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Vielleicht brauchte ich einfach nur eine Aufgabe, eine Beschäftigung, egal was, wie ein Rentner, der vor seinem Haus das Moos aus den Gehwegfugen kratzt.
Ich schlürfte meinen Tee. Wer immer die beiden Briten umgebracht hatte, es waren mehrere gewesen, genug, um den Wagen aufs Dach zu wälzen. Sie lebten zu weit weg, um den Mitsubishi abzuschleppen und in Teilen zu verkaufen, und doch nah und gut versorgt genug, um auf die Vorräte und Ausrüstung der beiden Toten husten zu können. Obendrein hatten sie es einigermaßen eilig, mit ein bisschen mehr Zeit hätten sie das Opiumversteck schon herausgekitzelt aus den beiden, deshalb vermutete ich, dass sie irgendeiner Einheit angehörten, einer Truppe. Armee, Grenzpolizei, Zoll? Ganz egal, was – es war ein zutiefst unbehaglicher Gedanke. Man will, man muss jemandem vertrauen können, oder es fängt an, dir den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Bella rollte sich zusammen und schlief ein, und kurz darauf machte ich es ihr nach.
Die Dünen wuchsen in die Höhe, je länger sich der Nachmittag hinzog, drängten uns weiter und weiter nach Süden ab. Auf der Landkarte sieht alles immer simpel aus, gähnende Leere überall, man bräuchte eigentlich nur einer schnurgeraden Linie zu folgen, doch um allzu schroffes Terrain und gerade um diese ›Ergs‹ genannten Sandgebirge macht man meist besser einen Bogen. Selbst mit einem Wüstentruck kann es sonst passieren, dass du in einem Dünental strandest, aus dem du aus eigener Kraft nicht wieder rauskommst. Oder nur nach endloser Plackerei mit Seilwinde, Sandanker und Sandblechen. In den Sportvideos von Wüstenrallyes braten sie immer mit Vollgas über alles hinweg, doch diese Veranstaltungen haben mit der Realität der Fortbewegung in die Wüste so viel gemein wie die Formel Eins mit dem morgendlichen Stadtverkehr.
Schon bald war der dunkle Boden nicht mehr zu sehen, wühlten wir uns durch weichen Sand, der stündlich tiefer wurde. Der Motor musste jetzt richtig arbeiten, knurrte verbissen, saugte eine Menge Sprit weg. Ich wäre noch weiter ausgewichen, doch am südlichen Horizont reckten sich schon die nächsten Dünenkämme in den Himmel, leuchtend orange und ebenso schön wie schwer zu queren, so dass ich weiter Kurs Richtung Westen hielt, es dem Auge und dem Gefühl am Lenkrad überließ, wo der Sand den geringsten Widerstand zu leisten versprach.
Das Rätselhafte war, dass die Schweizer augenscheinlich perfekt vorbereitet zu ihrer Exkursion aufgebrochen waren. Ein Fahrzeug mit Allesüberwinder-Qualitäten, eine Bevorratung für Wochen und eine tägliche Meldung bei ihrem Amateurarchäologen-Verein, der schon mehrmals ähnliche Expeditionen von Lausanne aus begleitet hatte. Die Vereinsmitglieder waren es, die um Hilfe gebeten und sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt hatten, doch auch sie konnten trotz mehrfachen Nachfragens keine GPS-Kennung des Unimogs liefern.
So blieb nur die letzte Positionsangabe der Züricher von vor ziemlich genau zwei Wochen. Nach fünf Tagen ohne Meldung hatten die Lausanner, wie vorher vereinbart, das Paar und den Unimog als vermisst gemeldet. Zwei Tage später war ein Suchtrupp von der Militärbasis in Timiaouine aufgebrochen, angeblich unterstützt von einem Flugzeug. Nach vier Tagen war die Suche ohne Ergebnis beendet worden. Immerhin. Wären es afrikanische Migranten gewesen, hätte man sich nur den Hintern gekratzt und die Schultern gezuckt. Doch nach Angehörigen der westlichen Industrienationen wird schon gesucht. Es gibt da einen gewissen Druck von den Botschaften auf die Regierung – Stichwort ›Reisewarnung‹ – und der wird weitergereicht an die Behörden der Provinzen und von da an die Vertreter in den nächstgelegenen Oasen. Die setzen jetzt nicht unbedingt Himmel und Hölle in Bewegung. Dazu mangelt es allzu oft an der rechten Begeisterung oder einfach nur an Empathie.
Ich muss das erklären. Vor allem Individual- oder Abenteuerreisende sonnen sich gern in dem Interesse, das ihnen von den Wüstenbewohnern entgegengebracht wird, halten es nicht selten für Respekt, wenn nicht Bewunderung für ihren Mut und ihre Zähigkeit, mit denen sie sich einen Urlaub lang den Widrigkeiten der Sahara stellen, und übersehen dabei, dass die Leute einfach nur Zerstreuung suchen. Es ist scheiße langweilig in diesen isolierten Käffern, also lässt man sich bereitwillig auf Gespräche mit Auswärtigen ein, lauscht höflich ihren Angebereien und denkt sich seinen Teil dazu. Ich bin mir sicher, dass die meisten, mit denen ich hier Kontakt habe, innerlich den Kopf schütteln über das Streunerleben, das ich führe. Ein Typ, der aus einem Land kommt, in dem man nur einen Hahn aufdrehen muss, um an Wasser in beliebiger Menge zu kommen, anstatt es Eimer für Eimer aus einem tiefen Loch hochzerren zu müssen, der bequem zu Fuß zum Arzt oder zum Supermarkt gehen kann, der vom Staat fürs Nichtstun mehr Geld bekommt als ein algerischer Landarbeiter mit seiner tagtäglichen Wühlerei verdient – und der statt in diesem Luxus zu schwelgen lieber in einer rollenden Hundehütte haust und sich unablässig in der gottverfluchten Einöde herumtreibt? Seid nett zu ihm, Kinder, aber haltet ein bisschen Abstand, denn er muss einen an der Waffel haben, der Gute.
Wenn jetzt einer oder mehrere solcher Spinner verschüttgehen, dann ist das eben ihr Pech, vermutlich Schicksal, oder Allahs Wille, und da die Chancen, den oder die Vermissten zu finden, erfahrungsgemäß gering, Kosten, Strapazen und Risiken einer derartigen Suchaktion aber nicht zu unterschätzen sind, reißt sich dafür niemand wirklich ein Bein aus.
Nach dem ›Sorry, aber …‹ aus Timiaouine hatten die Lausanner auf Vermittlung des Zollchefs von Tamanrasset mich kontaktiert. Und ich war jetzt den dritten Tag unterwegs. Die Sache ist die: In den mittlerweile vierzehn Tagen hätten es die beiden zur Not auch zu Fuß nach Timiaouine schaffen können. Durch schwieriges, weil felsiges Gelände, sicher, aber felsig heißt auch, zumindest teilweise, schattig. Dass sie es nicht getan oder nicht geschafft hatten, ließ schon vermuten, dass etwas Ernsteres vorlag, eine fatale Mixtur aus Kommunikationsabriss und Immobilität.
Gegen Abend stieg das Gelände leicht, aber stetig an, und Felsboden begann sich durch den Sand zu drücken. Überall in der Gegend standen, in höflichem Abstand zueinander, knorrige, blattlose Büsche. Die sinkende Sonne stach mir in die Augen und machte es nicht leichter, die Sträucher zu umfahren. Überflüssige Sorgfalt, könnte man meinen, denn sie sehen tot aus, komplett verdorrt, trocken wie Zunder, doch das täuscht. Ich bin mal für drei Tage mit einem Defekt an der Spritpumpe in einer ähnlichen Gegend gestrandet, hab am Abend des ersten Tages mein Waschwasser neben solch einem Strauch ausgeschüttet, am nächsten noch mal, und als ich tags drauf endlich fertig war mit der Reparatur, hatten sich an sämtlichen Zweigen Knospen gebildet, aus denen leuchtend grüne Blätter ans Licht drängten. Man glaubt nicht, wie viel pflanzliches Leben sich hier im Wartestand befindet. Wenn der Passat Regenwolken im Gepäck hat, bleiben die gern an den Bergen hängen, entladen sich in heftigen Güssen. Ohne Wald, ohne Boden, um es aufzunehmen, rauscht alles Wasser die felsigen Hänge hinab, schießt unten in die Ebene und folgt dabei meist schon vorhandenen, häufig tief ins Gelände gespülten trockenen Flussbetten, ›Wadis‹ oder auch ›Oueds‹ genannt. Kaum ist das Wasser durch, pressen sich Blumen und Wildkräuter nur so aus dem Boden, füllen das gesamte Tal in kürzester Zeit mit Farben und Leben, bis ein paar Wochen später alles wieder verblüht, verdorrt, trockenfällt, manchmal für Jahre, manchmal Jahrzehnte, für schlicht und einfach unbestimmte Zeit. Unvorstellbar. Alles, was wir gedanklich mit dem Begriff ›Geduld‹ verbinden, die Flora der Wüste kann darüber nur müde lächeln.
Wir fuhren bis in die Nacht hinein. Der Felsgrund neigte sich irgendwann wieder abwärts und wir legten noch ein paar gute, flotte Kilometer auf ebenem, festem Sand zurück, bis Bella unruhig wurde und ich den Truck auslaufen ließ.
Wir tippelten eine Runde unter den Sternen, dann füllte ich Bella den Napf und kochte Spaghetti. Goss das Wasser ab, teilte die Nudeln – eine Hälfte für Bellas Frühstück –, kippte die andere Hälfte in die Pfanne, mischte Olivenöl, Knoblauch, gehackte Chilischote und eine Handvoll kleingeschnippelter Trockenfrüchte darunter. Der Wind wehte mäßig, also baute ich Klapptisch und -stuhl draußen auf, nahm die Pfanne und ein Stück Fladenbrot mit hinaus und schaufelte mir mein Abendbrot rein. Ein schmaler Fingernagel-Mond zeigte sich am Horizont. Der Auspuff und andere heiß gewordene Teile des Trucks kühlten unter letzten, knackenden Geräuschen ab, danach herrschte Stille. Ich ging rein, wischte die Pfanne aus, verstaute sie in ihrer Lade, brühte mir einen Tee auf, kramte den kleinen Campinggas-Bunsenbrenner aus dem Schrank unter der Werkbank, riss einen Streifen Alufolie ab und schnappte mir ein Feuerzeug, einen gläsernen Strohhalm, ein kleines Küchenmesser und das Senfglas, packte alles draußen auf den Tisch. Windjacke, Jogginghose an, fläzte ich mich in meinen Campingstuhl, säbelte etwas bröckeliges Opium in die längsgefaltete Alufolie, brachte den Brenner zum Fauchen, hielt die Folie über die Flamme und saugte mir mit dem Trinkhalm den entstehenden Dampf in die Lunge. Bisschen heiß im Hals, bisschen bitter auf der Zunge, aber schon ein paar Minütchen später … aah. Jetzt der Tee. Perfekt.
Die Milchstraße beherrschte den Himmel, das Erstaunlichste immer wieder, dass so viel Masse, so viel unbändige Energie in solcher Geräuschlosigkeit vonstattengehen kann. Satelliten rasten kreuz und quer von Horizont zu Horizont und so dicht über meinen Kopf, dass ich meinte, sie mit der Hand einfangen zu können. Ja, genau. Haha. Mit der Hand. ›Like a voodoo chile‹. Ich dampfte noch ein bisschen was. Tee war alle. Wenn schon.
Bella leckte mir die Hand, schreckte mich auf. Zeit für den Abendspaziergang. Also denn. Vollkommen ebener Untergrund, vollkommener Frieden darüber. Absolutes Wohlbefinden.
Zurück am Truck holte ich mir zwei Decken raus, legte eine auf den Boden, streckte mich darauf aus und wickelte mir die andere um den Balg. Lag da, meinen Hund an meiner Seite, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, nur zu bereit, im warmen Schlick des Schlafs zu versinken. Alle Reiseführer warnen davor, doch mit genug Opiat im Blut verliert dieses ganze krabbelnde, schleichende, haarige oder hornige, beißende oder stechende, giftige Getier sehr, sehr, sehr, sehr viel von seinem Schrecken. Alle Reiseführer warnen ja auch davor, das Wasser zu trinken, und …
Die Sonne feuerte ihre ersten Strahlen hoch in den Himmel und quer über die Ebene, genau in mein Gesicht, voll auf die Zwölf. Ich kniepte ein Auge auf und nur eine Sekunde später füllte eine feuchte Hundezunge mein rechtes Ohr, gefolgt von freudigem Gehechel. Ich richtete mich auf, ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Das Opium summte noch ein wenig in meinen Adern, doch nicht genug, um mich zu hindern, den neuen Tag mit einigem Elan anzugehen. Bella rannte vor, ich mit dem Spaten auf der Schulter hinterher, weit raus in die Ebene, wo ich mir völlig außer Atem ein Loch in den Boden stach, mich drüberhockte und … haarscharf daran vorbeischrappte, glubschäugig zu werden. Opium stopft, ich sag's euch.
Ein hastiges Frühstück, Sachen zusammengepackt, und schon saßen wir auf unseren Sitzen, ich glühte den Diesel vor, startete, wartete, dass der Druck im System die Bremsen freigab, und wir waren unterwegs. Fenster offen, Nase oder Ellbogen raus, gerader, fester Grund, die Sonne in den Spiegeln, rechte Hand in Bellas Fell, zwölfter Gang bei Halbgas und Rückenwind, müheloses, einfaches Rollenlassen. Kein Mensch, und nichts von Menschenhand Gemachtes weit und breit, allein unterwegs auf einem fernen, wilden Planeten.
Schon gegen Mittag kamen die ersten Gipfel des Adrar-des-Ifoghas-Gebirges in Sicht. Wir legten eine Pause ein, ich checkte mein SatPhone – keine neue Nachricht – und stellte die Navi-Funktion meines GPS-Geräts ein. Mit ein bisschen Glück würden wir den letzten bekannten Aufenthaltsort der Züricher noch heute Abend erreichen.
Keine neue Nachricht bedeutete auch keine Lösegeldforderung, oder noch keine. Sollte eine eingehen, würde ich sofort kehrtmachen und das Weite suchen. Wenn mich die letzten Jahre eines gelehrt haben, dann, mich nicht in die Geschäftspraktiken von Terrormilizen oder der Organisierten Kriminalität einzumischen. Staaten – ich meine: Staaten – haben ihre Schwierigkeiten damit, und die können sie behalten, was mich angeht. Nein, danke. War da, hab’s gesehen, hab’s getan, und hab mehr mit nach Hause gebracht als nur das bedruckte T-Shirt.
Bella und ich dösten ein bisschen, doch schon nach kurzer Zeit wurde ich zappelig, wollte weiter. Vielleicht, nur vielleicht, aber, verdammt, warum nicht?, vielleicht warteten die Züricher ja wirklich auf Hilfe, hatten sich entschlossen, den Schutz und die Vorräte ihres wie auch immer liegengebliebenen Fahrzeugs nicht zu verlassen und würden sich wie verrückt freuen, mich zu sehen. Ja. Ein kurzer, wärmender Gedanke, der nur allzu bald schon wieder der nüchternen Kühle erfahrungsgestützter Skepsis weichen musste.
Egal, wir fuhren.
Das Tageslicht schwand wie von energischer Hand abgedimmt und ich musste sämtliche Scheinwerfer einschalten, um den beständig unebener werdenden Boden auszuleuchten. Das Lenkrad war jetzt in ständiger Bewegung, der Schaltknüppel erst recht. Der Truck hat ein Sechs-über-Sechs-Klauengetriebe, bei dem jeder Gangwechsel durch den Leerlauf muss, mit Doppelkuppeln rauf, Doppelkuppeln plus Zwischengas runter. Braucht eine gewisse Eingewöhnung, doch anschließend wird man mit der Zufriedenheit belohnt, die die Handhabung einer anspruchsvollen, dafür aber wohlgeölt und höchst präzise arbeitenden Mechanik mit sich bringt.
Das Gelände wurde ruppiger, das Vorwärtskommen langsamer und schwieriger, doch ich hatte meinen Spaß. Das GPS gab jetzt kleine, piepende Geräusche von sich, in immer kürzer werdender Taktung, und mein Herz klopfte, weil wir uns unserem Ziel näherten und keiner sagen konnte, was uns da erwartete.
Nun ja. Ich fuhr bis zum Dauerton, stoppte und knipste das GPS aus. Was uns erwartet hatte, war – Überraschung – ein Stück Wüste, mit teils felsigem, vom Wind geschmirgeltem, teils sandigem Grund, und das, soweit das Licht der Scheinwerfer reichte. Ich schaltete sie aus, dann den Motor. Das Herzklopfen der Erwartung gab sich recht bald. Wir waren da, am Ziel, doch viel los war hier nicht. Na, mal sehen, was der Morgen brachte. Es ist immer ein kleines Ereignis, ein mildes Gefühl von Abenteuer, wenn du beim Aufwachen nur vage Vorstellungen davon hast, wo, in welcher Landschaft von welcher Farbe und Kontur du am Vorabend gelandet bist.
Bella verließ mich, trieb sich allein herum, das Luder, wie sie es schon mal gerne tut, ich kochte inzwischen Reis für uns beide. Rührte gekörnte Brühe mit hinein, und einen ordentlichen Schuss Olivenöl. Probierte. Schmeckte irgendwie … bäh. Mir war eh nicht so sehr nach essen. Wir waren da, angekommen am Ausgangspunkt unserer Suche, und das rieb mich auf. Okay, ich aß ein paar Löffel, fürs Gewissen, dann noch ein paar für die Konstitution, ließ den Rest bei geöffnetem Deckel auskühlen.
Holte den Klapptisch raus, den Stuhl, den Bunsenbrenner und was es sonst noch so braucht, um einen Tag am Steuer harmonisch ausklingen zu lassen und erzwungene Untätigkeit erträglich zu gestalten. Morgen war ein neuer Tag, und bis dahin …
Bella kam aus dem Dunkel angetrottet, rieb ihren Kopf an meinem Bein und gab dieses tiefe Grummeln von sich, das sich wie auf die Stimmbänder übertragenes Magenknurren anhört.
»Na«, sagte ich, »wolln wir mal sehen, was der Maestro so hingezaubert bekommt.« Ich mischte Trockenfutter mit dem Reis und stellte ihr den Napf vor die Nase. Mit wohligem Grunzen machte sie sich drüber her. Sie ist ein großes Mädchen mit gehörigem Appetit, und sie mag alles, was ich ihr vorsetze. Lerne kochen, sage ich immer, wenn du sie an dich binden willst. Aussehen, Einkommen, Sex, Status – alles völlig überschätzt. Lerne kochen, lerne zu kochen, was sie mögen, und sie fressen dir aus der, tja, Hand.
Ich sackte wieder auf meinen Klappstuhl, qualmte ein bisschen was weg. Doch die große, die richtige Ruhe wollte sich nicht recht einstellen. Morgen früh, im ersten Licht, würden wir uns auf die Suche machen, und noch hatte ich keinen Plan, keine Vorstellung, wo anfangen und wohin von da aus.
Ich räumte den Tisch leer, ging rein und holte meine Kartentasche raus. Erst als ich die topographische Karte Südalgeriens auf der Tischplatte ausbreitete und sie liegenblieb, ohne dass ich beide Unterarme und mindestens einen Oberschenkel aufbieten musste, um sie am Davonflattern zu hindern, wurde mir mit einem dankbaren Seufzer klar, dass der seit Wochen unablässig blasende Wind plötzlich eingeschlafen war.
In der Schublade des Schreibtisches neben der Werkbank fand ich ein Lineal, einen Bleistift, einen Spitzer. Ich habe den Truck samt Einrichtung übernommen und brauchte bisher eigentlich immer nur Vorräte aufzustocken – Wasser, Diesel, Gas, Lebensmittel. Alles andere, von Schreib- und Küchenutensilien über Werkzeug bis hin zu bestimmten Ersatzteilen, ist zu meiner anhaltenden Verblüffung irgendwie vorhanden. Die defekte Spritpumpe zu reparieren hat damals auch deshalb drei Tage in Anspruch genommen, weil ich zweieinhalb Tage lang versuchte, die fehlerhafte Dichtung selber zu schnitzen, bis ich am dritten Tag in einer Schublade der Werkbank eine ganze Tüte voll Dichtringe gefunden habe, von denen gleich mehrere exakt passten.
Mithilfe des Lineals übertrug ich im Schein meines Stirnlichts die GPS-Daten auf die Karte, markierte unseren Standort mit einem präzisen Kreuz. Stand dann eine Weile da und sah es mir zufrieden an, bevor ich mir einen Ruck gab.
Die südlichen Ausläufer des Adrar des Ifoghas liegen wie die Finger einer gespreizten Hand auf der Ebene, die Finger dabei felsig, die Zwischenräume sandig. Wir befanden uns an einer Stelle ähnlich der Spitze eines rechten Zeigefingers, mit einer großen, halbrunden Ausbuchtung zur östlichen Seite und einem schmaleren, sich beständig verengenden Tal auf der westlichen. Beides zusammen war viel zu weitläufig, um es an einem Tag erkunden zu wollen, deshalb würde ich mich für eine Seite entscheiden müssen. Und selbst dann musste ich meine Suche räumlich eingrenzen.
Ich knipste mein Stirnlicht aus, fachte den Brenner an, inhalierte Dampf und ordnete meine Gedanken.
Legte man die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der wir uns herbewegt hatten, zugrunde, befand sich Timiaouine etwa anderthalb bis zwei Tagesreisen entfernt. Das bedeutete, die von dort gestartete viertägige Suchaktion war aller Wahrscheinlichkeit nach so vonstattengegangen: Der Suchtrupp war hier rausgefahren, hatte sich ein paar Stunden lang umgesehen und dann wieder auf den Heimweg gemacht. Die unmittelbare Umgebung sollte damit abgegrast sein.
Die Schweizer wollten Felszeichnungen suchen. Diese Bilder stammen aus der Eiszeit, als in der Sahara ein mediterranes Klima geherrscht hatte, mit entsprechender Vegetation und, wenn auch dünner, Besiedlung. Die riesige Zeitspanne seitdem konnten nur Zeichnungen an besonders geschützten Orten überstehen, unter überhängenden Felswänden etwa, oder in Höhlen, auf alle Fälle aber: im Gebirge.
Die Schweizer würden kraxeln müssen, wollten dabei aber ganz bestimmt ihr Mobilheim möglichst nahe zur Hand haben. Über den felsigen Zeigefinger zu fahren dürfte unmöglich sein, selbst mit einem Unimog. Blieben die sandigen Täler. Von hier aus in die Berge, möglichst kommod und so nah wie nur eben machbar ran.
Ich knipste das Stirnlicht an, ging rein, suchte und fand einen Zirkel, knöpfte mir die Karte noch mal vor und zeichnete einen Halbkreis um unseren Standort, der grob der halben Entfernung zu Timiaouine und somit ungefähr einer möglichen Tagesreise entsprach. Einen Halbkreis in Richtung der Berge. Irgendwo zwischen hier und da musste etwas passiert sein.
Ich machte die Lampe wieder aus, setzte mich, griff noch mal zu Brenner und Stanniol. Inhalierte, exhalierte, lehnte mich im Stuhl zurück. Möglichst kommod …
Der Gebirgsausläufer, an dessen Spitze wir campierten, erstreckte sich in Nord-Süd-Richtung, lag also quer zum Passatwind, der drüber hinwegrollt und an der Leeseite den Sand zu einem Chaos von Dünen verwirbelt. Auf der Luvseite bläst er dagegen nur gleichmäßig den Hang hinauf … Wollte ich möglichst kommod so nah es nur ging an die Berge heran, ich würde es durch das weite, halbrunde Becken auf der Vorderseite des Felsausläufers versuchen und nicht durch das sich immer weiter verjüngende Tal auf seiner Rückseite. Und je länger ich darüber nachdachte, je gründlicher ich das Für und Wider abwog, desto sicherer wurde ich mir, dass die Schweizer ganz ähnlich entschieden hatten. Also. Alles klar, alles ganz einfach. Die Fahrtrichtung für morgen früh stand fest. Wunderbar. Es geht doch nichts über einen Zustand entspannter Inspiration.
Die Sonne krallte sich mit gleißender Hitze in meine Lider und ich stöhnte auf, erwachte zu einem grausam verrenkten Hals in dem nicht wirklich zum Übernachten konstruierten Campingklappstuhl.
Noch nicht ganz wach schmiss ich schon alle am Vorabend gezogenen Schlüsse und darauf fundierenden Pläne über den Haufen. Drogen waren immer schon beschissene Ratgeber.
Möglichst kommod, mein Arsch. Die Schweizer mochten nur Hobby-Archäologen sein, aber sie hatten ihre Erfahrungen und ich schätzte, sie wussten, dass das, was sie suchten, sich in einem schroffen, engen Tal wesentlich eher finden lassen würde als in einem exponierten, halbrunden Becken.
Begleitet von Bella joggte ich mir die Steifheit aus den Extremitäten und möglichst auch das Opiat aus den Blutbahnen. Wir hoppelten in Richtung des westlich gelegenen Tals, wo ich mir schon mal einen ersten Blick im frühen Morgenlicht verschaffte, und ja, es war das vermutete Chaos aus kreuz und quer geblasenen Dünen, hellgelb und weich im Kontrast zu den kantigen dunkelbraunen Felsen des Ausläufers und der fernen Berge. Ich hielt an, Puls bis hoch in die Ohren, Atemzüge wie Messerstiche ins Zwerchfell, und besah mir die vor uns liegende Strecke mit einer nicht unfreundlichen und doch grimmigen Entschlossenheit. Hier zu fahren würde nicht einfach werden, doch wer will es schon einfach? Mann, ich konnte es kaum erwarten, in die nächste Oase einzufallen und den Leuten da von meinen neuesten Abenteuern zu erzählen.
Wir gingen zurück, aßen was, tranken was, ich ließ etwas Druck aus den Reifen für eine breitere Auflage, dann schwangen wir uns in die Fahrerkabine.
Bella wurde es bald zu schaukelig, sie glitt vom Beifahrersitz und rollte sich im Fußraum zusammen, mit Hintern und Schultern gegen die Wände links und rechts abgestützt. Ich aktivierte das kurz übersetzte Vorgelege des Getriebes, schaltete die Differentialsperren dazu und hielt das Lenkrad mit leichter Hand, ließ den Truck sich seinen Weg durch die Sandberge wühlen. Auf jedem Kamm orientierte ich mich neu und wurde mir immer sicherer, dass die Dünen zur Mitte des Tals hin abflachten, deshalb schwenkte ich in diese Richtung ein. Es gibt bei fast jeder Suche einen Moment, wo du dich einklinkst, wo deine Fühler Kontakt melden, wo du spürst, du liegst richtig, du kommst nah und näher. Mein Puls pumpte Adrenalin in meine Adern, schwemmte alles andere raus. Meine Augen waren weit, sahen alles, meine Sinne wach, sämtliche Antennen ausgefahren.
Nach Reifenspuren Ausschau zu halten war sinnlos, vierzehn Tage Passatwind hätten die Kettenschneisen einer Panzerarmee ins Nichts geblasen. Ich ließ einfach den Blick schweifen, vielleicht hörte uns ja jemand, vielleicht sah uns jemand, vielleicht winkte uns jemand, folgte ansonsten meinem Instinkt, der mich weiter und weiter nach Norden, aber auch Richtung Talmitte zog, bis wir eine weitere Düne hinabglitten, wie meist mehr rutschend als fahrend, und ich ruckartig auf die Bremse trat, nur einen Meter oder so vor einer scharfen Abbruchkante im Sandboden.
Wir kamen zum Stehen, ich nahm den Gang raus, machte den Motor aus und mein Magen gab ein Geräusch von sich wie ein Korken, den man zurück in den Flaschenhals drückt, ein leises, feuchtes, protestierendes Reibungsquietschen. Vor mir erstreckte sich ein von Nord nach Süd verlaufendes Wadi, mehrere Meter tief, an dieser Stelle gut und gern hundert Meter breit, die steilen Wände gewellt wie Vorhänge, der Boden einladend eben und fest und gut befahrbar. Und in breiten Streifen entlang beider Ränder dicht bedeckt mit jungen, frischen Blüten.