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Automatisch führt mich mein Weg ins Badezimmer. Zeit für den schlimmsten Moment des Morgens: den Blick in den Spiegel. “Du siehst heute schlimm aus.”, murmele ich vor mich hin. Die Augenränder sind tief, die Augen selbst klein. Die Wangen, früher straff und rund, fallen langsam ein und hängen nur noch schlaff da. Die Haare sind völlig zerzaust, der Bart zu lang. “Kein Wunder, dass du so niemanden findest.” Ich greife zum elektrischen Bartschneider und stutze den Bart zurecht. Danach schnappe ich mir meinen Kamm und versuche, die Haare geschickt über die kahlen Stellen zu verteilen. Geht schon irgendwie, so genau schaut eh keiner hin. Zeit für die nächste Tasse Kaffee. Eine der zwei Birnen der Küchenlampe flackert, die andere ist seit Monaten kaputt. Muss ich unbedingt mal dem Vermieter sagen, der soll sich drum kümmern.


Die Funktionskleidung saß auch schon mal besser. Wäre ich letzte Woche doch noch zweimal mehr trotz des schlechten Wetters gelaufen. Man wird nicht jünger darf nicht so häufig als Ausrede gelten, die Beine hochzulegen und nichts zu tun. Die neuen Laufschuhe allerdings fühlen sich fantastisch an, leicht und doch gut gepolstert federn sie meine Schritte ab. Der nächste offizielle Marathon ist nur noch knapp zwei Monate weg, bis dahin steht drei- bis viermal die Woche laufen auf dem Programm - immer mindestens einen Halbmarathon und mindestens einmal in der Woche auch die Gesamtstrecke. So schnell wie vor fünf Jahren bin ich nicht mehr, aber bei den letzten drei Rennen war ich immer unter den besten Fünf in meinem Alter. In den Rennen merke ich den Unterschied zu den alltäglichen Läufen. Letztere sind durch hügeliges Terrain und daher bedeutend anstrengender als die flachen Laufstrecken, bei denen es um Medaillen geht. Zwei Silbermedaillen liegen in der Schublade meines Schreibtisches, für Gold hat es nie gereicht. Ich rede natürlich nicht von Olympia, das waren immer ganz andere Dimensionen mit all den Stars aus Afrika.
Eines der Probleme, wenn man in einer Stadt Marathon laufen möchte, ist der Verkehr. Es dauerte knapp sechs Monate, bis ich eine Strecke gefunden hatte, bei der ich auf keine Ampel warten musste und ohne anzuhalten durchlaufen konnte. Dabei handelt es sich um einen Rundkurs, der entlang der Goethestraße führt, beim Theater links reingeht, vorbei am Zoo und dem kleinen Naturschutzgebiet bis an den Stadtrand. Von dort aus schwenke ich in Richtung Tannenallee, dann wieder links in die kleine Parkanlage beim Sendeturm, vorbei an meiner Arbeitsstätte und über die Fußgängerbrücke zurück wieder Richtung Goethestraße. Beim ganzen Marathon drehe ich zwei von diesen Runden. Heute habe ich die Zeit dafür, schließlich war ich ja früh hoch.
Als ich am Theater vorbeilaufe, lese ich auf einem der Schilder, dass heute Abend eine Vorführung von einem regionalen Künstler läuft, über den ich auch schon geschrieben habe. Sein Name ist Bernard Veteri und sein neuesten Stück Der Preis der Erkenntnis soll sehr tiefgründig sein. Vielleicht kann ich es mir zu Recherchezwecken demnächst anschauen. Ein paar Minuten später ist die kleine Parkanlage, wie ich erwartet hatte, noch ziemlich verlassen. Lediglich eine ältere Dame mit Hund begegnet mir dort, würdigt mich allerdings keines Blickes. Wer weiß, wo sie mit ihren Gedanken war. An der Fußgängerbrücke, die über insgesamt vier Spuren verläuft, hängt ein großer Banner, der mir ins Auge fällt. Welchen Sinn oder von wem er dort aufgehängt worden ist, erschließt sich mir zwar nicht, aber in großen Buchstaben ist dort zu lesen: Das Wahre vom Bequemen zu unterscheiden, erfordert Mut. Klingt wie aus einem Film, irgendwas, das eine alte, weise Frau zu einer jungen Frau sagen würde.
Nach Ende meiner ersten Runde kommen mir Seitenstechen, das passiert mir alle paar Wochen immer wieder mal. Gewöhnlich verschwinden die Schmerzen aber nach kurzer Pause schnell und ich kann meinen Lauf fortsetzen. Wäre heute Wettkampf, würde ich selbstverständlich durchlaufen, aber den Zwang brauche ich mir in meinem Alter, jetzt beim normalen Laufen, nicht zu geben. Ich halte deshalb in der Nähe eines Kiosks an, neben dem eine Litfaßsäule steht. Wer liest die Anzeigen darauf überhaupt noch im Zeitalter von Smartphones und Social Media? Mindestens eine Person, ertappe ich mich selbst. Nochmals Werbung für das Theater, eine entlaufene Katze wird vermisst, veraltete Anzeigen von diversen Konzerten und noch so ein seltsamer Spruch, der ohne Grund dort steht: Wie eine Pflanze irgendwann den Weg durch den Asphalt findet, so findet auch der Kern der Wahrheit irgendwann den Weg durch das Geflecht an Lügen. Ob das alles Teil einer großen Kampagne ist? Aber wofür?
“Die neuen Forschungsergebnisse sind bahnbrechend. Niemand hätte gedacht, dass so etwas möglich ist.”, höre ich einen jungen Mann sagen. Seine Gesprächspartnerin erwidert, “Ich zuallerletzt! Ich bin damit aufgewachsen, dass es nichts, aber auch gar nichts gibt, was in der Lage wäre, die chemische Verbindung zwischen diesen Molekülen aufrechtzuerhalten - es macht ja auch gar keinen Sinn.” Wahrscheinlich sind die zwei Arbeitskollegen, irgendwelche Forscher. Der Mann nickt. “Eigentlich nicht, aber die Versuche haben es ein ums andere Mal gezeigt. Die veröffentlichten Paper scheinen stichfest zu sein. Ist ein wenig so, wie die Menschen sich gefühlt haben müssen, als die Erkenntnis aufkam, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern sich um die Sonne dreht.” Sie lacht nur. “Also dieser Vergleich ist doch etwas überzogen. Du sollst doch nicht immer übertreiben.”, ermahnt sie ihren Gesprächspartner und fügt dann an, ”Aber ich weiß, was du meinst. Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, damit diese Entdeckung Auswirkungen auf unser aller Leben haben wird.” Worüber die zwei wohl genau sprechen? Nachdenklich blickt der Mann gen Himmel: “Das weiß wohl nur Gott, aber wenn du mich fragst, nicht lange. Bei all dem wissenschaftlichen Fortschritt, den die Menschheit in den letzten Jahren gemacht hat, bei all der Beschleunigung und bei all dem rasanten Wandel finden die schlauen Köpfe da oben bestimmt innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre diverse geniale Anwendungen. Und der Markt regelt den Rest, das ist ja bekannt.” Es wird Zeit weiterzulaufen, denn das Seitenstechen hat aufgehört. Worum es bei dem Gespräch genau ging, finde ich leider nicht heraus. Aber was soll’s, auf in die zweite Runde.
Am Ende meiner zweiten Runde, die ich ohne jegliche Beschwerden absolviere, halte ich noch kurz beim Bäcker um die Ecke - ja, den gibt es hier tatsächlich noch - und hole mir zwei belegte Brötchen mit Salat, einem saftigen Stück Fleisch und ein paar Gurken und Tomaten. So günstig kann man es ja nicht selber machen, zumal die Zeit für die Zubereitung wirklich besser genutzt werden kann. Ich bezahle bar, da gehöre ich zur aussterbenden Sorte. Die meisten Menschen, die mir in meinem Alltag sonst beim Einkaufen auffallen, sind überzeugte Kartenzahler. Ich mag das Kleingeld aber irgendwie und für meine Laufrunden habe ich immer einen kleinen Bauchbeutel dabei.
Wieder daheim angekommen, packe ich mir eines der Brötchen für die Arbeit ein, das andere verzehre ich zusammen mit einer weiteren Tasse Kaffee. Beim Überfliegen der Zeitung stoße ich auf kein besonders spannendes Thema, aber auf der Arbeit werde ich sicher noch über was stolpern. Eigentlich gibt es ja heutzutage keinen Tag mehr, an dem nicht irgendetwas Weltbewegendes geschieht. Der Kaffee ist schon ein wenig abgekühlt inzwischen, das tut der Wirkung aber keinen Abbruch. Ich fühle mich fit für den Tag und die verkürzte Nacht auf Grund des Alptraums ist fast vergessen. Ich springe noch schnell unter die Dusche, putze die Zähne und schmeiße mich in meinen legeren, dunkelblauen Anzug. Viele der Kollegen tragen inzwischen nur noch Jeans und T-Shirt oder Pullover zur Arbeit, aber ich finde, elegante Kleidung gehört schon zum guten Stil, gerade auch, wenn man mal Interviews führt. Es muss ja nicht piekfein sein, also keine Krawatte oder so, aber ein bisschen Klasse gehört sich schon.
Beim Anziehen meiner Schuhe fällt mir ein, dass ich noch zwei Dokumente mit zur Arbeit nehmen wollte. Ich stapfe ins Arbeitszimmer, blicke auf einen Berg Papiere und zwei große Tafeln mit Zeitungsausschnitten und Pinnadeln, die Verbindungen anzeigen, ganz so wie man es aus guten Filmen kennt. Ich bin altmodisch, was das betrifft. Andere machen inzwischen alles digital und brauchen kaum noch Papier und Tafeln, aber mir ist das zu eingeengt. Ich brauche das Bild möglichst lebensgroß vor mir. Dann funktioniert mein Kopf besser und Zusammenhänge fallen mir auf, die ich sonst nie erkennen würde. Es dauert bestimmt zehn Minuten, bis ich die beiden Dokumente gefunden habe, aber was lange währt, wird gut, heißt es ja so schön. Ich müsste mal wieder etwas mehr Ordnung schaffen, dann ginge es bestimmt schneller. Am liebsten hätte ich eine Sekretärin, die das für mich erledigt, aber wer blickt schon durch das Chaos, was ich tagtäglich fabriziere. Der Gedanke ringt mir ein Lächeln ab.
Auf dem Hausflur ist es laut. Michael und Dennis müssen zur Schule beziehungsweise in den Kindergarten. Die zwei haben beide ein unfassbares Organ, was sie auch mehr als genug in Schreiwettbewerben gegeneinander demonstrieren. Ich frage mich, was in der Erziehung dort falsch läuft. Wahrscheinlich sind die Eltern einfach zu lasch, lassen den Kindern alles durchgehen. Ich sage ja nicht, dass es früher richtig war, die Kinder mit dem Rohrstock zu schlagen, aber in gewisser Weise übertreiben es die meisten Eltern jetzt in der anderen Richtung. Egal was das Kind tut, es ist ein Engel, böse Worte oder Zurechtweisungen sind verpönt. Die Folge ist mangelnder Respekt vor Erwachsenen, Missachtung von einfachsten Verhaltensregeln und fehlendes Gespür dafür, wann eine Grenze erreicht ist. Manchmal mache ich mir echte Sorgen über die zukünftigen Erwachsenen und dabei bekleckert sich meine Generation schon nicht mit Ruhm.
Ich öffne die Wohnungstür und ein kreischendes “Ich will meine Jacke aber heute nicht anziehen. Es ist viel zu heiß!”, peitscht mir entgegen. “Tag.”, sage ich kurz und knapp. “Guten Morgen Herr Truggenbrot, welch schöner Tag heute, wie geht es Ihnen?”, fragt Frau Dinsel, ich glaube Jennifer ist ihr Vorname. “Den Umständen entsprechend.”, antwortete ich, ohne genauer auf selbige einzugehen. Nach kurzem Stutzen sagt sie: “Die Kinder haben schlecht geschlafen die Nacht und sind etwas aufgebracht. Ich bitte das zu entschuldigen, sie können hin und wieder ganz schön Krach machen.” Hin und wieder ist gut, denke ich mir, bis 21 Uhr ist täglich nicht an ruhiges Arbeiten von zu Hause aus zu denken. Immer wieder schreien die Kinder, immer wieder gibt es Gemecker und immer wieder knallen Türen. Erst wenn die Gören im Bett sind, wird es ruhiger. “Ja.”, ist alles, was ich hervorbringe und beginne, die Treppe hinab zu steigen. Frau Dinsel wünscht mir noch einen schönen Tag. Kurz vor der Haustür angekommen, höre ich eines der Kinder fragen: “Mama, wieso ist der Mann so seltsam und redet so wenig?” Ich bilde mir ein, einen Seufzer zu hören, “Ach Dennis, wahrscheinlich ist er nur sehr im Stress wegen der Arbeit. Du weißt doch, er ist Journalist, das ist ein anstrengender Job.” Damit hat es nicht so viel zu tun, genervt von deinem Lärm würde es besser treffen.
Ich trete hinaus ins Freie und lege die knapp 200m zur Bushaltestelle zurück. Ich besitze zwar seit meinem zwanzigsten Lebensjahr einen Führerschein, aber ein eigenes Auto besitze ich nicht. Die wichtigsten Orte sind zu Fuß oder mit dem Bus erreichbar. Das war auch schon als Kind immer so, weshalb mir die Vorstellung eines eigenen Autos immer irgendwie befremdlich vorkam. Mein Onkel drängte mich damals, den Führerschein zu machen, wofür ich ihm unterm Strich auch dankbar bin. Es gab vereinzelte Momente, in denen ich ihn gut gebrauchen konnte. Zuletzt fahre ich aber lediglich noch von der Arbeit aus, wenn meine Recherche verlangt in kleine, abgelegenere Orte zu reisen. Privat nehme ich mir im Zweifel einfach ein Taxi. Zur Arbeitsstelle sind es von hier aus lediglich vier Bushaltestellen, die Busse sind meist noch einigermaßen leer und ich finde in der Regel noch einen Sitzplatz. Meistens stehe ich allerdings trotzdem, für die paar Stationen lohnt es sich ja nicht, sich extra hinzusetzen. So alt fühle ich mich dann an den meisten Tagen doch noch nicht.
An der Bushaltestelle sehe ich schon wieder eines dieser Plakate. Dieses Mal steht drauf: Man will nur wissen, was einem hilft, das eigene Weltbild zu bestätigen. Mit dem Spruch kann ich wenig anfangen. Für meine Recherchen will ich allerlei Dinge erfahren, als Journalist muss man schließlich nachhaken und der Wahrheit auf den Grund kommen. Da kann man sich nicht nur hinstellen und sich die Kirschen raussuchen. Wie sollte das denn funktionieren? Man muss schon immer versuchen, möglichst viele Seiten zu beleuchten, um ein umfassendes Bild zu bekommen. Wenn ich Nachforschungen anstelle, reichen sogar meine zwei großen Tafeln in manchen Fällen nicht aus, aber zum Glück habe ich noch zwei weitere im Keller stehen. Wenn es wirklich eng wird, hole ich eine oder sogar beide davon auch noch hoch. Aber gut, nicht jeder Mensch ist journalistisch ausgebildet und weiß diese Dinge. Kann schon sein, dass der Spruch für andere zutrifft.
Ich bin an diesem Morgen der einzige Gast, der auf den Bus wartet. Drei Minuten habe ich noch Zeit und blicke mich um. Die Straßen sind normal gefüllt, die wenigen Fußgänger sind mit geneigtem Kopf auf ihre Handys fixiert und sehen sich wahrscheinlich die aktuellen Aktionskurse an. Oder sie surfen in den sozialen Medien. Da fällt mir ein, dass ich doch auch noch was nachschauen wollte. Ich zücke mein Handy, aktiviere mit meinem Daumen den Zugang und prüfe die neusten Nachrichten. Sieben sind es heute Morgen. Sechs davon brauche ich nach Kenntnisnahme der Absender gar nicht erst zu lesen und die siebte ist von meiner Mutter. Aus Pflichtgefühl öffne ich sie. Sie würde sich freuen, wenn ich mich mal wieder bei ihr melde. Ihr Auto müsste mal wieder in die Reparatur, ob ich nicht Zeit hätte, mal vorbeizuschauen. Ich antworte kurz und knapp, dass es vielleicht am Wochenende klappen könnte. Lust habe ich ja keine.
Als ich mit 24 Jahren endlich ausgezogen bin, hatte ich die Schnauze komplett voll von meiner Mutter. Dieses ewige Genörgel war nicht mehr auszuhalten. Die ersten drei Jahre danach habe ich sie nicht einmal besucht. Nicht mal zu Weihnachten haben wir uns gesehen. Sie war zwar nicht besonders glücklich darüber, aber das war mir egal. Im Endeffekt hat dann wieder mal mein Onkel dafür gesorgt, dass wir uns zumindest wieder ein bisschen annähern. Wir haben einander einfach nicht viel zu erzählen. Sie interessiert sich nicht dafür, was ich mache, sondern immer nur dafür, ob ich endlich eine Frau gefunden habe. Natürlich nicht. Und wenn würde das eh nicht lang halten. Schau dir doch die Beziehungen in der Welt an, das lohnt sich doch alles nicht, sage ich ihr immer. Aber wenn sie das akzeptieren würde, hätte sie wahrscheinlich nichts mehr zu meckern. Wir telefonieren inzwischen regelmäßig einmal im Monat, das reicht uns beiden - mir vor allem - dann aber wieder. Unser Verhältnis hat sich über die letzten Jahre insgesamt zwar stabilisiert, aber Freude bereitet mir ein Besuch trotzdem nicht. Es ist auszuhalten, sofern es nicht zu lange dauert und nicht zu viele Fragen gestellt werden.
Ich wollte doch aber noch irgendwas anderes schauen. Vergessen, fällt mir schon wieder ein. Da kommt auch der Bus, sechs Minuten Verspätung, ganz schön viel für die frühe Uhrzeit. Er hält mit der hinteren Tür neben mir, so dass ich genug Zeit habe, die Aufschrift zu lesen: Heute schon aufgewacht? Werbung für Matratzen, auf denen man himmlisch gut schlafen können soll. Aufgewacht schon, sonst könnte ich das ja jetzt nicht lesen, denke ich mir. Bei all dem Blödsinn wäre eine weitere Runde Schlaf vielleicht gar nicht so verkehrt, aber auf der Arbeit werde ich dazu keine Zeit haben. Ich steige ein und halte meine Fahrkarte hoch. Der Busfahrer erkennt mich im Spiegel und nickt mir zu, die Tür schließt und der Bus setzt sich in Bewegung. Kaum ist der Bus losgefahren, klingelt mein Handy. Das Display signalisiert einen Anruf von Richard Zweigritter, meinem Chef und Redaktionsleiter der Zeitung. Wir kennen uns seit meinem Vorstellungsgespräch vor etlichen Jahren. Er war damals federführend bei meinem Interview und beeindruckte mich zutiefst mit seinem Wissen und seiner Menschenkenntnis. Auf Anhieb haben wir uns verstanden und fortan ist er so etwas wie mein Ziehvater in der Zeitung geworden. Klar lernt man im Studium so allerlei über Journalismus, aber die Praxis sieht doch immer etwas anders aus. Was ich von Richard gelernt habe, könnte ich zwar heute schon in einem großen Band über das perfekte Schreiben von Artikeln zusammenfassen, aber würde wohl trotzdem nur einen Bruchteil seines Wissens wiedergeben.
“Guten Morgen Richard, ich bin auf dem Weg zur Arbeit, was kann ich für dich tun?”, begrüße ich ihn. “Guten Morgen Rolf, ich habe eine Frage. Traust du dir zu, einen Artikel oder sogar eine Reihe von Artikeln über einen Musiker zu schreiben? Ich weiß, das ist sonst nicht dein Gebiet, aber hast du nicht schon mal so etwas gemacht?” Vor ein Paar Jahren war tatsächlich mal eine lokale Band ins Rampenlicht gerückt, weil sie einen sehr erfolgreichen Song produziert hatte. Als sie daraufhin erstaunlich hohe Beträge für soziale Stiftungen gespendet haben, sind sie auch in meinen Fokus gerückt und ich habe sie interviewt. Beeindruckende Menschen waren das, die sehr bodenständig waren und sich nicht viel aus ihrem plötzlichen Ruhm machten. Was sie jetzt machen, weiß ich aber nicht. Ich habe ewig nichts mehr von ihnen gehört. “Ja, da war mal was. Aber wir haben doch mit Christian und Evelyn zwei Mitarbeiter, deren Ressort dazu viel besser passt oder gibt es besondere Hintergründe?” Christian und Evelyn sind beide im Kulturbereich tätig, während ich mich mehr um Soziales und Recht kümmere, manchmal auch in Richtung Unterhaltung aber eher selten. “Christian hat Urlaub die nächsten zwei Wochen und unglücklicherweise fällt Evelyn wegen eines Unfalls mindestens vier Wochen aus. Du bist mein erster Ersatzkandidat, weil ich weiß, was du drauf hast. Komm bitte in mein Büro, sobald du da bist, ja?” Ich antworte ihm, dass ich das natürlich mache und wir dann vor Ort alles Weitere besprechen können. Es piept und eine weibliche Stimme benennt den nächsten Stop, noch eine Haltestelle.
Kapitel 3


Am selben Tag in einem Bürogebäude in der Innenstadt
Die Waage der Justitia ziert den Hintergrund, in großen, alt und elegant wirkenden Buchstaben ist das Wort Diplom zu lesen und der Stempel der Universität ist rund und kräftig. Im goldenen Bilderrahmen hängt das wertvollste Dokument meines Lebens über dem kleinen Barschrank mit eingebautem Minikühlschrank, auf dem ein Gläserset aus drei Teilen aufgebaut ist. Das vierte Glas halte ich selbst in der Hand, gefüllt mit einem kleinen Schluck Whiskey. Selbiger war nicht ganz billig, knapp unter 100€ die Flasche, aber der Geschmack rechtfertigt das. Wenn es etwas gibt, was das Geld wert ist, dann sind das die Dinge im Leben, die für eine ekstatische Begeisterung der Sinne sorgen und dazu gehört dieser speziell in Schottland gebraute Whiskey definitiv.
Mein Blick schweift durch den mit Mahagonimöbeln ausgestatteten Raum, in dem die Regale eindrucksvoll eine schier unglaubliche Auswahl an Weltliteratur, prall gefüllten Ordnern mit Falldaten und eine riesige Sammlung Bänder voller Gesetzestexten präsentieren. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Dieser inspirierende Satz steht auf einer Tafel an der gegenüberliegenden Wand. Es ist nicht der einzige Spruch dieser Art, denn in jedem der drei Geschäftsräume hängen zwei Exemplare mit motivierenden Zitaten großer Menschen. Die zweite Tafel im Raum besagt: Wer kein Ziel hat, kann auch keines erreichen. Die Tafeln sind ein Teil meines Alltags, eine Erinnerung an das, was ich erreichen will. Meine Ziele habe ich immer vor mir, ich weiß, wo ich hinwill.
Zwei weitere Fälle sind heute Morgen reingekommen. Ich wusste, es wird ein guter Tag, als ich die letzten Stufen der Tiefgarage empor trat, die Morgensonne mir ins Gesicht schien und ich die Aufschrift Rechtsanwalt Dr. Thomas Frei neben der Eingangstür laß. Neben all den exquisiten Geschäften, den großen Lofts und den unzähligen Eingängen von Steuerberatern und Versicherungsexperten, fällt der Eingang gar nicht so sehr auf. Dennoch ist die Gegend absolut perfekt und verspricht reiche Kundschaft. Dass ich den Standort einmal übernehmen könnte, hatte ich nicht erwartet, aber zwei Zufälle sorgten dafür. Zum einen war da mein Praktikum, das ich als 19-jähriger in genau diesem Gebäude absolvierte. Der Vorbesitzer, auch ein Anwalt, galt als Legende in der Stadt und irgendwie sah er etwas in mir, das ihm gefiel. Dem ersten vierwöchigen Praktikum folgte noch ein zweites, dieses Mal über drei Monate. Wir verstanden uns prächtig und Jahre später bekam ich einen Anruf, ob ich nicht Interesse hätte, die Location zu übernehmen. Finanziell wäre das für mich allein jedoch nie machbar gewesen, so dass ich auf Hilfe angewiesen war. Der zweite Zufall trat auf, als ich Herrn Russ kennenlernte, einen weiteren Rechtsanwalt, der beim Strandurlaub auf den Malediven zufällig das Hotelzimmer neben mir hatte und sich gleich zweimal in der Tür irrte. So lernten wir uns kennen und schätzen. Ich konnte ihm damals schon ansehen, dass er nicht nur über eine Menge Geld verfügte, sondern auch gern vieles davon ausgab. Das runde Gesicht, die weit geöffneten Augen und die großen Nasenlöcher wiesen darauf hin. Trotzdem fiel mir die Frage, ob er sich vorstellen könnte, die Miete für die Erdgeschosswohnung mit zu bezahlen und gemeinsam zu nutzen, nicht einfach. Im Nachhinein aber bin ich heilfroh, es getan zu haben, zumal er nur zwei Sekunden nachdachte und dann mit breitem Lächeln zusagte. Es sei eine tolle Idee und er wolle schon seit längerer Zeit seinen Standort ändern und näher im Zentrum arbeiten. Was wir dann innerhalb eines halben Jahres aus der Fläche gemacht haben, gleicht einem dieser Makeovers aus den typischen Frauenfilmen, in denen das Mauerblümchen zum Model wird. Das Einzige, was vom ursprünglichen Interior geblieben ist, ist Frau von Gesollte, die Sekretärin des Vermieters, die ich schon aus meiner Zeit als Praktikant kannte. Sie ist so gut, dass sie es schafft, für Herrn Russ und mich alles zu organisieren, ein wahres Talent. Offiziell könnte sie nächstes Jahr in Rente gehen, aber ich hoffe, dass sie noch ein bis zwei Jahre dranhängt.
Der erste Fall, der heute reingekommen ist, betrifft einen Nachbarschaftskleinkrieg, bei dem es in aller erster Linie um Lärmbelästigung geht. Der Kläger behauptet, mein Mandant würde zu unmenschlichen Zeiten Gartenarbeit verrichten und darüber hinaus mit lauter Musik die Nachtruhe stören. Er klagt jedoch alleine, was schon mal ein Zeichen dafür ist, dass mein Mandant nicht allzu sehr gegen gesetzliche Auflagen verstößt. In der Akte zu dem Fall ist ein Bild des Klägers mit dabei, auf dem sein Gesicht älter wirkt als die 52 Jahre, die im Profil stehen. Die dunklen Augen sind offen und rund, die Augenbrauen sehr kurz und gerade. Demzufolge ist er wahrscheinlich ein Mensch, der zu impulsiven Entscheidungen, basierend auf seinen Emotionen, neigt. Die Lippen sind schmal, das Kinn eher dünn, besonders durchsetzungsfähig ist er also auch nicht. Die Stirn ist flach und nicht besonders ausgeprägt, was zum Eindruck passt, dass er geradlinig denkt und im Fall nicht mit Überraschungen seinerseits zu rechnen ist. Strategisch werden wir sehr faktenbasiert vorgehen und immer wieder emotionale Stiche setzen, so dass der Kläger möglicherweise die Fassung einmal verliert, dann sollte das Urteil schnell gefällt sein. Mein Mandant ist unschuldig.
Im zweiten Fall geht es etwas brisanter zu. Der Anruf kam früh am Morgen, eine gewisse Frau Yunoma war am Apparat, die aufgebracht schilderte, dass sie von einer Bekannten gehört hätte, ich sei der beste Anwalt der Stadt und dass sie meine Hilfe bräuchte. Am vergangenen Wochenende sei es nämlich im Rahmen einer Feier zu sexueller Belästigung gekommen, für die es mindestens zwei Zeuginnen gäbe und darüberhinaus auch der Barkeeper davon mitbekommen haben müsste. Mein erster Eindruck war, dass sie Recht hat - ich bin tatsächlich der beste Anwalt der Stadt. Aber auch im Fall hat sie offenbar gute Argumente für sich, so dass ich mit ihr vereinbarte, sie solle sich mit Frau von Gesollte kurzschließen, um einen Termin auszumachen. Ich muss gleich mal nachfragen, was daraus geworden ist.