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Das sah nicht gut aus. Okay, es war ein schöner Anblick, nur leider überschattet von bösen Vorahnungen. Ich startete den Motor wieder, bugsierte den Truck ein Stück rückwärts, nahm wieder Kurs Richtung Norden, durch die Dünen, folgte dem Rand des Wadis bis zu einer Biegung, in der es das Ufer so weit ausgewaschen hatte, dass ich wie über eine Rampe ins Flussbett hinabfahren konnte.
Die ganzen mechanischen Kletterhilfen waren nun nicht länger nötig, also schaltete ich alles zurück auf normalen Fahrbetrieb. Bella nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz wieder ein, ich wählte einen tiefen Gang und wir krochen langsam das Wadi bergan, mein Magen eine Kakophonie von Quietschtönen. Die Felswände des Tals wuchsen links und rechts in die Höhe und rückten enger zusammen. Auch das Wadi wurde beständig schmaler, dabei steiler. Felsbrocken, die das Wasser aus den Bergen mitgebracht hatte, lagen verstreut herum, manche so groß wie ein Pkw. Ich umkurvte ein paar davon und stoppte dann abrupt. Ich hatte den Unimog gefunden. Oder besser, das Chassis. Oder noch präziser, seine vier Räder, denn mehr ragte nicht aus dem glattgewaschenen Sand heraus, nur zwei Paar Halbkreise mit Stollenreifen. Der Rest des Fahrzeugs war kopfunter im Sand verschwunden. Ich machte den Motor aus, kletterte aus der Kabine, ging nach hinten und ließ auch Bella raus. Sie sah sich um, folgte meinem Blick, ging zu den Reifen, schnüffelte eine Weile herum und verlor das Interesse. Keine Leichen unter dem Sand, hieß das. Nicht hier, zumindest.
Wir liefen ein Stück, weiter hoch. Selbst ohne Blüten sind die von den Wassermassen in Wände aus Fels und Sand gefrästen Schluchten oft von bizarrer Schönheit, laden zum Verweilen, zum Erforschen ihrer Nischen und Ecken, die Schatten bieten und Schutz vor dem unermüdlichen Wind.
Irgendwann wurde mir klar, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren. Das Wadi wurde eng und enger, seine Wände höher und höher. Was immer sich hier vor der Flut befunden hatte, es war weg, fortgerissen.
Zurück im Truck wendete ich, legte den Zweiten ein und wir rollten mit Standgas talabwärts. Nach ungefähr einer Stunde fand ich den Campingaufbau des Unimogs, zusammenfaltet wie ein plattgetretener Karton und halb unter Schwemmsand begraben. Ich hielt an, ließ Bella raus, packte eine Flasche Wasser, das GPS-Gerät und die Nikon in einen kleinen Rucksack, griff mir den Spaten. Wir besahen uns den Aufbau, der mit einer Fensterseite nach oben dalag. Ich brach das Fenster raus, Bella und ich steckten unsere Köpfe in die Öffnung. Das Innere war halbvoll Wasser und Sand gelaufen, ein Durcheinander aus Textilien, Utensilien, Flaschen, Dosen, zerschmetterter Einrichtung, roch aber unverdächtig, einfach nur nass.
Spaten auf der Schulter, Bella dicht bei mir, setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Noch hatten wir zwei Stunden Tageslicht zu erwarten. Nach rund einer Stunde schreckte mich Bella mit einem kurzen Aufheulen aus meinen Gedanken. Nase dicht über dem Boden lief sie in enger werdenden Kreisen um eine bestimmte Stelle herum, bevor sie mit den Vorderpfoten zu scharren begann. Ich sagte: »Lass mich mal«, sie machte Platz und ich stieß den Spaten in den kompakten Sand. Nur ein paar Minuten später gab ich auf. Das Loch lief unaufhaltbar voll Wasser, das Wasser brachte neuen Sand, ein Weitergraben war sinnlos. Ich holte das GPS-Gerät hervor, speicherte die Position und wir gingen weiter.
Dreißig Minuten später ragte vor uns ein Fuß aus dem Flussbett. Ein menschlicher Fuß, oder besser gesagt das, was davon noch übrig war, abgenagt und jetzt schon UV-gebleicht. Die Sonne sank, also machte ich mich zügig ans Graben, immer rings um das senkrecht im Sand steckende, nackte Bein. Verwesungsgeruch stieg auf und wurde mit jedem Spatenstich schlimmer, bis auch hier in einer Tiefe von gerade mal einem halben Meter Wasser von allen Seiten einbrach, wofür ich, ganz ehrlich, mehr als nur ein bisschen dankbar war. Spätestens im Frühjahr sollte der Boden weit genug durchgetrocknet sein, um die beiden zu bergen, doch bis dahin war das praktisch unmöglich. Position gespeichert, machten wir uns in rasch fallender Dunkelheit und unter einem theatralisch heraufziehenden Sternenhimmel auf den Rückweg. Bella war vergnügt, all die Blumen, die Feuchtigkeit im Boden, das frische Grün waren Musik für ihre Nase, doch ich fühlte mich leer, enttäuscht, irgendwie mitgenommen. Die beiden Schweizer hatten keinen großen Fehler gemacht, keine Idiotie begangen, nichts, wofür man sich an den Kopf packen müsste. Sie waren einfach nur einem trockenen Flussbett gefolgt, das möglicherweise seit Jahren kein Wasser gesehen hatte und so wirkte, als ob es auch Jahrhunderte gewesen sein könnten. Was also sollte schon passieren? Ja, genau.
Es gab Spaghetti, mal wieder, gefolgt von Opiumdampf und Pfefferminztee. Die Mondsichel wanderte den Himmel hoch, tauchte das Wadi in fahles Licht, und ohne Wind war die Stille vollkommen. Ich holte mein SatPhone raus und schickte die traurigen Neuigkeiten zusammen mit den Geo-Koordinaten nach Lausanne. Ein halbe Stunde später kam die bange Frage, ob ich mir sicher sei, was ich mit einem bedauernden Ja beantwortete. Danach kam nichts mehr außer bestürztem Schweigen. Kristof ›Hiob‹ Kryszinski, auch ›Bad News‹ genannt. Fünf Tage unterwegs und vier gefundene Leichen waren ein neuer persönlicher Rekord, wenn auch kein richtiger Grund zum Feiern. Sitzen und Grübeln half allerdings gar nichts, deshalb rief ich Bella und wir wanderten noch mal ein Stück das Wadi hoch, durch eine von reißenden Fluten surreal geformte Landschaft in vergänglicher Blüte, monochrom im Mondschein, bis es irgendwann Zeit wurde für die Koje.
Die Sonne weckte mich, wie üblich, zu Bellas uneingeschränkter Begeisterung, und während unserer Morgenrunde zog ich Bilanz, versuchte meine gedrückte Stimmung zu verscheuchen. Ich hatte niemanden auf dem Gewissen, ich hatte nur gesucht, gefunden, Meldung gemacht. Haken dahinter. Mehr war von mir nicht zu erwarten, mehr gab es nicht zu tun, nichts weiter dazu zu sagen. Die kommenden Tage konnte ich mich treiben lassen, musste nur den Spritverbrauch im Auge behalten, alles andere war in beruhigendem Maße vorhanden. Also. Rückkehr zur Normalität.
Nach dem Frühstück blickte ich dem Truck unter die linke, dann die rechte Seite der schmalen Schnauze, füllte Öl und Kühlwasser nach, holte den Luftfilter aus seinem Gehäuse, blies ihn aus und setzte ihn wieder ein, warf einen kritischen Blick auf die Keilriemen und den generellen Zustand aller Kabel und Leitungen, fand nichts, was mein Eingreifen nötig gemacht hätte, und verriegelte die Klappen wieder. Zog den spiralförmigen Druckschlauch in die Länge, einmal ums Auto, und brachte die Reifen wieder auf ihren normalen Luftdruck. So.
Brenner und Senfglas standen noch auf dem Klapptisch, und die Versuchung, den Rest des Tages im Tran zu verdödeln, kam und ging. Ich räumte alles rein, machte den Truck startklar. Der Gedanke, den zerstörten Aufbau des Unimogs noch kurz nach Wertsachen zu durchsuchen, kam, und verging ebenfalls. Irgendwas entdeckt man fast immer, doch ich war nicht in der Stimmung, hatte nicht das Gefühl, etwas finden zu können, an dem ich anschließend echtes Vergnügen haben würde.
Weg hier. Nur raus aus dem Wadi. Selbstverständlich wirkt es höchst unwahrscheinlich, dass ein Wüstenflusstal, das nur alle Jubeljahre mal für kurze Zeit Wasser führt, in zwei Wochen gleich zweimal hintereinander durchflutet wird, doch ist die Risikobewertung in dieser Hinsicht eine Bitch: Ist eine Flut durch, ist die Chance, von einer erneuten Welle überrascht zu werden, wieder genauso hoch oder niedrig wie vorher. Es ist, unter umgekehrten Vorzeichen, wie beim Lotto: Niemand hält es für möglich, dass zweimal hintereinander dieselben Zahlen gezogen werden, und doch kannst du jede Woche hingehen und die Zahlen der letzten Ziehung ankreuzen, ohne dass es deine Chancen auf einen Hauptgewinn auch nur um ein Jota schmälert.
Also, weg hier. Nur eins, eins musste noch sein: Ich holte den Zinkeimer raus, scharrte mir damit eine schöne, große, tiefe Mulde in den Boden, sah zu, wie sie voll Wasser lief, zog mich aus, hockte mich nackt in die sandige Brühe und gönnte mir eine gründliche Wäsche, etwas, das bei Wüstenreisen nur allzu leicht zu kurz kommt. Und, einmal dabei, noch eine Rasur. Bisschen wie vor einem Date. Eau de Toilette? Wo hab ich’s nur …?
Jetzt aber. Frische Plörren an, der Mann wie neu, weg hier. Fehlte nur … Bella. In der Mulde, auf dem Rücken, in leichter Wälzbewegung, Zunge halb aus dem Maul, alle Viere hoch in die Luft gestreckt, wohlig grunzend wie eine dicke, glückliche, graue Sau.
Ich geb’s dran, dachte ich. Soll sich doch jemand anders um die Verschwundenen kümmern, sich mit ihren Leichen belasten. Ich will nur noch meine Ruhe, meinen Frieden, meine Freiheit. Und ab und zu mal eine schöne Suhle.
Die Fahrerkabine durchweht vom Duftstoff ›Chien Mouillé‹, rollten wir das Wadi abwärts, bis es in der Ebene in die Breite ging und verschwand. Nur ein paar angeschwemmte Kakteen markierten noch den äußersten Rand der Flut, bis hierhin war sie gekommen, um dann endgültig im Boden zu versickern.
Meine generelle Richtung war zurück nach Tamanrasset, von da vielleicht ins Hoggar-Gebirge oder in die Ténéré, ich war noch unentschlossen, hatte aber auch keine Eile. Ich passierte unseren vorgestrigen Übernachtungsplatz, umrundete die Spitze des Gebirgsausläufers, besah mir die Gegend östlich davon. Eine milde gewellte, durchgehend hell ockerfarbene Dünenlandschaft bedeckte das halbrunde Becken mit seiner fernen Peripherie aus dunkelbraunem Gestein. Neigung und Höhe der Dünen machten einen durchaus befahrbaren Eindruck, doch ich wusste nicht recht, was ich wollte, oder wohin. Gleichzeitig stand die Sonne im Zenit, knallte nur so aufs Dach, da bot es sich an, eine Pause einzulegen und die Entscheidung zu verschieben. Nichts trieb mich, nichts konnte mich zwingen. Ich parkte den Truck zwischen Felsen, kochte mir einen Tee, suchte und fand einen gangbaren Weg hinauf auf das zerklüftete Gestein, setzte mich oben in den Schatten eines großen Brockens, schlürfte Tee und ließ den Blick schweifen. Die Mittagshitze sog Sandwirbel in die Höhe, die für kurze Zeit über die Ebene taumelten, bevor sie wieder in sich zusammenfielen. Bella gesellte sich zu mir, gähnte ansteckend, streckte sich aus und schloss die Augen. Ansteckend, wie gesagt.
Ich hörte Stimmen. Im ersten Moment war ich mir sicher, dass ich träumte, im zweiten, alarmiert, dass nicht. Ich war wach, und jemand rief irgendwas Fragendes. Ich stand auf. Blickte runter zum Truck. Ein weißer Toyota Pick-up parkte dahinter. Er parkte so, dass er meinen Truck zwischen den Felsen festnagelte. Jemand sah mich, jemand winkte mir. Mit einem Sturmgewehr. Ja, Scheiße.
Es waren die ersten Lebenden, die ich seit fast einer Woche traf, doch meine Begeisterung darüber hätte nicht bescheidener ausfallen können. Sie waren zu dritt, ein sehr junger Weißer, der mich fatal an Sid Vicious erinnerte, ein sehr junger Schwarzer, den ich auch ohne nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Punksänger ungerechterweise Johnny Rotten taufte, und ein Dritter, den ich nur als Schemen auf dem Beifahrersitz sehen konnte. Die Youngster waren beide unterernährt, bewaffnet mit AKs – was sonst? – und machten einen wie auch immer gehetzten Eindruck. Leute unter Schock, auf der Flucht, Zeugen oder Beteiligte von etwas Dramatischem, so was in der Art. Aufgekratzt, mit unsteten Blicken in Augen, die für ihre jungen Jahre schon zu viel gesehen hatten, kurz angebunden, mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Ich trat zu ihnen, Bella dicht an meinem Bein, auch sie angespannt. Wenn ihr eine Situation nicht behagt, gibt sie ein Knurren von sich, so tiefgestimmt, dass man es mehr spürt als hört.
»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Sid sachlich in einem Cockney-gefärbten Englisch.
Ich nickte ein Nicken, das Verständnis seiner Worte signalisieren, aber nichts darüber Hinausgehendes versprechen sollte. Schwierig, ich weiß. Sinnlos, obendrein. Egal, was sie vorhatten, egal, was sie von mir wollten, ich hatte keinen wirklichen Verhandlungsspielraum.
Johnny hockte sich auf einen Felsen und behielt mich und Bella abwechselnd in nervösem Blick. Er schien nicht viel zu sagen zu haben.
»Du bist nicht zufällig Arzt?«
Ich schüttelte energisch, geradezu kategorisch den Kopf. Es nutzte mir nichts. Sid winkte mich mit sich zur Beifahrerseite des Pick-ups, wo der Dritte bei offener Tür saß. Die ganze rechte Flanke des Wagens entlang zog sich eine Spur von Einschusslöchern, die Ränder frisch und silbergrau, wo es den weißen Lack weggefetzt hatte. Ich begann zu verstehen. Kaum etwas rüttelt einen so durch wie unter Beschuss zu geraten.
Der Mann auf dem Beifahrersitz war schon älter, ach was, er war alt. Ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht, ungesund bleich unter der dunkelbraunen Haut, ums Kinn ein mit Grau durchsetzter, dichter Gabelbart, eine Fellmütze auf dem Kopf, und das bei diesen Temperaturen. Afghane, ich war mir fast sicher. Er wandte mir den Kopf zu, die Augen schmal, Mimik und Bewegung steif vor Schmerz. Er trug eine bestickte Weste über einem bauschigen weißen Hemd, dazu eine Containerhose in Camouflage. Weste, Hemd, Hosenbund und selbst der Sitz darunter waren schwarz vor Blut, das offenbar weiterhin aus einer nicht sehr gekonnt verbundenen Verletzung an der linken Schulter quoll. Kein Wunder, dass er so bleich aussah.
»Ich fürchte, ich kann da nichts tun«, sagte ich ehrlich.
Er versuchte zu sprechen, winkte mich näher zu sich. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, beugte mich vor und spürte etwas Rundes, metallisch Kühles mein T-Shirt hochschieben und sich in meine linke Schulter bohren. Der Afghane krächzte etwas, das ich ohne jede Kenntnis seiner Sprache glasklar als ›Hilf mir oder teile mein Schicksal‹ verstand. Beflügelnd, es gibt kein anderes Wort dafür.
Die Größte der Gasflammen des Herds fauchte unter dem Nudeltopf. Zwischen Werkbank und Schreibtisch waren zwei stählerne Böcke untergebracht, die ich hervorzog und im Rausgehen Johnny zuwarf. Von der Seitenwand des Trucks löste ich die beiden Sandbleche, legte sie oben auf die Böcke, darauf rollte ich eine Isomatte aus und ging wieder rein. Ich fand eine Aldi-Tüte, die ich mit der Öffnung über den jetzt schnell heißer werdenden Kochtopf stülpte und mit Gaffer-Tape notdürftig fixierte. Die Youngster bugsierten den Afghanen Schritt für Schritt zu unserem improvisierten OP-Tisch, während ich die Anästhesie vorbereitete. Kaum lag der alte Mann, stellte ich den Klapptisch mit Brenner, Alufolie und einer Stange Opium neben ihn. Er nickte und brauchte offenbar keinerlei Instruktionen. Sid, unverkennbar aus einer sozialschwachen englischen Vorstadt, dessen punktvernarbte Arme mir so ziemlich alles über ihn erzählten, sah das Opium, sah zu mir, wieder zurück und schluckte sichtbar. Ich wies ihn an, dem Afghanen Weste und Hemd auszuziehen und den Verband vom Leib zu schneiden. Johnny, dem irgendwie alles Städtische abging, der auf eine ungelenke Art mehr wirkte wie ein afrikanisches Landei, mehr Kral als Kiez, konnte seine Augen nicht von Bella lassen, die wiederum seine Angst spürte, was sie noch misstrauischer und knurriger machte. Wenn ein Bewaffneter sich vor deiner Hündin fürchtet, bist du gut beraten, sie aus der Schusslinie zu holen, deshalb nahm ich sie mit rein, schloss die Tür.
Die Aldi-Tüte blähte sich prall mit Dampf gefüllt über dem Topf. Ich stellte das Gas aus, pellte die Tüte ab. Unter der Werkbank fand ich die übliche, angebrochene und schon lange zu Gummigelee erstarrte Silikonkartusche, schraubte und zerrte die Spitze ab, schnitt sie mir passend und zog sie kurz durch das noch ganz leicht kochende Wasser.
Draußen hatten sie inzwischen den Oberkörper des Afghanen, dem dünner Opiumqualm aus allen Kopföffnungen quoll, freigelegt. Einer der Vorbesitzer des Trucks hatte eine Schwäche für hochprozentigen
Wodka und mir einen Karton voll hinterlassen. Ich schnappte mir eine der Pullen und riss im Rausgehen noch einen Meter Küchenkrepp ab.
Während ich das Wundumfeld mit Wodka abrieb, besah ich mir die Verletzung. Schusswunde, Eintrittsloch vorn wie oft eher klein, Austrittsöffnung hinten glücklicherweise nicht allzu groß. Blut quoll nur aus der vorderen Wunde, was mir nicht gefiel.
Mein Vorhaben war, die Verwundung im Ganzen, von vorn bis hinten, zu säubern. Natürlich hätte ich ihn auch einfach nur neu verbinden und mit einem aufmunternden Klaps weiterschicken können, doch wir befanden uns zwei Tage von der nächsten Oase entfernt, ein Zeitraum, der bei einer solch tiefen und zweifellos verschmutzten Verletzung eine sichere Entzündung bedeutete. Gründlich säubern und verbinden war das Mindeste und das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Sollte sich herausstellen, dass eine Arterie zerfetzt war, würde er das Ende des Tages nicht mehr erleben, sollte ein Knochen verletzt sein, könnte er die Schulter verlieren, und den Arm dazu. In beiden Fällen, so spürte ich, würde man den Deutschen mit dem komischen Truck zumindest mitverantwortlich machen. Alles, was ich also tun konnte, tun musste, war die imminente Entzündungsgefahr so gut es ging einzudämmen und dann aufs Beste zu hoffen. Die Wüste ist eine absolute Scheißgegend, um sich Feinde anzulachen. Du weißt nie, wann und wo du sie wiedertriffst.
Drinnen im Truck schnitt ich eine Ecke der mit Dampf sterilisierten Aldi-Tüte ab, drückte die Kartuschenspitze hindurch und befestigte sie mit Gaffer-Tape. Das Wasser im Topf war inzwischen so weit abgekühlt, dass man die Finger reinhalten konnte, wenn auch nur kurz. Doch ich wollte es heiß.
Der Afghane musterte mich reglos, wie ich, Tüte unterm Arm, Verbandskasten unterm anderen, Kochtopf in Händen, die Tür hinter mir schloss. Johnny stand an seiner Seite, also reichte ich ihm den Topf, bedeutete dem Afghanen, sich hinzulegen und so weit nach oben zu rutschen, dass die Schulter ins Freie ragte. Er tat, wie verlangt, hielt aber dabei wie die ganze Zeit schon eine Hand auf seiner Pistole, eine Attitüde, die ich mir fest für meinen nächsten Zahnarztbesuch vormerkte.
Ich fragte: »Bereit?«, und er nickte. Dann nahm ich die Tüte, drückte die Kartuschenspitze in die Eintrittswunde, der Afghane saugte Luft zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, ich hielt die Tüte auf, befahl Johnny, das Wasser hineinzuschütten, und, als das passiert war, verzwirbelte ich die Tüte obenrum und presste sie so fest ich nur konnte zusammen. Der Afghane war ein zäher alter Knochen und hatte obendrein mittlerweile genug Opiat in den Adern, um eine ausgewachsene Kuh von den Hufen zu holen, und trotzdem schrie er mir dermaßen gellend ins Ohr, dass es noch Minuten später darin klingelte. Doch die Spülung funktionierte, was immer den Schusskanal blockiert hatte, prustete raus, gefolgt von schönem, rotem Blut. Und erschossen hat er mich auch nicht. Ein flotter erster Verband unter der Achsel hindurch, je ein dicker Wattebausch auf beide Wunden, ein strammer zweiter Verband um die Brust und unter der Achsel hindurch und das Ganze noch zweimal rum, und das Operationsteam trat geschlossen einen respektvollen Schritt zurück, um in spontanen, minutenlangen Applau-
Ein wütendes Kläffen, mein Kopf fuhr herum, wo ich Sid rückwärts die Treppen des Trucks runtertaumeln und unten auf den Arsch fallen sah, grimmig beobachtet von Bella, oben auf der Treppe. Wollte wohl mal nachsehen, ob ich drinnen noch mehr von dem guten Zeug gebunkert hatte, der kleine Scheißkerl. Noch auf dem Hintern riss er seine Waffe hoch, zielte auf Bella. Ein Schuss peitschte, Sid gefror mitten in der Bewegung und wir sahen uns an, ich über den leicht zitternden Lauf der Pistole des Afghanen hinweg. Nicht gesichert, das Ding, da knallt’s dann schon mal, wenn jemand wie ich danach grapscht.
Ich sagte erst mal nichts, hielt die Pistole auf die englische Vorstadtratte gerichtet, ging seitwärts zum Truck, die Treppe hoch, bugsierte Bella mit dem Hintern zurück in den Aufbau und schloss die Tür von draußen mit dem Fuß. Sid und ich zielten weiter aufeinander, Johnny lugte aus der Deckung des Pick-ups, AK im Anschlag. In Momenten wie diesen fließen tausend Schweißtropfen und du spürst jeden einzelnen davon.
›Und jetzt?‹, stand riesengroß im Raum, und keiner von uns dreien schien darauf eine Antwort zu haben.
Der Afghane hatte sich aufgesetzt, hielt sich den linken Arm, blickte stoned und genervt zugleich drein, bellte einen kurzen Befehl in die Runde, worauf Sid und Johnny langsam ihre Waffen sinken ließen, rutschte vom Tisch und kam Schritt für Schritt zu mir gehumpelt, verlangte seine Waffe zurück. Er hatte die Situation unter Kontrolle, nichts würde geschehen, ohne dass er es anordnete, und was er befahl, würde passieren, ohne dass jemand widersprach. Er wirkte, als ob er sein Leben lang Kommandos gegeben hätte.
Ich packte die Pistole beim Lauf und händigte sie ihm aus. Er nickte, prüfte den Stand der Sonne, blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und sagte etwas auf Arabisch, das wie ›Abmarsch‹ klang. Sid antwortete auf Englisch, dass sie nicht genug Benzin hätten. Johnny klopfte gegen den Tank des Trucks und fragte: »Gazole?« Es war das erste Wort, das er bisher geäußert hatte. Ich nickte. Die drei steckten die Köpfe zusammen, und ich sah sie schon fröhlich mit meinem Laster davonfahren, während mein Gerippe in der Sonne bleichte.
Ich sagte: »Moment«, ging zur andern Seite des Trucks, wo eine Halterung voller Zwanzig-Liter-Kanister unterm Aufbau hängt, zog zwei davon raus, trug sie zum Toyota und stellte sie ab. »Benzin«, sagte ich. Gefunden, auf dem Dach eines gestrandeten und verlassenen Pkws, und mitgenommen, für eine Gelegenheit wie diese. Man hilft ja, wo man kann.
Johnny öffnete die Kanister, roch dran, verschloss sie wieder und packte sie in den Pick-up, der Afghane nahm den Bunsenbrenner und den Rest des Opiumstabes an sich, ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken, Johnny schwang sich hinters Lenkrad, Sid kletterte auf die Ladefläche, nahm mit dem Rücken zur Fahrerkabine Platz, der Motor des Toyotas sprang an und sie fuhren los.
Gern geschehen, dachte ich gallig, und beehren Sie uns nicht wieder, als Sid seine Waffe ruckartig hochnahm und einen Schuss abfeuerte, nur einen, doch den in die Hecktür des Trucks, auf Kniehöhe. Ich stand geschockt da, er schwenkte die Waffe in meine Richtung, zielte, ich stand immer noch, wie gelähmt, erwartete die spitze Flamme aus dem Rohr schießen zu sehen und den fürchterlichen Aufprall zu fühlen, der dich von den Beinen reißt, dir den Atem raubt und, sofern du noch lebst, den Tod in gleichem Maße fürchten wie herbeisehnen lässt. Doch Sid grinste nur mit seinen Cola-Zähnen, nahm die Waffe runter und zeigte mir den Finger. Ich starrte ihm hinterher, bis ihn die Staubwolke des Toyotas verschluckte. Dann rannte ich zum Truck.
Meine Hand auf der Türklinke zitterte. Ich drückte sie runter, zog die Tür auf, Bella und ich sahen uns an und betrachteten dann noch eine ganze Weile die zipfelförmige Ausbuchtung im Alublech der inneren Türbekleidung. »Wenn du willst«, sagte ich und schlang meinen Arm um ihren Hals, zog sie zu mir, »suche ich und finde ich und töte ich dieses Arschloch.«
Sie lehnte sich gegen mich und leckte mir über die Wange. Wenn es nach ihr ging, waren wir fertig mit dem Thema, doch ich habe einen Charakterzug, manche sagen: einen -fehler, mit dem ich schon mein ganzes Leben lang konform gehe: Ich bin nachtragend.
Vermutlich jeder einzelne der zahlreichen Vorbesitzer hat ein paar Änderungen vorgenommen, nachdem sie den Truck gekauft hatten. So auch ich. Eine davon war, die Innenseite der Rückwand mit zwei Lagen Reifengummimatte und dickem Aluriffelblech zu armieren, eine, wie sich gerade gezeigt hatte, vorausschauende Entscheidung.
Der Toyota verschwand am Horizont. Sie hatten es eilig, als ob sie vermuten würden, verfolgt zu werden. Ich fragte mich, was das für mich bedeuten könnte, wenn bald schon die nächste Horde Bewaffneter angeprescht kommen sollte. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nix mehr, war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Mann, ich war alle. Also machte ich das in meinen Augen einzig Gescheite. Räumte auf. Wusch das Blut von der Isomatte, hängte die Sandbleche zurück, faltete die Böcke zusammen und verstaute sie. Irgendwas roch hartnäckig nach Schießpulver. Ich nahm meine rechte Hand hoch, schnupperte dran – sie war’s – und stellte zu meiner Verwunderung fest, dass sie den Hals der Wodkaflasche umklammert hielt.