser Versuchung weiblicher Reize zu widerstehen. Er beschloss, es dennoch zu tun. Er tat es für Nok.
»Scheiße!«, entfuhr es Johann, als der Bus geschmeidig eine Rechtskurve nahm. »Sag mal, bist du bekloppt? Das bist du doch«, schnauzte er und tippte mit dem Zeigefinger auf ein Foto der Seite vier. »Was hast du mir denn da für einen Mist erzählt? Nette Bekannte, mit der du ein paar kleinere Missverständnisse aus dem Weg räumen willst. Geht’s noch? Überredet mich mitzukommen, damit ich ihm mit meiner Erfahrung erst mal weiterhelfe. Du kannst froh sein, dass es gerade dunkel wird und niemand deine komische Visage erkennt.«
»Du wolltest doch unbedingt mit! Weil du nichts Besseres zu tun hast. Weil du schon länger nicht mehr da warst in – wie heißt der Ort?«
»Mae Sai!« Johann schrie fast, nicht nur, weil der Fernseher immer noch lärmte. »Weißt du überhaupt, dass es hinter Chiang Rai morgen früh mindestens zwei Kontrollen der Armee und der Polizei geben wird? Meine Fresse, hast du ein Gemüt! Ist in einen Mord und was nicht alles verwickelt und lässt sich hier im Land herumkutschieren. Und ich? Eh, ich steig aus. In Ayutthaya ist für mich Ende. Halbe Stunde noch.«
Johann nahm sein Bein aus dem Gang, setzte sich aufrecht und drückte energisch mit den Knien gegen den Vordersitz. Wagner versuchte zu deeskalieren. »Nun mach doch mal langsam. Und schrei nicht so. Tu vor allen Dingen die Zeitung weg. Wenn das einer sieht! Ich erkläre dir ja alles.«
»Ja, so wie gestern, was? Deine Nok, die nicht so ist wie alle anderen! Meine Frau hat immerhin niemanden erschossen! Ist doch auch was, oder?«
Johann knüllte die Bangkok Post zusammen und stopfte sie in das kleine Gepäcknetz vor ihm. Eine Viertelstunde später war er immerhin so weit beruhigt, dass er nicht in Ayutthaya, der ehemaligen Königsstadt hundert Kilometer nördlich von Bankgok, aussteigen wollte. »Aber bevor wir morgen früh an die Kontrollposten kommen, setze ich mich woanders hin. Und wenn die uns doch irgendwie miteinander in Verbindung bringen, weil die Fahrgäste petzen oder was weiß ich, dann sagst du gefälligst, wir hätten uns hier im Bus kennengelernt, alles klar?«
»Mach dir keine Sorgen, Johann. Nok hat mir erzählt, dass für Thailänder alle Farang zunächst mal gleich aussehen und –«
»So ein Quatsch! Und dein Name? Im Reisepass?«
»Ist doch ein anderer als im Dienstausweis. Die haben doch nur den Namen aus dem Dienstausweis. Und den habe ich ja auch geändert.«
»Wie geändert?« Johann rutschte unruhig in seinem Sitz hin und her.
»Ja nun, ich lasse doch nicht meinen Spezi vom BKA unnötig auflaufen. Dass der da womöglich mit reingezogen wird. Verliert er doch seinen Job. Also da ein bisschen am Namen rumdoktern, ist nun wirklich kein Problem.«
»Na Mann! Aber in Mae Sai lässt du mich in Ruhe! Du bringst es fertig und gehst zur Polizei, um die genaue Adresse von Noks Eltern rauszukriegen. Wenn ich du wäre, würde ich in Mae Sai über die grüne Grenze verduften, dann wärst du schon mal in Burma.«
»Burma? Warst du da auch schon mal?«
»Ja. Aber nicht mir dir, Jens.« Johann wandte sein Gesicht zur anderen Seite und lehnte den Kopf ans Nackenpolster. Schlaf würde jetzt gut tun.
8.
Die Krathongs mit ihren Kerzen schaukelten wie kleine, runde Boote übers Wasser und trieben flussabwärts. Immer wieder kamen neue Krathongs um die Flussbiegung herum. Nur das unablässige Schrillen der Zikaden und die Rufe der Frösche hallten in die Nacht.