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Wilhelm-Antonius Kokies würde also am nächsten Tag die beiden Polizeibeamten bitten lassen, nach Adlig-Linkunen zu kommen. Die Krisensitzung in Kokies Arbeitszimmer wurde aufgelöst, Friederike rief nach der Haushälterin und bat sie, sich um Berta zu kümmern, während sie sich selbst ihrer Tochter zuwandte; auch der Butler schickte sich an, das Arbeitszimmer zu verlassen.
„Ach, Friedrich bleiben Sie doch noch einen Moment hier, ich möchte noch unter vier Augen mit Ihnen reden“, sagte jedoch Kokies und bat ihn, Platz zu nehmen.
Der Butler war eine stattliche Erscheinung, recht groß, breitschultrig und mit vornehmem, fast edel wirkendem Gesicht. Sein Haar war dunkel und noch voll. Er hatte stets eine gerade Haltung, nicht steif, sondern eher würdevoll. Aber jetzt bot sein Erscheinungsbild einen völlig anderen Anblick. Er wirkte eingesunken, sein Gesicht grau, von Gram gezeichnet. In dem Sessel, in dem er jetzt saß, wirkte er fast wie ein Häufchen Elend.
„Friedrich, Sie und Berta sind schon sehr lange bei uns und haben uns immer treu gedient“, sprach Kokies. „Im Laufe der Jahre ist mehr als nur ein Angestelltenverhältnis entstanden, ich möchte es fast als eine Art Freundschaft bezeichnen. Anna bedeutet meiner Frau und mir sehr viel, sie ist für uns wie eine zweite Tochter. Unser ganzes Mitgefühl gilt Ihrer Familie.“
Wilhelm-Antonius legte einen Arm auf Friedrichs Schulter. Dieser brachte nur ein tränenersticktes „Danke, danke“ hervor.
„So, und jetzt entlasse ich Sie zu Ihrer Frau, die braucht Sie jetzt dringend.“
An ein ordentliches Abendessen war an diesem Tag nicht mehr zu denken. Friederike, Wilhelm-Antonius und ihre Tochter nahmen im Kaminzimmer einen kleinen Imbiss ein.
„Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist, alles kommt mir vor wie ein Albtraum, ich hoffe ständig aufzuwachen und der Spuk ist vorbei“, sagte Maria in leisem Ton.
„Geh auf dein Zimmer und leg dich hin, versuche, ein wenig zu schlafen.“ antwortete ihre Mutter.
Aber an Schlaf war diese Nacht bei keinem im Hause zu denken. Auch Friederike und Wilhelm-Antonius hatten sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, das Licht gelöscht und versuchte ein wenig Ruhe zu finden; aber sie machten dennoch kein Auge zu. Immer wieder sprachen sie miteinander. Friedrich und Berta hatten sich gar nicht erst hingelegt, zu groß waren die Aufregung und die Sorge um ihre Tochter.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, es war noch dunkel draußen, kehrten Peer und seine Wildhüter aus den Wäldern zurück. Peer ließ sich sofort bei Herrn Kokies melden und dieser empfing ihn, nachdem er sich so schnell wie möglich angekleidet hatte. Entsprechend war sein äußeres Erscheinungsbild. Wilhelm-Antonius legte noch nie großen Wert auf besonders elegante Kleidung und seine Frau musste noch oft Hand an ihn legen, um seine Kleidung und Frisur zu korrigieren. Dies glich zuweilen einem kleinen Kampf, wenn er sich sträubte und Friederike darauf bestand, dass er dieses oder jenes Kleidungsstück wechselte oder noch einmal von einem Kamm Gebrauch machen sollte.
„Wundere dich nicht, wenn eines Tages ein Fremder hier erscheint und dich bittet, ihn deinem Herrn zu melden“, war einer ihrer häufigsten Sätze in diesem Zusammenhang. Aber an diesem Morgen achtete nicht einmal sie auf seine Aufmachung. Kokies, ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann, wirkte heute fast wie eine Vogelscheuche. Er empfing Peer in seinem Arbeitszimmer und bemerkte sofort dessen niedergeschlagene Haltung.
„Wir haben die ganze Nacht über gesucht, jede uns bekannte Höhle und Hütte durchsucht. Nichts. Keine Spur von Anna und den Entführern. Es hat nicht geregnet, der Boden ist trocken, so dass keine nennenswerten Hufspuren zu erkennen sind“, sprach Peer und fuhr fort:
„Die Männer brauchen jetzt eine Pause, aber wir wollen bei Tageslicht die Suche fortsetzen. In der Dunkelheit kann man leicht etwas übersehen.“
„Ich weiß, dass Sie alles in Ihrer Macht stehende tun“, antwortete Wilhelm-Antonius.
„Und bin Ihnen auch sehr dankbar dafür. In der Tat müssen Sie Ihr Äußerstes geben. Ich bitte Sie, bei Tagesanbruch jemanden nach Hirschburg zu schicken und Bouffier zu beauftragen, nach Adlig-Linkunen zu kommen.“
Kaum hatten sie ihr Gespräch beendet, als Otto Goldfeld an der Tür des Arbeitszimmers klopfte.
„Herein“, rief Kokies und der Verwalter betrat außer Atem den Raum, in der Hand einen mittelgroßen Zettel haltend. Peer hatte sich schon verabschiedet und war gegangen.
„Herr Kokies…“, begann Otto zu sprechen und musste sofort wieder eine Pause machen, um Luft zu holen. Er litt schon seit Jahren an Asthma, was sich in Alltagssituationen kaum bemerkbar machte, großen Anstrengungen war er jedoch nicht mehr gewachsen. Es war offensichtlich, dass er im Laufschritt zum Herrenhaus geeilt war. Nun hielt er Kokies den Zettel hin und fuhr fort: „Das da lag bei mir… bei mir vor der Tür. Irgendjemand muss diesen Zettel dort deponiert haben, ohne dass ich oder Erna es bemerkt haben.“
Kokies nahm das Schriftstück entgegen. Darauf war in Druckbuchstaben und in verstellter Schrift erkennbar eine Lösegeldforderung für „Maria“ geschrieben. Der Verfasser machte genaue Angaben wo, wann und wieviele Goldmark zu deponieren sei. Das Schreiben war an die Herrschaften Kokies gerichtet.
„Hier liegt eindeutig eine Verwechslung vor“, sagte Wilhelm-Antonius.„Die glauben, sie haben Maria entführt. Mein Gott, nicht auszudenken, was passiert, wenn sie das bemerken. Friedrich und Berta können das Lösegeld unmöglich aufbringen und wenn den Halunken diese Tatsache bewusst wird, bedeutet das den sicheren Tod für Anna. Sie ist dann von keinem Nutzen mehr für sie, nur eine lästige Zeugin.“
Es klopfte an der Tür und nach Kokies‘ „Herein“ betrat Friedrich das Zimmer und sagte: „Entschuldigung, Herr Polizeileutnant Bouffier und Herr Hauptwachtmeister Hinrich haben sich angemeldet. Ich habe sie in die Bibliothek gebeten.“
„Sehr gut, Friedrich. Ich werde gleich zu ihnen gehen.“
Kokies erwähnte den Zettel mit keinem Wort und fuhr fort: „Bitten Sie meine Frau Berta und Maria ebenfalls in die Bibliothek, ich wünsche auch Ihre Anwesenheit.“
Der Butler nickte kurz und verschwand wieder. Goldfeld verabschiedete sich mit den Worten: „Ich werde im Verwalterhaus sein und stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“
„Danke, Goldfeld, danke. Ich nehme an, die Polizei wird auch Sie als Zeugen vernehmen wollen.“
Als Wilhelm-Antonius die Bibliothek betrat, waren alle anderen schon anwesend. Maria hatte inzwischen Bouffier die ganze Geschichte erzählt, der ihr aufmerksam zugehört hatte, ohne sie zu unterbrechen. Kokies begrüßte die Anwesenden und bat sie, Platz zu nehmen. Er blieb als Einziger stehen und hielt mit einer Hand den Entführer-Zettel wortlos in die Höhe. Dann sagte er: „Dies hier hat Goldfeld vor kurzem vor seiner Tür gefunden. Es ist ein Schreiben der Entführer, sofern es überhaupt das Prädikat ‚Schreiben‘ erhalten darf. Hierin stellen sie ihre Forderungen bezüglich Annas Freilassung. Natürlich geht es um Lösegeld.“
Peter Bouffier stand sofort auf, ging auf Kokies zu und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, aber das ist ein wichtiges Beweismittel, das ich unverzüglich beschlagnahmen muss!“, und griff nach dem Zettel, um ihn an sich zu nehmen. Kokies war ob soviel Selbstbewusstsein und Resolutheit derart verdattert, dass er sich den Schrieb ohne weiteres aus der Hand nehmen ließ.
„Bitte lassen Sie sich in Ihren Ausführungen nicht weiter stören, ich bin für jede Information dankbar.“ Mit diesen Worten setzte sich Bouffier wieder hin und schaute sich den Zettel genau an.
Jeder im Raum erwartete nun den Protest des Herrn Kokies über ein derartig respektloses Verhalten des Polizisten, aber Wilhelm-Antonius lächelte, offenbar positiv von dem Verhalten Bouffiers beeindruckt.
„Junger Mann“, sprach er zu ihm, „ich hoffe, Ihre Ermittlungen in diesem für uns alle so persönlichen und, ja so muss man es sagen, zutiefst belastenden Fall werden so…“, Kokies musste überlegen, wie er es formulieren sollte, „werden so bestimmt erfolgreich geführt, wie Sie es uns hier zu demonstrieren bereit waren!“
Bouffier las den Entführerbrief zu Ende, schaute dann zu Herrn Kokies auf und sagte: „Ja, natürlich, der Herr! Wie viele Menschen hatten den Zettel in der Hand, nachdem er gefunden wurde?“
„Soweit ich weiß, nur Goldfeld und ich, sonst niemand. Warum fragen Sie das?“
„Ein gewisser Herr Welker hat 1851 ein Verfahren namens Daktyloskopie erfunden. Danach hat jeder Mensch ein ganz eigenes Muster seiner Ringe in der Haut an den Fingerkuppen; in der Anthropologie wird dieses Verfahren eingesetzt.“
Jetzt war Kokies‘ Gesichtsausdruck eher verärgert. Was schwadronierte dieser Mann über irgendwelche anthropologischen Methoden angesichts der dramatischen Situation, in der sie sich befanden. Bouffier schien die Skepsis in Kokies‘ Gesicht zu bemerken und fuhr fort: „Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, diese Fingerkuppenringe hinterlassen auf allem, was man anfasst, also auch einem Stück Papier, einen unsichtbaren Abdruck, sozusagen einen Fingerfleck, den man durch Staub oder Asche sichtbar machen kann. Ich habe mich damit beschäftigt und Versuche gemacht. Vielleicht gelingt es mir, einen solchen Abdruck auf diesem Papier sichtbar zu machen. Sofern sich Flecken finden, die weder Ihren oder des Verwalters Fingern zuzuordnen sind, könnte es sich um die Abdrücke eines der Entführer handeln…“
„Mein Gott Bouffier“, unterbrach ihn Kokies, „darüber können Sie sich meinetwegen später Gedanken machen, jetzt haben wir zweifellos Wichtigeres zu besprechen!“
„Entschuldigen Sie bitte, Sie haben sicher Recht. Wann wurde das Papier gefunden?“
„Vor ca. einer Viertel Stunde hat Goldfeld es mir gebracht, er war sofort gekommen, nachdem er es gefunden hat.“
„Hat er jemanden in der Nähe des Hauses herumschleichen oder wegrennen gesehen?“
„Soweit ich weiß nicht, aber Sie können ihn gerne selbst befragen, er hält sich im Verwalterhaus auf.“
„Was beabsichtigen Sie zu tun, wollen Sie das Lösegeld zahlen?“
Jetzt meldete sich Friedrich zu Wort: „Das können wir nicht, soviel Geld haben Berta und ich nicht!“
Kokies nannte die Summe und der Butler sah sich in seiner Annahme bestätigt. Aber Wilhelm-Antonius wandte ein: „Natürlich habe ich nicht angenommen, dass Sie über die notwendigen Mittel verfügen. Daher habe ich mich entschlossen, Dein Einverständnis voraussetzend, liebe Friederike, für das Lösegeld aufzukommen. Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit, Anna freizubekommen, oder, Herr Bouffier?“
„Das sehe ich im Moment genauso“, antwortete dieser. „Da wir keinerlei Anhaltspunkte haben, wo und in wessen Gewalt sich Anna befindet, müssen wir auf die Forderungen der Halunken eingehen. Wir müssen das Lösegeld, wie angeordnet, im Wald deponieren. Es ist unmöglich, jemanden dort zu verstecken, um den Abholer unbemerkt zu verfolgen. Wenn die merken, dass sie entdeckt werden könnten, ist Anna in höchster Gefahr. Erst wenn sie wieder frei ist, können wir mit den Ermittlungen beginnen, um die Verbrecher zu fassen. Hinrich“, Bouffier wandte sich an seinen Assistenten, „gehen Sie bitte zum Verwaltungsgebäude und fragen Sie sämtliches Personal, das sich dort in der Nähe aufgehalten hat, ob sie jemanden Fremden gesehen haben. Versuchen Sie, so viel wie möglich rauszubekommen!“
„Jawohl Chef!“ Mit dieser knappen Antwort verabschiedete sich Hauptwachtmeister Hinrich und verließ die Bibliothek. Nun ergriff Kokies wieder das Wort: „Ich stimme Ihnen im Großen und Ganzen zu, Bouffier; morgen früh soll jemand eine Tasche mit dem Geld an der genannten Stelle deponieren. Sollte nicht aber jemand in einem Versteck die Stelle beobachten?“
„Ich schlage vor“, antwortete Bouffier, „dass Hinrich die Tasche mit dem Geld deponiert, während ich mich zuvor in der Nähe auf die Lauer lege. Vielleicht gibt es ja tatsächlich etwas zu beobachten, was mir für die weiteren Ermittlungen von Nutzen ist. Aber ich werde nicht die Verfolgung des Abholers aufnehmen, um Anna nicht in Gefahr zu bringen. Nach ihrer Freilassung werde ich, wie gesagt, die weiteren Nachforschungen beginnen und dazu muss ich natürlich„ , er wandte sich bei diesen Worten Friedrich und Berta zu, „auch Ihre Tochter befragen müssen.“
Nach dem nun das Wichtigste gesagt worden war, löste Kokies die Versammlung in der Bibliothek auf und zog sich mit Bouffier in sein Arbeitszimmer zurück, um die Einzelheiten der Lösegeldübergabe zu besprechen. Zum Abschluss ließ er sich eine kleine Reisetasche auf das Zimmer bringen. Dann schob er eine Bücherwand zur Seite und dahinter kam ein Tresor zum Vorschein, aus dem er die nötige Menge Goldmark entnahm und sie in die Tasche steckte, die er dann Bouffier übergab. Dieser fühlte sich ein wenig geschmeichelt ob des Vertrauens, das Kokies ihm entgegenbrachte, indem er das perfekte Versteck seines Tresors preisgab. Immerhin mussten dort beträchtliche Geldmengen, vielleicht auch Schmuck und andere Wertsachen gelagert sein. Auf der anderen Seite war ihm klar, dass man sich auf ihn als Polizeibeamten hundertprozentig verlassen können musste und völlige Diskretion erwarteten konnte.
Anna war zuweilen ganz alleine in dem Raum, der nachts spärlich von einer Kerze beleuchtet wurde. An Flucht war dennoch nicht zu denken, die Außentür war verschlossen, und selbst wenn sie sich durch eines der kleinen Fenster gezwängt hätte, wohin hätte sie fliehen sollen? Sie hätte sich in den endlosen Wäldern verirrt, völlig die Orientierung verloren und wäre damit verloren gewesen. Jetzt lag sie auf der Chaiselongue, mit einer Wolldecke zugedeckt. Das Feuer im Ofen brannte noch, so dass es im Raum leidlich warm war. Im Haus oder der Hütte war es ansonsten still, von draußen drang das Rauschen des Waldes hinein und von Ferne konnte man hin und wieder Wolfsgeheul vernehmen. Anna hatte am Abend eine undefinierbare Suppe, etwas Brot, Speck und Wasser bekommen und konnte tatsächlich etwas essen. Danach durfte sie sich hinlegen. Ihre Entführer taten ihr nichts an, sie behandelten sie korrekt, wenn man das in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann. Anna waren die schlimmsten Befürchtungen durch den Kopf geschossen, vor allem hatte sie panische Angst vor sexuellen Gewalttaten, aber, Gott sei Dank, erwiesen sich ihre Befürchtungen als grundlos. Diese Männer hier waren nicht die typischen Peiniger, wie man sie aus Gruselgeschichten langer Winterabende kannte. Nachdem sie sich auf die Chaiselongue gelegt hatte, versuchte sie, an etwas Schönes, Beruhigendes zu denken, um nicht erneut in Panik zu geraten. Sie konnte sich nicht vorstellen, einschlafen zu können, aber irgendwann übermannte sie doch die Müdigkeit und sie sank in einen unruhigen, von wirren Träumen begleiteten Schlaf. Zwischendurch wachte sie immer wieder auf und vernahm die Geräusche, die von draußen aus dem Wald in den Raum drangen. Hin und wieder meinte sie, ein leises, flüsterndes Gespräch vom Nebenraum zu hören; dann aber schlief sie wieder ein.
Sie wurde aus ihren Albträumen geweckt, als es draußen schon dämmerte und der Tag anbrach. Die drei Gestalten, immer noch vermummt und bewaffnet, waren im Raum und machten sich am Herd zu schaffen, offensichtlich um so etwas wie ein Frühstück zuzubereiten. In der Tat stellten sie etwas Brot, Speck und einen Becher mit bräunlicher Flüssigkeit auf den Tisch, die in ihrer Farbe Kaffee ähnelte, aber mehr oder weniger nur nach heißem Wasser schmeckte. Anna rieb sich die Augen, erstaunt über sich selbst, dass sie in ihrer Situation fast die ganze Nacht geschlafen hatte. Sie stand langsam auf, die Wolldecke beiseite schiebend und ging zum Tisch, um sich dort auf einen Stuhl zu setzen. Die drei Männer schauten hin und wieder zu ihr, schienen sie aber sonst nicht weiter zu beachten. Insgesamt war die Stimmung an diesem Morgen etwas entspannter als am Abend zuvor, aber Anna wagte es dennoch nicht, Fragen zu stellen, etwa danach, wo sie sich befand oder ob sie wieder freigelassen würde. Wortlos nahm sie einen Schluck aus dem Becher und die heiße Flüssigkeit tat gut. Von dem Brot und Speck bekam sie aber keinen Bissen hinunter. In ihrem Gefängnis befand sich kein Spiegel, aber Anna konnte sich auch so vorstellen, wie ihr Erscheinungsbild war. Die Haare zerzaust, das Kleid völlig zerknittert, das Gesicht ungewaschen, musste sie ein erbarmungswürdiges Bild abgeben. Anna war ein schönes Mädchen, nicht allzu groß, schlank mit vollen blonden Haaren, einem zierlichen Gesicht und leuchtenden Augen. Um ihren Mund lag stets ein leichtes Lächeln. Doch dieses Lächeln war ihr jetzt vergangen, ihre Gesichtszüge waren von Angst, zwischendurch von Panik und Trauer geprägt. Dennoch hatte sie nichts von ihrer Schönheit eingebüßt, ihr Anblick konnte jetzt aber eher Mitleid als Bewunderung auslösen. Der Tag verging trostlos, die Entführer sprachen so gut wie gar nichts mit ihr. Zwischendurch bekam sie immer wieder das Gleiche zum Essen angeboten: Speck und Brot und etwas zu Trinken. In dem Raum durfte sie sich frei bewegen; sie stellte sich oft an eines der kleinen Fenster und schaute hinaus, sehr abwechslungsreich war der Blick nicht: Bäume, Bäume, Bäume…. Endlich dämmerte es wieder und die Dunkelheit kam wieder, eine Dunkelheit, die auch die Seele zu erfassen schien. Anna legte sich wieder auf die Chaiselongue, doch diese Nacht konnte sie lange nicht einschlafen, ihr Heimweh wurde immer stärker. War sie jemals überhaupt schon so lange von zu Hause weg gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Maria hatte einmal davon gesprochen, Hannes in Berlin zu besuchen, aber sie hatte nicht daran geglaubt. Zwei junge Frauen alleine auf einer Bahnfahrt nach Berlin: unmöglich. Schließlich war Anna doch noch eingeschlafen, wieder in diesen von Albträumen begleiteten Schlaf.
Mitten in der Nacht wurde sie geweckt. „Aufstehen!“, befahl einer der Männer und schüttelte sie leicht an der Schulter. „Kannst Du reiten?“
Bouffier hatte sich noch in der Nacht vor Morgengrauen mit Hinrich auf den Weg gemacht und sie ritten zu der im Entführerbrief angegebenen Stelle. Die letzte Meile mussten sie zu Fuß gehen, auch das war eine Bedingung der Entführer: ein einzelner Mann, zu Fuß, sollte die Tasche an einem im Wald befindlichen genau beschriebenen Höhleneingang abstellen und sich sofort wieder entfernen. Etwa 3000 Fuß vorher trennten sich die beiden und Bouffier versuchte nun, auf versteckten Pfaden und ohne entdeckt zu werden, das Ziel zu erreichen, um den Übergabeort zu beobachten. Er musste extrem vorsichtig sein, denn jeder Schritt konnte ein Knacken im Unterholz auslösen, und je näher er dem Ziel kam, desto gefährlicher wurde es, sich zu verraten. Da er sich nur langsam fortbewegen konnte, musste Hinrich ihm einen Zeitvorsprung lassen, bevor er selbst seinen Weg fortsetzte.
Ihre Pferde hatten sie im Wald hinter sich zurückgelassen, nachdem sie diese sicher festgebunden hatten. Um keinerlei Verdacht auszulösen, war einem der Pferde der Sattel abgenommen und dieser im Unterholz versteckt worden. Anschließend beluden sie dieses Pferd mit Holz. Eine gute Tarnung: hier war ein Holzsammler mit Packpferd unterwegs. Alles in allem war der nächtliche Ausflug der Polizisten eine zeitaufwendige Angelegenheit.
Endlich hatte Bouffier sein Ziel erreicht. Er konnte von einer mit dichtem Unterholz bewachsenen Stelle den Höhleneingang ungefähr 300 Fuß vor sich sehen und war damit relativ nahe dran. Hinrich war noch nicht angekommen. Es dämmerte bereits, als er endlich die Höhle erreichte, die Tasche abstellte und sogleich den Rückzug antrat. Bouffier kauerte in gebückter Stellung im Unterholz und wartete. Durch den langen Marsch war er zunächst ins Schwitzen geraten, aber jetzt spürte er die Kälte des aufkommenden Morgens. Wie lange würde er wohl so ausharren müssen, bis sich etwas tat? Er hätte sich etwas zu Trinken mitnehmen müssen, er verspürte Durst, aber daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Bouffier überkam ein leichter Schauder; war es die Kälte oder war er etwa aufgeregt? Er wusste es nicht. Während er so dahockte, wurde er langsam müde und musste kämpfen, um seine Augen offen zu halten. Immer wieder sank ihm der Kopf auf die Brust. Aber dann war er hellwach, als er Pferdehufe hörte. Er starrte auf den Höhleneingang und auf den Weg, der zu ihm führte. Endlich konnte er etwas erkennen. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen!
Bei der Frage, ob sie reiten könne, war Anna schon fast belustigt, obwohl sie aus ihren Albträumen gerissen wurde. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie den Kerl an, der sie geweckt hatte und nickte. Geritten war sie schon als Kind, mit Hannes und Maria. Sie hatte außergewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit Pferden entwickelt und im Laufe der Zeit das Reiten wie eine ganz natürliche Art der Fortbewegung angenommen. Am liebsten ritt sie im Herrensattel mit Reithosen, was absolut unschicklich für eine Dame war; aber auch Maria bevorzugte diese Art zu reiten und die Herrschaften Kokies duldeten es stillschweigend.
Anna nickte auf die Frage, worauf der Mann fortfuhr: „Steh auf, wir werden jetzt von hier fortreiten!“ Sie wusste nicht, ob sie dies als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte. Würde sie jetzt auf ihre Freilassung hoffen können oder wollten die Entführer sie nur an eine andere Stelle bringen, um die Gefahr der Entdeckung zu verringern? Als Anna aufgestanden war, verband man ihr wieder die Augen und führte sie aus dem Haus. Die Männer schienen es eilig zu haben; es blieb nicht einmal Zeit, etwas zu essen oder einen Schluck zu trinken. Draußen vernahm Anna den wohlvertrauten Geruch von Pferden und das Schnauben der Tiere. Man führte sie zu einem Pferd und einer der Männer half ihr beim Aufsitzen, was sich als schwieriges Unterfangen herausstellte, denn Anna musste sich mit ihrem langen Reifrock in einen Herrensattel zwängen, zudem noch mit verbundenen Augen. Als sie schließlich in einer einigermaßen bequemen Position war, wagte sie kaum an den Anblick zu denken, den sie jetzt abgab. Ihr stellte sich außerdem die Frage, wie sie mit verbundenen Augen reiten sollte. Nach den Geräuschen zu schließen, saßen jetzt die anderen auch auf und der Trupp setzte sich in Bewegung. Anna hielt keine Zügel in den Händen, ihr Pferd wurde von jemandem geführt, sie hielt sich am Sattelknauf fest. Die Pferde bewegten sich im Gang fort, also nur sehr langsam. Es wurde kein Wort gesprochen. Nach einer Weile, Anna schätzte sie auf etwa eine Stunde, machten sie plötzlich Halt. „Wie gut kannst du reiten?“, fragte sie einer der Burschen, worauf sie knapp antwortete: „Ziemlich gut.“ Jetzt wurde ihr die Augenbinde abgenommen und Anna sah, dass noch tiefe Nacht herrschte, der Mond aber den Weg, auf dem sie sich befanden, einigermaßen hell erleuchtete. Ringsherum war nur Wald, scheinbar endlos, aber besonders tief konnte man nicht ins dunkle Gehölz blicken. Anna erkannte, dass sie diesmal von nur zwei Reitern begleitet wurde, einer von ihnen hielt die Zügel ihres Pferdes. Ihr Rock war bis zu den Hüften hochgerutscht und ballte sich auf beiden Seiten des Reittieres wie zwei mächtige Ballons, was einen geradezu grotesken Anblick bot. Unter anderen Umständen hätte sie sich geschämt, aber jetzt stand die Angst im Vordergrund ihrer Gefühle. Der Reiter, der bis jetzt ihr Pferd geführt hatte, drückte ihr nun die Zügel in die Hand und sie setzten sich wieder in Bewegung. Ein Mann ritt vor ihr, der andere hinter ihr. Einen Moment lang schoss ihr der Gedanke an Flucht durch den Kopf, aber sie verwarf ihn sogleich wieder. Zunächst setzten sie ihre Reise im Trab fort, dann fielen sie in Galopp, erst langsamer, dann immer schneller werdend. Sie wechselten mehrmals auf andere Waldwege und Anna verlor vollends die Orientierung, aber sie konnte den schnellen Galopp gut mithalten. Es fing langsam an zu dämmern, als sie das Tempo verringerten, zunächst in Trab und dann in Gang. Jetzt merkte Anna, wie sehr sie der schnelle Ritt angestrengt hatte, sie fühlte sich erschöpft. Plötzlich hielten sie an, einer der Männer sprang vom Pferd und eilte auf einen Höhleneingang zu. Auch der andere stieg ab und forderte Anna auf, dergleichen zu tun. Er führte Anna ebenfalls in Richtung Höhle und sagte: „Setz dich auf diesen Baumstumpf und warte!“
Sie schienen es jetzt verdammt eilig zu haben. Der erste kam mit einer Tasche zurück, sie rannten zu ihren Pferden, sprangen förmlich in die Sättel und galoppierten in die Richtung, aus der sie gekommen waren davon, das dritte Pferd im Schlepptau.
Es dauerte nicht lange, bis sie aus ihrem Blick verschwunden waren und das Geräusch der Pferdehufe verstummte. Anna konnte noch gar nicht erfassen, was sich hier abspielte, sie war mutterseelenallein mitten im Wald. Gott sei Dank wurde es immer heller und ihr kam die Umgebung irgendwie bekannt vor. Als sie sich gerade entschlossen hatte, aufzustehen und einen Weg zu suchen, fuhr ihr ein gewaltiger Schreck in die Glieder: Sie vernahm ein deutliches Knacken im Unterholz, dass eindeutig von einem Menschen oder einem großen Tier herrühren musste. Anna starrte wie gebannt in die Richtung, aus der es kam. Und plötzlich trat ein Mann aus dem Gehölz. Bevor Anna schreien konnte, sprach er sie mit einem freundlichen Lächeln an: „Sie sind Anna, nicht wahr?“