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Noch aber ist meine Arbeitsstätte die Nummer eins in Sachen Höhe. Die auf jeder Etage symmetrischen vier Büroeinheiten sind im Viereck angelegt und auf allen Ebenen identisch. In der Mitte befinden sich vier dazu passende Aufzugschächte, die qualitativ top sind und seit der Inbetriebnahme nie ausgefallen sind. Auf allen Etagen bis auf das Erdgeschoss, wo sich der Empfang, zwei Kantinen und zwölf Tagungsräume befinden, gibt es nur Büros, Wohnfläche wurde nicht geschaffen. 28 Firmen sind demzufolge ansäßig, was die Anreise mit dem Auto wegen der beschränkten Parkmöglichkeiten für viele unausstehlich macht. Busse hingegen halten alle zehn Minuten und fahren in verschiedenste Richtungen.
Von der Bushaltestelle zum Eingang sind es knapp 100m, lang genug, die Fensterfronten zu bewundern. Auf der Westseite sind Fensterputzer aktiv, rund einmal im Monat kommt eine Firma und benötigt knapp eine Woche um alle Stockwerke abzuarbeiten. Gerüste müssen auf- und abgebaut werden, man ist etwas wetterabhängig und das reine Putzen dauert auch seine Zeit. Ganz oben auf dem Gebäude gibt es eine Aussichtsplattform, die einen sensationellen Ausblick über die Stadt gibt. Hin und wieder begebe ich mich in der Mittagspause dort hinauf und genieße die Höhenluft. Wenn die Sonne allerdings zu stark scheint, ist es temperaturmäßig kaum auszuhalten, zumindest nicht in den Monaten Mai bis August.
Die Redaktion befindet sich im sechsten Stock, der Aufzug unten steht sofort bereit und fährt heute ohne Zwischenstop in wenigen Sekunden hoch. Die Türen gleiten auf und ich zücke meine Chipkarte. Die gesamte Büroeinheit ist mit einer Glastür gesichert, die sich nur öffnet, wenn man eine entsprechende Chipkarte mit Zugangsberechtigung besitzt. Der Verlust einer solchen Karte kann den Arbeitnehmer teuer zu stehen kommen, allerdings nur, wenn er es nicht rechtzeitig meldet. Im Grunde ist die Lösung einfach, man programmiert den Code um und speichert ihn auf den existieren Karten. Das Problem ist am ehesten der ansonsten etwas hinterherhinkende Gebrauch von allem, was mit IT zu tun hat. Die Internetverbindung ist weiterhin nur die Zweitschnellste und den Änderungsvorschlägen wird immer wieder entgegen geworfen, dass es doch mit der bisherigen Technik klappe und diese vor allem stabil laufe. Würde man etwas Neues anschaffen, wisse man ja gar nicht, ob es nicht zu viel mehr Komplikationen käme. So ganz überraschen kann diese Einstellung bei einem konservativen Blatt natürlich nicht. Die Folge ist jedoch, dass alles, was den IT-Support betrifft etwas langsam vonstatten geht. Das ist kein rein technisches Problem, sondern liegt auch an mangelnder Manpower.
Die Eingangstür öffnet sich und ein “Guten Morgen Herr Truggenbrot!” hallt mir von der Rezeption entgegen. Wieso wir immer noch eine Rezeption hier oben besitzen, die dazu noch ganztägig besetzt ist, ist mir ein wenig schleierhaft. Zu tun hat dort über den Arbeitstag gesehen jemand vielleicht für zwei Stunden, der Rest ist Zeit totschlagen, da vieles bereits am Empfang im Erdgeschoss geklärt wird. Vielleicht gibt es die Rezeption weiterhin wegen des ersten optischen Eindruckes. Die Redaktion legt da viel wert drauf, alles ist farblich auf die Blautöne der Zeitung abgestimmt und das helle Mobiliar ist äußerst stilvoll eingerichtet. Große Topfpflanzen zieren die Ecken des Empfangs, überall ist viel Platz, so dass der Raum unheimlich groß wirkt. Auf der linken Seite befinden sich die zwei großen Konferenzräume, die letztes Jahr endlich auch mit Beamern ausgestattet wurden. Wie gesagt, es geht hier ziemlich konservativ zu. Daneben befinden sich noch zwei Mitarbeiterbüros sowie das Büro des Chefredakteurs. Auf der rechten Seite sind außer den Toiletten nur noch Mitarbeiterbüros. Alle sind für maximal drei Personen ausgelegt und meist mit zwei dauerhaft besetzt. Nur wenn es zu gesteigertem Workload für ein Thema kommt, wird der dritte Platz durch Umverteilung gefüllt. Das Prinzip hat sich bewährt und klappt über alle Resorts hinweg vor allem für die Recherche sehr gut. Alle Arbeitsplätze sind mit ergonomischen Stühlen ausgestattet, die keinen Wunsch offen lassen. Leider müssen sich alle Mitarbeiter nach wie vor mit zwei mittelgroßen Monitoren begnügen, während es bei vielen anderen Zeitungen mittlerweile üblich ist, auf drei großen Bildschirmen zu arbeiten. Vielleicht werden ja nächstes Jahr welche angeschafft.
Ich öffne die weiße Tür mit der Nummer acht. Tanja, meine Kollegin, ist noch nicht da. Sie kommt häufig erst eine Stunde später als ich, bleibt dafür aber entsprechend länger. Das hat den Vorteil, dass unser Büro durchgängig besetzt ist, da sich auch unsere Mittagspause in der Regel unterscheidet. Wirklich anders als bei mir zu Hause sieht es auch hier nicht aus. Hunderte Blätter säumen meinen Schreibtisch, der Kopierer blinkt und verlangt nach einem neuen Toner und das Telefon zeigt unbeirrt die 23 Anrufe auf dem Anrufbeantworter. Die sind alle abgehört, aber auf Grund eines technischen Defektes werden seit rund zwei Wochen dennoch 23 Anrufe gemeldet. Es dauert eben immer etwas länger mit diesen technischen Dingen.
Ich starte meinen PC, lege mir meine Dokumente von zu Hause zurecht, werfe einen Blick auf das Faxgerät und mache mir dann erst einmal einen Kaffee. Ein paar Minuten habe ich noch, denn beim Gang durch die Rezeption habe ich gesehen, dass mein Chef, der mich ja zu sich bestellt hat, noch im Gespräch ist. Der Kaffee wird auf jeden Fall nicht schaden. Nach gut drei Minuten ist der Rechner hochgefahren und ich mache mir einen Überblick der eingegangenen Mails. Die Hälfte lösche ich sofort, zwei markiere ich mir als besonders wichtig und den Rest werde ich bearbeiten, falls ich die Zeit dafür habe. Das Icon der App zeigt mir jedoch 124 an, weshalb das mit dem falls ich Zeit dafür habe doch eher utopisch ist. Ich greife zum Telefon und wähle die Kurzwahl der Rezeption. “Ist Richard noch im Gespräch?”, frage ich. “Hallo Herr Truggenbrot, nein, er verabschiedet gerade seinen Gast. Soll ich Sie ankündigen?”, antwortet die Stimme aus dem Telefon. “Nicht nötig, er weiß Bescheid.” Ich lege auf. Einen Schluck Kaffee später erhebe ich mich und mache mich auf den Weg zu ihm.

“Hallo Richard, du wolltest mich sprechen.” Richards Büro ähnelt dem aller anderen, hat aber nur einen Arbeitsplatz. Es ist sehr überschaubar eingerichtet, ein paar immergrüne Pflanzen, eine Couch und ansonsten die zwei Schreibtische, das war es. Neben der Eingangstür stehen für den Bedarf noch zwei weitere Stühle. Die Wände sind mit allerlei Urkunden geschmückt, die Erfolge der Zeitung aufweisen, Bilder gibt es keine, auch nicht auf dem Schreibtisch. Richard hat Familie, so viel weiß ich, zwei Söhne glaube ich, aber die Seite seines Lebens trennt er strikt von seiner Arbeit und ich habe gelernt, nicht weiter nachzufragen. “Guten Morgen Rolf, du sahst schon mal besser aus, schlecht geschlafen?” Mit den Jahren kennt mich Richard sehr gut. “Ja”, antworte ich, “mal wieder dieser Traum. Aber ich war schon laufen heute Morgen, ist schon fast wieder vergessen. Was hat das jetzt mit diesem Musiker auf sich?”
Er durchsucht die Blätter auf seinem Schreibtisch, scheint aber auf Anhieb nicht zu finden, wonach er sucht. “Wie schon gesagt, Christian und Evelyn fallen aus und ich brauche jemanden, der sich um die Sache kümmert. Du bist meine erste Wahl. Es geht ganz grob um einen Rapper namens Johnny C., bei dem einem seiner Bandmitglieder Vergewaltigung vorgeworfen wird. Irgendwie sowas. Außerdem haben die jüngst auf einem Festival gespielt und einen neuen Song präsentiert. Daher gibt es genügend Material, um daraus eine gute Story zu machen.” Der Rechtsbezug macht den Fall für mich gleich interessanter. Kriminalfälle haben mich immer schon fasziniert und wenn ich mal Zeit für Fernsehen opfere, dann für einen der rar gewordenen, guten Krimis. “Interessant. Eine Vergewaltigung habe ich noch nicht behandelt, woher hast du die Info? Ich hätte bestimmt schon davon gehört, wenn das schon öffentlich wäre. Johnny C. ist ja durchaus bekannt bei uns in der Stadt.”
Richard sucht weiter in seinen Papieren. “Die Info basiert auf internen Quellen, mehr kann ich dir gerade gar nicht sagen. Ein bisschen selbst recherchieren wirst du noch müssen, aber meine Quelle sagt, dass der gesamte Vorfall hoch brisant ist und Karrieren zerstören wird.” Er flucht kurz, “Ich finde das Übersichtspapier grad nicht, tut mir leid. Ich reiche es dir nach, sobald es mir in die Finger fällt. Du kannst ja mit ein wenig Online-Recherche anfangen. Tanja wird dich unterstützen, kommt heute aber noch etwas später als gewöhnlich, weil sie noch einen Arzttermin hat. Ach ja, und ab Morgen ist noch eine Praktikantin bei dir, eine Anna oder Anne Friedrich, sie bleibt für sechs Wochen.” Das auch noch, der muss ich dann bestimmt wie der letzten Praktikantin erst mal wieder viel erklären. Die war echt der totale Reinfall. “Waren wir uns nicht einig, dass erst mal keine Praktikanten mehr zu mir kommen?”, frage ich. “Die hier ist anders, glaub mir, die hat echt was auf dem Kasten, du wirst sie mögen.” Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. “Na, wenn du meinst.” Richard blickt plötzlich ernst: “Wenn du diesen Artikel schreibst, mach deutlich, dass wir als Zeitung uns ganz klar gegen jede Art der Vergewaltigung und was da nicht sonst noch passiert ist, richten. Wir haben einen Ruf in der Stadt und dem Umfeld und es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden.” Ich stutze etwas, denn solch eine Aussage kommt von Richard nicht oft. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es so etwas sogar noch nie. Perplex nicke ich leicht. Er lächelt und wechselt das Thema. “Wie war dein Date neulich?”
Von Zeit zu Zeit probiere ich es eben noch einmal. Meine Oma mit ihren stolzen 87 Jahren wünscht sich ja so sehr ein Ur-Enkelkind. Natürlich wäre eine Frau zu finden schon eine tolle Sache, aber so richtig funken will es einfach nicht. Eine Kollegin aus der Sportabteilung hatte das Date am letzten Samstag verkuppelt. Sie hatte mir im Vorfeld gesagt, dass Tina eine reizende Persönlichkeit hätte, total lieb sei und mir auf Anhieb gefallen müsse. Sie sei lediglich Single, weil sie sich immer die falschen Männer aussuche. Damit sollte jetzt ein für alle Mal Schluss sein. Wie kommst du dann auf mich, hatte ich lachend gefragt.
Jedenfalls trafen wir uns in einem Café in der Innenstadt, nicht weit entfernt von der Kirche. Wir hatten abgemacht, dass sie einen roten Pullover und ich eine schwarze Weste tragen würde. Natürlich hatten wir auch im Vorfeld Fotos voneinander gesehen, dafür hatte meine Kollegin gesorgt, aber auf Fotos kann man ja heutzutage nicht mehr so sehr vertrauen. Wenn ich an den Anblick heute Morgen im Spiegel denke, würde ich das Foto, das Tina zu Gesicht bekommen hatte, für absoluten Fake mit ganz viel Bearbeitung und Zeitversatz von vielleicht zehn Jahren halten. Tina trug eine runde Brille, hatte die dunklen Haare offen, ungefähr schulterlang und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, als ich am Café eintraf. Auf ihrem roten Pulli stand in großen Buchstaben Tierfreund, ein erstes Statement. Wir hatten nie Haustiere als ich klein war, vielleicht habe ich auch deshalb nie verspürt, mir ein eigenes anzuschaffen. Ehrlicherweise hätte ich aber auch gar keine Zeit für ein Tier, die Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst und ganz fest sind die Arbeitszeiten ja ohnehin nicht. Da gibt es sicher bessere Herrchen, bei denen ein Hund - wenn überhaupt, dann käme ein Hund in Frage - aufgehoben wäre.
“Bist du Tina?”, hatte ich trotz der eindeutigen Zeichen gefragt. Sie nickte und sah dem Foto, das ich bekommen hatte, gar nicht so unähnlich. Sie wirkte lediglich ein ganz kleines bisschen rundlicher und die offenen Haare ließen sie jünger wirken. “Hi, äh, ich bin Rolf. Schön dich kennenzulernen.” Ich streckte ihr die Hand entgegen. “Hallo Rolf, gleichfalls, ein bisschen was habe ich ja schon über dich gehört.” Sie lächelte und schüttelte mir dabei kurz die Hand. “Sollen wir uns draußen einen Tisch nehmen, drinnen ist es immer so laut.”, schlug ich vor. “Klar, kein Problem.”, antwortete sie und zeigte auf einen freien Tisch: “Den da vielleicht?” Ich nickte und wir setzten uns. Ich schaute in die Getränkekarte, suchte mir ein alkoholfreies Radler aus und blickte zu ihr. Sie schien etwas verstört, sagte aber nichts. Ich hielt ihr die Karte hin und sie suchte sich selbst etwas. Worüber sollte ich bloß mit ihr sprechen? Das ist immer wieder mein Problem bei diesen Dates, ich will ja nicht die ganze Zeit von meiner Arbeit reden und aktuelle Politik besprechen, soll beim ersten Date nicht so gut ankommen. Da würde ich mich aber wenigstens auskennen. “Ich nehme eine Rhabarberschorle.”, verkündete sie stolz. Das habe ich mir auch nur merken können, weil ich Rhabarber absolut unausstehlich finde. “Gut. Was machst du beruflich?” Dem irritierten Ausdruck in ihrem Gesicht entnehme ich, dass die Frage wohl zu früh kam, dennoch antwortet sie, “Ich bin Tierpflegerin im Tierheim in der Nordstraße. Kümmere mich um streunende Katzen und Hunde und päppele sie auf.” Das Tierheim kenne ich nicht, die Nordstraße sagt mir etwas, aber ganz genau einordnen kann ich sie nicht. “Ah, okay, du magst Tiere wohl? Ich arbeite als Journalist beim Stadtblatt. Du weißt schon, in dem großen Hochhaus mit den ganzen Firmen.” Sie nickt. “Ja, klar, weiß ich von Manuela, sie arbeitet ja auch dort. Wie gefällt dir die Arbeit? Und ja, ich mag Tiere über alles, die sind so knuffig und treu. Ich habe selbst einen Hund, eine Katze, zwei Kanarienvögel und ein Aquarium mit diesen Guppies, kennst du die? Herrliche Geschöpfe.” Manuela hieß die Kollegin aus der Sportabteilung, richtig, mir war der Name entfallen. “Ja, schon mal davon gehört.” Der Kellner kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Es blieb bei dem einen Getränk. Wir haben dann irgendwie den Faden verloren und hatten uns fortan nicht mehr viel zu sagen. Sie schien sich auch gar nicht für mich zu interessieren.
“Hätte besser laufen können.”, antworte ich Richard, nachdem er sich geräuspert hatte und mir auffiel, dass ich in Gedanken versunken war. “Also war jetzt eher ein Flop. Wir hatten uns nichts zu sagen und sie kannte kein anderes Thema als ihre Haustiere. Ich bin ja jetzt nicht gegen Tiere, aber”, beginne ich. “Aber was?”, fragt Richard. “Ich weiß auch nicht, hat einfach nicht gefunkt.” Mein Chef zieht die Mundwinkel nach unten und nickt. “Es funkt ja auch nicht immer gleich beim ersten Mal. Du wirst schon noch jemanden finden, bist schließlich ein netter Kerl, der eine Menge auf dem Kasten hat. Trefft ihr euch trotzdem nochmal?” Nochmal? Nein, danke. Ich kann meine Zeit besser vertreiben als jemanden anzuschweigen. “Ich denke nicht. Wahrscheinlich wird das nichts mehr mit der Ehe und den Kindern. Das Gute ist, dass mich dann niemand von der Arbeit ablenken kann. Außerdem halten Beziehungen ja ohnehin nicht, die Statistik über die Scheidungsraten lügt ja nicht und von Jahr zu Jahr werden es mehr.”, füge ich hinzu. “Ach Rolf, lass den Kopf nicht hängen, zu jedem Topf gibt es auch einen Deckel. Aber wenn du die Arbeit schon ansprichst. Deadline für den ersten Entwurf ist in 48 Stunden. Wir wollen hier schnell handeln und dann bei der nächsten größeren Teamsitzung alles Weitere besprechen.” 48 Stunden ist nicht viel Zeit für ein Thema, von dem man gar keine Ahnung hat. Irgendwas scheint an diesem Bericht anders zu sein. “Puh, das wird aber eng. Ich schaue mal, was sich machen lässt.” Richard setzt wieder sein ernstes Gesicht auf. “Rolf, der Artikel wird wichtig. Ich setze dich ran, weil du der Beste für den Job bist. Mal schauen reicht da nicht. Verstehst du?” Ich sage ja, irgendwas ist anders, so kenne ich Richard gar nicht. Es gehört sich aber nicht, seinem Chef länger zu widersprechen. Ich seufze und stimme zu. “Ich bekomme das hin. Dann mache ich mich auch mal an die Arbeit. Hoffentlich kommt Tanja nicht allzu spät heute.” Richard erläutert, “Tanja ist beim Arzt, hab ich doch vorhin gesagt. Sie wird später kommen und dir heute nicht so viel helfen können. Ich suche gleich nochmal nach dem Dokument und lasse es dir rein reichen.” Beim Arzt, ausgerechnet heute. “Ah, okay.” Ich stehe auf, drehe mich um und verlasse das Büro.
Zurück in meinem Büro angekommen, fahre ich die elektrischen Jalousien zu, die Sonne blendet aus diesem Winkel für die nächste Stunde. Ich denke über das Gespräch mit Richard nach, vor allem die Art und Weise wie er das mit der Vergewaltigung ausgedrückt hat und wie der Standpunkt der Zeitung ist. Es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden, hatte er gesagt. Eine komische Aussage, ich bin gespannt, was die Recherchen über diesen Johnny C. und seine Band ergeben werden. Richard lässt mir bei meinen Artikeln sonst sehr viel Freiheiten, an einen Hinweis auf die konservative Haltung unserer Zeitung kann ich mich nicht erinnern. Und es gab auch schon Artikel, in denen ich ziemlichen Schwachsinn fabriziert habe. Allen voran der Text über die geplante Abschaffung des Studententickets, was sich als völlige Ente erwies. Damals war ich natürlich noch recht unbeholfen und zu meiner Verteidigung hat das Zwei-Quellen-Prinzip in dem Fall versagt. Beide Informanten hatten sich über Umwege auf dieselbe Ausgangsperson bezogen, was ich mit etwas mehr Zeit wohl auch herausgefunden hätte. Leider wollte ich mir diese Zeit selbst nicht geben und unbedingt eine echte Schlagzeile produzieren. Richard hat mich damals geschützt und sich hinter meinen Artikel gestellt, das kam nicht überall gut an. So wie heute habe ich ihn noch nicht erlebt. Mach deutlich, dass wir uns gegen jede Art der Vergewaltigung richten. Seine Informationen müssen verdammt gut sein, vielleicht kennt er das Opfer selbst. Das würde natürlich sein Verhalten erklären. Mal sehen, wann Tanja kommt, sie ist in den Anfangsrecherchen deutlich schneller als ich und mit dem Computer kommt sie auch besser zurecht. Ich fange am besten trotzdem schon mal an. Wo ist nochmal der Browser… Da. Richard, wieso kannst du mir nicht mehr verraten? Naja, er wird schon wissen, was das Beste für die Zeitung ist, das hat er oft genug bewiesen.

Eine knappe Stunde später bin ich nicht viel schlauer als vorher und Tanja ist auch immer noch nicht wieder da. Das Telefon klingelt, ich hebe ab. “Hallo Herr Truggenbrot, könnten Sie nochmal kurz zum Chef rein? Er möchte Sie noch einmal sprechen.” Natürlich. Wahrscheinlich hat er das Dokument gefunden, nachdem er vorhin gesucht hatte und möchte mir noch etwas persönlich dazu sagen. In Richards Büro angekommen, fällt mein Blick auf einen der drei Zeitungsausschnitte, die eingerahmt in randlosen Bilderrahmen an der Wand hängen. Serienkiller Matthias S. endlich gestoppt - Entscheidende Hinweise durch Bevölkerung, ist dort in der Überschrift zu lesen. Unsere Zeitung hatte entschieden zur Aufklärung beigetragen, da wir den Kontakt zur Zeugin herstellen konnten. Das ist auch zwischen den Zeilen zu lesen, aber offensichtlicher wollte es Richard damals nicht haben. Er sagte, ihm sei genug, dass er wisse, wie sehr wir zur Aufklärung beigetragen haben und dass wir die Welt zu einem etwas besseren Ort gemacht hätten. “Danke, dass du nochmal reingekommen bist.”, eröffnet Richard das Gespräch. “Gar kein Problem, die fünfzig Schritte schaffe ich grad noch.”, entgegne ich. Er lächelt kurz. “Ich finde das Papier einfach nicht, wahrscheinlich liegt es bei mir zu Hause, dann bringe ich es dir morgen mit. Ich habe es wohl in der Hektik heute vergessen. Du musst also die nächsten Stunden ohne vorgefertigte Planung und Kontakte vorankommen.” Das ist nicht das, was ich hören wollte. “Oh Mann, ich hab eben schon eine Stunde gesucht und bin kaum schlauer geworden. Tanja ist immer noch nicht im Haus. Ich weiß nicht, ob das mit den 48 Stunden wirklich klappen wird unter den Umständen.” Eine gewisse Verzweiflung mischt sich dabei in den Ton meiner Stimme, ich hasse es, Richard zu enttäuschen. Beruhigend antwortet er, “Rolf, bleib ganz ruhig. Ich weiß doch, wozu du fähig bist. Und den Standpunkt der Zeitung kennst du ja bereits, hangle dich daran entlang. Videos und Artikel zum Rapper selbst sollte es ja genug geben, er ist ja kein Unbekannter.”
Mir brennt auf der Zunge zu fragen, was so Besonderes an diesem Fall ist. Ich würde ihm gern sagen, dass er sich so komisch verhält und mir das Sorgen bereitet. Aber bin ich der Richtige, diese Fragen zu stellen? Zweifel machen sich breit. Richard bemerkt, dass ich mit mir hadere. “Was ist los, Rolf? Irgendwas möchtest du doch noch sagen.”, ermutigt er mich, den Mund zu öffnen. “Nichts Wichtiges. Kannst du mir nicht noch mehr über den Fall sagen? Ein paar mehr Ansatzpunkte wären schon wichtig.”, ist alles, was ich hervorbringe. Klartext schreiben geht, aber Klartext reden, damit habe ich manchmal so meine Probleme. “Ich kann dir wirklich nicht mehr sagen. Die Sache kommt von oben. Ja, ich bin der Chefredakteur hier und kann eine Menge bestimmen, aber auch ich berichte meinem Chef und muss mich an Vorgaben halten. Der hat den Artikel ganz oben auf die Agenda gesetzt und Zeitdruck gemacht. Das ist aber wirklich alles, was ich noch sagen kann. Vertrau mir, mach deinen Job und zeig, was du drauf hast. Ich weiß, 48 Stunden ist echt knapp, aber wenn es unter den Umständen einer hinbekommt, dann du.” Er war schon immer ein motivierender Mensch, das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich ihn so schätze. “Okay, ich frage nicht wieder nach und mache mich an die Arbeit. Bis später vielleicht.”
Die Zusammenhänge in den Hierarchien im alltäglichen Leben sind einem manchmal einfach nicht bewusst. Natürlich hätte ich mir denken können, dass mein Chef auch seine Anweisungen von oben bekommt. Wer bekommt die schließlich nicht? Das ist ja etwas ganz Natürliches. Die Welt funktioniert nunmal in dieser Pyramidenform. Die Menschen an der Spitze geben die Richtung vor und je tiefer man nach unten kommt, desto weniger wissen die Menschen dort, über die Beweggründe für diese Richtung Bescheid. Es macht ja auch alleine aus dem Grund schon Sinn, weil die Intelligenz der Menschen unterschiedlich ist. Was der eine innerhalb weniger Sätze versteht, dafür braucht ein anderer Monate. Jeder muss deshalb seinen Platz in der Pyramide finden. Mein Platz ist unter Richard. Habe ich immer noch das Gefühl, dass er mehr weiß, als er mir verrät? Ja, irgendwie schon, aber es wird legitime Gründe geben, warum er mir nicht mehr sagen kann. Die Sache kommt von oben. Wahrscheinlich weiß er selber nicht alles, weil ihm sein Chef auch nur einen Teil sagen kann. Das macht zwar die Arbeit für mich nicht leichter, aber die Suche nach der Wahrheit hat ja auch was für sich. Schließlich ist das der Hauptgrund, warum mich Journalismus Tag für Tag immer wieder reizt.
In der Mittagspause vertrete ich mir ein bisschen die Beine an der frischen Luft. Es ist angenehm warm, ohne ins Schwüle überzugehen. Vor ein paar Minuten rief Tanja kurz an. Sie schaffe es heute erst nach dem Mittag reinzukommen, weil sie trotz ihres Termins ungewöhnlich lange bei ihrem Arzt warten musste. Immerhin hat sie Bescheid gesagt. Ein paar grundlegende Dinge über die Band Johnny C. habe ich erfahren, aber das gehe ich dann mit ihr alles nochmal kurz durch, wenn sie da ist. Der Rapper selbst heißt eigentlich John Seeberger und Johnny C. ist offenbar Englisch zu verstehen, im Sinne von Johnny Sea, als Kurzform für seinen Namen. Die Leute kommen auf Ideen. Über die sonstigen zwei Bandmitglieder aber ist außer den Namen Manuel und Steven nicht viel herauszufinden. Selbst die Nachnamen sind bislang ein Rätsel. Vielleicht gehört sich das so, wenn es einen Star gibt, der im Rampenlicht steht. Außerdem ist Tanja in diesen Online-Recherchen viel besser, ich stochere nur rum und Suche die Nadel im Heuhaufen. Meine Zeit kommt, wenn es um die Zusammenhänge geht. In meinem Kopf bastle ich schon an den Tafeln und Pinnwänden zu Hause, ziehe Verbindungen, ergänze versteckte Informationen. Bleibt die Frage, ob die Zeit bis übermorgen ausreicht, um tiefer einzusteigen. Zur Not muss ich mir doch das ein oder andere aus den Fingern saugen. Wäre auch nicht das allererste Mal.
Es ist eines der großen Probleme, die wir als Tageszeitung haben. Vieles dreht sich darum, schnell zu reagieren und in kürzester Zeit, Artikel zu veröffentlichen. Man möchte schließlich so tagesaktuell wie möglich sein. Schafft man das nicht, sind andere Zeitungen schneller und ehe man sich versieht, ist die Nachricht schon wieder so veraltet, dass eine Veröffentlichung sich gar nicht mehr lohnt. Dann wäre die ganze investierte Arbeit umsonst. Magazine haben es da leichter. Die können ihre Beiträge über Wochen oder gar Monate vorbereiten und sind dadurch auch deutlich faktenbasierten. Sie können immer wieder prüfen, Quellen abgleichen, nochmal prüfen, Zusammenhänge klären und wieder prüfen. Wir von der Tageszeitung hingegen brauchen auch Bauchgefühl. Das lernt man in diesem Geschäft, wenn auch manchmal auf die harte Tour. Die Magazine mögen akribischer sein, aber letztlich ist für einen guten Journalisten wichtig, dass er seiner Intuition in den richtigen Momenten folgt. Die wirklichen Top-Journalisten arbeiten im Tagesgeschäft. Hilfreich ist, wenn man gute Quellen besitzt, denen man vertrauen kann. Das ist wieder wie mit der Pyramide. Man muss eben die richtigen Leute über sich kennen, dann kommt man auch an die notwendigen Informationen. Ich muss mir allerdings eingestehen, dass ich in diesem Fall hinsichtlich Informanten aus der Musikbranche leider etwas mau besetzt bin. Höchstens Herrn Preis könnte ich mal anrufen, der weiß am ehesten etwas oder kann mich zumindest weiterleiten. Das werde ich nach der Pause mal in Angriff nehmen, nachdem ich mein belegtes Brötchen gegessen habe. Oder besser noch etwas später, wenn ich Tanja, sofern sie dann endlich da ist, aufgeklärt und an die Arbeit geschickt habe.