Mary und das geheimnisvolle Gemälde

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In ihr des Frühlings Hoffnungsreich;
sie liebte die Welt so sehr.
Dann war sie Amselsommersang,
kannte Liebe, Freud‘ und Leid,
sang zu der Abendglocken Klang
von Glück und Traurigkeit.
Früh kam der Herbst. Ein blinder Sturm
trug sie auf Schwingen fort,
stark wie der Falke auf dem Turm.
Wohin? An welchen Ort?
nach Irene Fischer
Wie sehr Mary ihnen allen fehlte, spürten sie gerade heute. Noch immer mangelte es ihnen an Zeitgefühl, doch der Kalender sagte ihnen, dass sie bereits seit sieben Monaten nicht mehr unter ihnen lebte. Sie war der Mittelpunkt der Familie gewesen. Nun war ihr Platz leer und doch ihre Anwesenheit immer noch in jedem Winkel des Hauses, im Garten und im Malepartus zu spüren. Else ertappte sich immer wieder, dass sie – mitten im Alltag - zum Flügel blickte und erwartete, wie seit ihrer Kindheit, dort die Mutter zu sehen; immer noch hörte sie die vertrauten Klänge, wie früher Tag für Tag, und summte mit. Mary fehlte ihnen allen so sehr, dass - trotz der Ablenkung durch die Kinder - der Schmerz ihre Lebensfreude immer wieder lähmte.
An manchen Tagen war es Else, als würde sie erst jetzt die Endgültigkeit erfassen und die Trauer ergriff erneut ihre Brust mit einer Heftigkeit, dass sie in Tränen ausbrach und die Sehnsucht nach der Mutter sie aufstöhnen ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie mit ihr auch ihre einzige Freundin verloren hatte, dass es nun niemanden mehr gab, mit dem sie so offen über alles reden konnte, was sie bewegte, wie mit ihrer geliebten Ma.
Urplötzlich war eine Stille im Zimmer, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Und mit einem Mal war diese Andacht erfüllt vom Aroma des vertrauten Parfums mit dem dezenten Lavendelduft und einem Hauch Bergamotte, als ob die geliebte Mutter anwesend wäre. Else schloss die Augen, sie konnte es sich nicht erklären und wusste doch: Ma ist bei uns. Sie spürte ihre Arme, so wie nie ein Tag vergangen war ohne eine herzliche Umarmung von ihr und ohne ein paar liebevolle Worte.
Und ganz plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl von einst, die Liebe der Mutter. Else hörte in ihrem Inneren die wohlklingende Stimme mit dem vertrauten amerikanischen Akzent, wenn sie - wie jedes Jahr - vom Wunder der Christnacht sprach, das in uns allen geschieht, wenn wir dazu bereit sind. Sie hörte, wie Ma mit ihrer sanften Stimme sagte: „Mein Elsle, das Leben in der Liebe geht weiter als der Tod.“ Else war sich sicher, Mutters Hand zu spüren, die ihr liebevoll und zärtlich die Wange streichelte. Sie legte eine Hand auf die Brust und atmete tief ein. Ja, dies war ihr Wunder dieser Christnacht. Sie würde den Geist dieses Hauses weiterpflegen, Marys Herzensgüte wie ein Vermächtnis bewahren und mit neuem Leben erfüllen. Else erhob sich, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn schweigend, zum allerersten Mal seit Mutters Tod, und ging mit dieser liebevollen Umarmung von einem zum anderen.
In der darauffolgenden Woche hatte Richard seine Praxistätigkeit wieder aufgenommen. Nach und nach fand er auch erneut Freude daran, Artikel und Kurzgeschichten, aus denen die Liebe zu seinen „Spessartern“ und ihrem kantig-herzlichen Naturell sprach, für die „Spessartzeitschrift“ zu verfassen. Unermüdlich war er wieder das Sprachrohr für die Sorgen um die wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Spessartbewohner. Als Arzt im Spessart, seiner Wahlheimat, trat er in all den Jahren immer nur für das Wohl „seiner Spessarter“ ein, war vertraut mit ihren Sorgen und Freuden, ihren Wäldern, ihren Feldern und Wiesen. Er kannte die Bauern, Köhler, Fuhrleute, Holzhauer, die er bei ihrer Arbeit beobachtet hatte. Und mit den Jahren erhellte nach dem Tod seiner geliebten Frau nun vor allem die Malerei mehr und mehr seinen Lebensabend.
Seine Jüngste, die erst 19-jährige Hermi, wohnte mittlerweile in Altona bei Onkel Franz, Marys Bruder, und sollte dort als Arzthelferin in seiner Praxis ausgebildet werden. Bevor sie abgereist war, hatten die beiden Schwestern begonnen, die schönen Kleider ihrer Mutter untereinander aufzuteilen und waren sich nicht immer einig. „Ich möchte so gerne Mas Ring nach Altona mitnehmen, damit ich etwas von ihr bei mir habe“, bat Hermi ihre Schwester. Schweren Herzens trat Else ihr den wertvollen Diamantring ab, den Mary schon vor ihrer Heirat besaß und den sie nie abgelegt hatte.
Die große Schwester war ein wenig neidisch auf die jüngere, die nun in Altona ein unabhängiges Leben führen konnte, wogegen sie selbst im Elternhaus blieb und - wie für alle selbstverständlich - die Aufgaben ihrer Mutter übernommen hatte. Trotz all ihrer Bemühungen wurde sie das Gefühl nie los, nicht genug zu tun, denn Papa und Bruder Franz, der regelmäßig heimkam, hatten ständig etwas auszusetzen. In Hermi sah Else das verwöhnte Nesthäkchen. Eine Bitte von Dir hat Pa noch nie abgeschlagen, wogegen er sich mir gegenüber oft als geizig zeigt!, beklagte Else sich im Brief an ihre Schwester. Sie selbst hatte keine Einnahmen und Ludwig verdiente noch nicht genug, um die Kosten für das Haus und die Angestellten übernehmen zu können. Die Haushaltsführung lag inzwischen in Elses Hand und es war ihr äußerst unangenehm, wenn sie ihren Vater nun um Geld bitten musste. „Er ist so knausrig, gibt mir immer nur kleine Summen, als ob er Sorge hätte, ich würde zu viel ausgeben“, klagte Else. „Papa ist immer noch genauso schweigsam wie früher. Ich weiß über die finanzielle Situation im Haus nicht Bescheid, zudem verschickt Vater seine Praxisrechnungen immer selbst.“
Richard, der es als seine väterliche Pflicht ansah, seine jüngste Tochter darin zu unterstützen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, hatte dafür gesorgt, dass Marys Bruder sie in seine Familie aufnahm. Nun, da sie zum ersten Mal so weit von ihm weg war, vermisste er sie. In Hermles Gesicht fand er dasselbe Leuchten, wenn sie lächelte, wie bei seiner Frau. Es war Marys strahlendes Wesen, eine Anmut, die ihm vertraut war, wenn er nun sah, wie seine Jüngste auf Menschen zugehen und sie in den Bann ziehen konnte. Je mehr er erkannte, wie ähnlich sie ihrer Mutter war, umso mehr vermisste er sie und schrieb ihr schwermütige Briefe nach Altona. Die Tochter plagte im fernen Norden immer mehr das schlechte Gewissen, gerade jetzt nicht an Vaters Seite zu sein. Dass sie schon lange die Sehnsucht in sich trug, endlich einmal etwas von der Welt zu sehen, wussten die Eltern seit einiger Zeit. Nun hatte der Vater selbst eingesehen, dass ihr als jüngere Schwester an Elses Seite im Elternhaus kein eigenständiges Arbeiten möglich war.
Schon am 16. Januar 1921 war ein Brief an sein liebes Hermle unterwegs: Verzeih, wenn ich manchmal brummig war. Verzeih dem einsamen Vater, denn Du bist fort und er ist noch immer brummig. Mit Dir ist auch Frau Musika, Eurer lieben Mutter Freundin, aus dem Hause gezogen.
Seit Marys Tod stand der Flügel verlassen, wie ein vergessenes Möbelstück, im Speisezimmer. Es war, als hätte die Trauer im Haus nicht nur das Lachen der Menschen, sondern auch seinen Klang verstummen lassen. Trotz seiner Schwermut legte Richard der Tochter dringend ans Herz, weiterhin im Haus des Onkels zu bleiben: Und wenn Dich einmal Herz und Heimweh ruft, dann komm wieder zu uns. Vorderhand kann vom Fortgehen von Lu oder gar Else und den Kindern noch keine Rede sein. Gegebenenfalls würde das auch nicht von heute auf morgen gehen. Linus (der Knecht) ist ja jetzt nicht mehr bei uns und wird höchstens einmal auf 14 Tage kommen. Diese Kosten sind dann gespart und da es zweifelhaft, ob Lene (die Haushälterin), die fort möchte, also auch der Trauer entfliehen wird, noch länger bleibt, so haben wir auf Tante Linas Empfehlung hin ein Fräulein Wohlgemuth, vierzig Lenze zählend, im Sinne, anzunehmen. […] dann wäre doch jemand da, der sich ganz alleine verantwortlich der Hausführung widmen würde. Ich bin nicht optimistisch, sehe aber ein, dass ich so jemanden haben muss.
Gestern Abend war ich mit Else und Lu auf einem Konzert in Eschau, das der Musiklehrer Wolf am Klavier, begleitet von einem Cello und einer Sängerin, veranstaltete. Alle Größen waren vertreten und nach Schluss wurde bei Pfarrer Löffelholz weiter musiziert. Ich war zu trübe gestimmt, mir fehlte Euer Mutterle. Ich ging vorzeitig heim und las bis die anderen kamen. […] Ich muss ja jetzt doch die Stelle Eurer Mutter einnehmen und dabei die nötigen Briefe schreiben. So lang es geht, geht es, wie man sagt. Allmählich verkleinert sich ja auch der Kreis, um dann mit mir ganz aufzuhören …
Im fernen Altona litt Hermi immer mehr unter Heimweh. Im Haus des Onkels und der Tante fehlte die liebevolle Atmosphäre, die sie von ihrer Mutter kannte. Sie waren zwar freundlich zu ihr, aber distanziert. Auch das Arbeiten in der Arztpraxis erfüllte Hermes nicht. Einzig die Abende, an denen sie mit Onkel Franz musizieren konnte, machten die Zeit erträglich. Nach einem halben Jahr war sie erleichtert, wieder abreisen zu können. Doch ohne Ma war auch die Villa Elsava nicht mehr ihr Zuhause. Durch die Unterstützung ihrer Mainzer Freundin begann sie bald eine Ausbildung zur Korsettmacherin und konnte nach kurzer Zeit ein eigenes kleines Geschäft eröffnen. Es sprach sich schnell in Mainz herum, wie geschickt sie Mieder nach Maß anfertigen konnte und die Damen der gehobenen Gesellschaft wurden bald gute Kundinnen.
Frieden und Krieg
Am 24. Juni 1922 ging eine Eilmeldung durch die Presse: Außenminister Walter Rathenau auf dem Weg ins Auswärtige Amt ermordet! Am Abend zuvor hatte er noch bis in die frühen Morgenstunden bei einem Essen mit dem amerikanischen Botschafter Alanson Houghten den deutschen Standpunkt in der Reparationsfrage erläutert und über eine „Abkehr von der bisherigen Erfüllungspolitik“ diskutiert. Durch seine widerspruchsvolle politische Haltung wurde er von vielen Seiten angefeindet und hatte Mühe, Unterstützung zu finden für seine neue entspannungsfördernde Politik. Zwar war Berlin weit weg, doch die Erleichterung über den Frieden wurde allgemein getrübt durch den verlorenen Krieg und den erzwungenen Friedensvertrag von Versailles. Die tief empfundene Ungerechtigkeit heizte landesweit die Debatten im Volk an.
Am 31. Januar 1922 war Rathenau zum Außenminister ernannt worden, um Deutschland bei der Weltwirtschaftskonferenz in Genua zu vertreten. In der Reparationsfrage gelangen ihm keine Fortschritte, aber er fand sich unter Bedenken bereit, am 16. April 1922 mit Sowjetrussland einen bilateralen Sondervertrag abzuschließen, um Deutschland außenpolitisch mehr Handlungsspielraum zu verschaffen. Obwohl dieser Schritt von nationaler Seite begrüßt wurde, hielt es die Organisation Consul nicht davon ab, später ein Attentat auf Rathenau zu verüben. Er wurde als ältester Sohn des deutsch-jüdischen Industriellen Emil Rathenau (des späteren Gründers der AEG) in Berlin geboren. Rückblickend schrieb er über seine Jugendzeit: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann. Die traumatisch erlebte Kluft zwischen Zugehörigkeit zur Elite und gleichzeitiger Diskriminierung begleitete ihn lebenslang und enthält vielleicht die Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte, nämlich den - sich über Generationen hinstreckenden - Versuch, die jüdische und die deutsche Identität miteinander in Einklang zu bringen, ohne sich weder in der einen noch in der anderen wirklich zu Hause zu fühlen. Als Präsident der AEG reichte Rathenaus Einfluss weit über den Konzern hinaus. Er war überzeugt, eine Planwirtschaft wäre die notwendige Ergänzung zum Marktmechanismus und könne so dazu verhelfen, soziale Schieflagen und überzogene Profite zu vermeiden. Noch am Tag der Ermordung Rathenaus wurden die Funktionäre der rechtsextremen Organisation Consul festgenommen. Die O. C. war eine nationalistisch und antisemitisch gesinnte terroristische Vereinigung während der Weimarer Republik, eine paramilitärische Organisation, die als Geheimbund aufgebaut war. Sie verübte politische Morde mit dem Ziel, das demokratische System der jungen Republik zu destabilisieren, eine Militärdiktatur zu errichten und die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, insbesondere den Friedensvertrag von Versailles, zu revidieren. Bei der vorzeitigen Haftentlassung einer der Mörder Rathenaus wurde der Täter von einer Musikkapelle der paramilitärischen Wehr-Organisation „Stahlhelm“ begrüßt, dessen Ehrenmitglied Reichspräsident von Hindenburg war. Dies zeigte schon seine undemokratische, reaktionäre Einstellung. Im August 1921 wurde der bei den Rechten verhasste Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Schwarzwald von der O. C. ermordet. Der Mordversuch am 4. Juni 1922 an Philipp Scheidemann, der bereits 1883 in die verbotene SPD eingetreten war, scheiterte. Vermutlich war die Gruppe auch verantwortlich für die Ermordung von Karl Gareis, der überzeugter Sozialist und zuletzt als Lehrer in Aschaffenburg tätig war. Ihre etwa 5000 Mitglieder bestanden zum größten Teil aus ehemaligen Offizieren des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine sowie der Freikorps. Ihr Motto war die Bekämpfung alles Antinationalen und Internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien, mit dem Ziel, durch die Ermordung von exponierten Personen der Demokratie, die Republik zu beseitigen. Vor allem Politiker jüdischer Abstammung zählten dazu, aber auch Politiker der demokratischen Parteien der Mitte, der Linken sowie Pazifisten und Politiker, die an den Verhandlungen des Versailler Vertrages beteiligt waren. In einer Hetzschrift der Freikorps hieß es: Auch Rathenau, der Walter, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau.
Eines der bekanntesten O.-C.-Mitglieder war der Schriftsteller Ernst von Salomon, der als Rechtsterrorist (Für einige Historiker gilt er als Wegbereiter des Nationalsozialismus.) an der Vorbereitung von politischen Verbrechen, wie dem Mord an Rathenau, beteiligt war. Anfangs war die Organisation sogar von der Reichsregierung und der Reichswehrführung geduldet, da sie hofften, mit ihrer Unterstützung die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages unterlaufen zu können. Salomon erreichte mit seinen Büchern „Dokumente vom Kampf um die Wiedergeburt der Nation“ etc. im Nationalsozialismus sehr hohe Auflagen. Auf der Grundlage des im Juli 1922 erlassenen Republikschutz-Gesetzes wurde die O. C. verboten. Als Nachfolgeorganisation wurde der Bund Wiking gegründet. In der Zeit des Dritten Reiches wurden die Mitglieder der O. C. der SS unterstellt.
Rathenau war lange Zeit einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne ausgeliefert gewesen. Seine Aussage, wonach die Geschicke der Welt von etwa 300 mächtigen Männern geleitet würden, war zu der Denunziation umgedeutet worden, Rathenau selbst wäre einer der „300 Weisen von Zion“, die mit ihm an die Macht gelangt seien. 1920 wurde erstmals eine deutsche Fassung - der ursprünglich in Russland erschienenen - unter dem Titel „Die Geheimnisse der Weisen von Zion“ (von Ludwig Müller von Hausen) herausgegeben. Der Gründer und Vorsitzende des Verbandes gegen die „Überhebung des Judentums“ pflegte in Berlin intensive Kontakte zu rechtsextremen russischen Emigranten. Diese sogenannten Protokolle waren nur eine von vielen antisemitischen Veröffentlichungen, die das Land überschwemmten. Dennoch zeigte ihr publizistischer Erfolg, dass in der Weimarer Republik das Bedürfnis nach einem Sündenbock für den Sturz der Monarchie und für die Niederlage im Weltkrieg angesichts der eigenen rassischen Überlegenheit - die die völkische Bewegung immer verkündet hatte - groß war. Die „Protokolle“ vereinten eine Vielzahl von Klischees, die den antisemitischen Diskurs prägten. So wurden darin Juden grundsätzlich als Feinde der Christen dargestellt. Als Ziel der Juden wurde die weltweite Herrschaft - ihres Glaubens und des Glaubens an ihre „göttliche Auserwähltheit“ - in dem von ihnen beherrschten „Universalstaat“ dargestellt. Zudem wurden ihnen Ehrgeiz, Rachsucht und Hass auf die Christen unterstellt. Die Vorstellung, die Juden seien grundsätzlich feindlich gegen Christen eingestellt, wurzelt im Antijudaismus (seit Beginn des Christentums), der ihnen „verstockte“ Verweigerung von Bekehrung und Taufe, Gottesmord, Hostienschändung sowie angebliche Bündnisse mit dem Teufel vorwarf. Zweifel an der Echtheit der Protokolle kamen schon sehr früh auf. Es wurde vermutet, dass der gesamte Text ein böswilliges Phantasieprodukt war, wonach die Juden wegen ihrer angeblichen Rolle in der russischen Revolution 1905 verleumdet wurden.
Die NSDAP stützte sich in ihrer Propaganda stark auf diese „Protokolle“ und verbreitete deren „aufsehenerregenden Enthüllungen“ seit 1921 in auflagestarken Flugblättern. In „Mein Kampf“ schrieb Hitler: Die Protokolle der Weisen von Zion sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die Frankfurter Zeitung in die Welt hinaus, der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Irgendein Beweis, dass die sog. Protokolle irgendwo und irgendwann von einem oder mehreren Juden im Auftrag einer geheimen „jüdischen Weltregierung“ ausgearbeitet, vorgetragen oder beraten worden sind, wurde nie erbracht. Die Nationalsozialisten solidarisierten sich noch während der Weimarer Republik mit den Attentätern, obwohl die Mörder Rathenaus eine monarchistische Gegenrevolution auslösen wollten und keine faschistische Nationalrevolution.
Nach 1945 wurde das Schlagwort von dem „ersten Opfer des Dritten Reiches“ populär. Rathenau sei sowohl ein erstes Opfer des Dritten, wie ein letztes Opfer des Zweiten Reiches gewesen. Die politischen Reaktionen auf das Attentat waren enorm. Es kam zu Tumulten, Millionen Deutsche demonstrierten in Protestkundgebungen und Trauerzügen gegen den konterrevolutionären Terror, aber der Bürgerkrieg, auf den die Terroristen gesetzt hatten, blieb aus. Die Reaktionen auf die Ermordung Rathenaus stärkten letztendlich die Weimarer Republik. Das Deutschlandlied wurde zur Nationalhymne erhoben. Die Bevölkerung sah die Ermordung ihres Außenministers als Opfer für die Demokratie.
Else und Ludwig hatten sich ihr Leben mit den Kindern nun endgültig in der Villa eingerichtet. Schweren Herzens musste Ludwig seine beruflichen Pläne aufgeben. Jetzt, nach Kriegsende, fand er den Anschluss an sein Philosophie-Studium nicht mehr. Dozent an einer Universität zu werden, war während der Kriegsjahre sein ersehntes Ziel gewesen.
Dennoch arbeitete Ludwig in Anlehnung an Platons Werk „Politeia“ an einer Abhandlung „Der Staatsmann“, die in einem Buch des „Leuchter“, einem Verlag für philosophische Schriften in Darmstadt, 1922 veröffentlicht wurde. Er ließ seine Frau nicht nur gerne teilhaben an seinen Gedanken, er diktierte ihr sogar den über zweihundert Seiten langen Text, den sie mit ihrer schönen Handschrift für den Verlag zu Papier brachte. Lu zitierte Platon, der Sokrates‘ Texte niederschrieb: Das wichtigste, was wir Menschen im Leben lernen müssen, ist nachzudenken. Er vertiefte sich in Nietzsches Werke und stimmte überein mit Hegel: Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.
Else war durch eine unerwartete Schwangerschaft sehr erschöpft und die übernommene Verantwortung überforderte sie. Ihre Schwiegereltern und die Schwägerin boten ihr an, die siebenjährige Liselotte einige Zeit zu sich zu nehmen. In Rheinhessen konnte sie zur Schule gehen und erhielt die bestmögliche Förderung des Opas, der ihre musische Begabung erkannte und nach den Hausaufgaben täglich mit ihr am Klavier saß.
Am 19. Januar 1923 kam der kleine Wilhelm Otto Franz zur Welt. Die Geburt setzte sehr plötzlich und einige Wochen zu früh ein. Der zarte Junge war zu schwach und lebte nur einen Tag. Else war sehr geschwächt und erholte sich nur langsam.
Mie bemühte sich täglich, Opapa von seinem Heimweh nach Lisekind abzulenken, die inzwischen in Darmstadt ein Gymnasium mit Internat besuchte, und die beiden temperamentvollen Buben brachten ihn mit ihren Streichen zum Lachen.
Am Heiligen Abend 1935 überraschte Richard seine Tochter Else mit einem Bild, auf dem er einen Rosenstrauß in zarten Pastellfarben festhielt, den er erst einen Tag zuvor zusammengestellt hatte. Der sonnige Herbst war in einen außergewöhnlich milden Winter übergegangen. Kein Frost hatte die zarten Rosenblüten zerstört und Richard schnitt behutsam von Marys Rosenstock die letzten vollerblühten weißen Rosen. Viele Stunden hatte er sich mit Hingabe seinem Werk gewidmet, versunken in Erinnerungen der gemeinsamen Jahre. Bevor er das fertige Bild in den vergoldeten Rahmen legte, schrieb er Rosen zu Weihnachten 1935 darunter. Else wusste, Papa hatte die weißen Rosen für seine Frau gemalt und stellte das Bild neben Mutters Urne.
1933 war die Machtergreifung durch Adolf Hitler erfolgt. Am 11. September 1938 schrieb Else begeistert auf ihrer Ansichtskarte mit einem Foto vom Führer - neben B. von Schirach, dem Leiter der HJ, - in seiner Grußhaltung mit ausgestrecktem Arm (der stereotype „Deutsche Gruß“) beim Vorbeimarsch der Hitlerjugend unter dem Hakenkreuz: Hurra, den Führer gesehen! Tapfer erkämpft im drückendsten Gewimmel. Hoffe heute Abend wieder erleben zu dürfen, den Führer zu sehen. Innigst Eure Mutsch. Else und Lilo waren in Begleitung einer Freundin mit dem Fahrrad mehrere Tage unterwegs gewesen nach Nürnberg zum Reichsparteitag. Seit einigen Monaten leitete Else mit ihren beiden Töchtern für den BDM (Bund deutscher Mädchen) im Park ein fröhliches Beisammensein für junge Frauen im Dorf. Sie kamen gerne, denn die leichte Gymnastik und frohen Lieder waren wie eine Belohnung für die harte Arbeit zu Hause auf dem Bauernhof. Daneben war Else engagiertes Mitglied in der NS-Frauenschaft.
Nach einundzwanzig Jahren einer fragilen Friedenszeit und der Machtergreifung Hitlers brach 1939 erneut ein Krieg aus. Die Wunden des verlorenen Ersten Weltkrieges waren noch lange nicht verheilt. Eine ganze demoralisierte Generation ließ sich vom Hitler-Regime überzeugen, dass die Schmach des verlorenen Krieges nur durch einen grandiosen Sieg in einem erneuten Krieg zu vergelten wäre. Kaum einer im Land wollte nicht gerne den Versprechungen glauben.
Nach Hitlers Überfall auf Polen 1939 (ausgelöst durch eine von der SS inszenierten, angeblich polnischen Besetzung des Reichssenders Gleiwitz, Nähe Kattowitz) und der daraus resultierenden Kriegserklärung Englands und Frankreichs, aufgrund des Beistandspaktes mit Polen, war der Flächenbrand mitten im Herzen Europas entfacht und breitete sich als Zweiter Weltkrieg aus. Nach den schnellen Anfangssiegen, des sogenannten Blitzkrieges über Polen und Frankreich, gelang es Hitler, mit seinen Parolen und Versprechungen eines Endsieges, den Kampfgeist für das Vaterland bei vielen jungen Männern zu wecken.
Am Abend war Richard - wie am Ende jedes Tages - in Gedanken bei seiner geliebten Frau und erzählte ihr von den aktuellen Ereignissen. Vor allem lauschte er auf ihre vertraute Stimme, ihre warmherzigen Worte, die trotz der jahrelangen Trennung, nach wie vor nicht in ihm verklungen waren: Jetzt sah er wieder in ihre tränenfeuchten Augen, als sie vor Jahren zu ihm sagte: „Richard, ich denke gerade an die Worte von Hegel: ‚Alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge ereignen sich zweimal.“ Hatte Mary den Zweiten Weltkrieg etwa vorausgeahnt?
Nach Kriegsende 1918 hatte Ludwig eine Stelle als Ausbilder im Werksunterricht der „Glanzstoff“ - die größte Firma im Umkreis für Kunstfaserprodukte - angetreten. Diese Aufgabe war allerdings nicht das, was er sich nach seinem Philosophie-Studium vorgestellt hatte und so sah er seine erneute Einberufung zum Militär als eine Herausforderung, die ihm Abwechslung brachte und auch neue Anerkennungen, mit denen er an seine Auszeichnungen während des Ersten Weltkrieges anknüpfen konnte. Im Mai 1940 hielt Ludwig sich bereits in Bad Orb als Hauptmann mit seiner Kompanie zur Ausbildung auf. Auch sein Sohn Richard hatte sich freiwillig gemeldet und war längst mit seinen Kameraden auf dem Weg nach Finnland.



