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Wie wir unsere ererbte Empfindungsfähigkeit verstehen und was wir individuell und kollektiv als Spezies damit anfangen, ist ohne Zweifel eine der entscheidendsten Fragen der heutigen Zeit. Der biologischen Sicht auf lebende Systeme mit ihrer ganz unpersönlichen Natur zufolge wohnt der Entfaltung des Lebens keine mystische Dimension inne. Sie besagt, dass Bewusstsein den Prozess nicht etwa lenkt, sondern aus dem Prozess emergiert, wenn auch das Potenzial für seine Emergenz die ganze Zeit latent vorhanden war. Nichtsdestoweniger kann Bewusstsein, wenn es erst einmal hoch genug entwickelt ist, tiefgreifenden Einfluss auf alle Bereiche des Lebens haben, und zwar durch unsere Entscheidungen darüber, wie wir leben und worin wir unsere Energie investieren wollen, und dadurch, dass wir anerkennen, welchen Einfluss wir auf unsere Welt haben. Empfindungsfähigkeit konnte nur durch die passenden Ursachen und Bedingungen emergieren, und dass diese eintreten, war keineswegs zwangsläufig. Wären sie allerdings nicht vorhanden gewesen, dann wäre auch niemand von uns da, um ihre Abwesenheit überhaupt bemerken zu können.
Wenn wir selbst also ein Produkt unpersönlicher Ursachen und Bedingungen sein sollen, die den Gesetzen von Physik und Chemie unterliegen, wie komplex auch immer diese sein mögen, und wenn es keine »Lebenskraft« hinter all dem gibt, dann können wir sehen, warum der Antivitalismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, zu der Behauptung führt, dass es so etwas wie die Seele als ein entscheidendes Zentrum in einem fühlenden Wesen, das anderen Gesetzen gehorcht als denen der Physik und Chemie, nicht gibt. Im 17. Jahrhundert behauptete René Descartes, die Zirbeldrüse tief im Inneren des Gehirns sei der Sitz der Seele. Moderne Neurobiologen würden sagen, dass die Zirbeldrüse zwar viele Dinge leistet, aber keine Seele hervorbringt, zumal es keinen Grund gibt, eine dauerhafte Entität oder Energie zu postulieren, die immateriell ist und dem Organismus innewohnt oder mit diesem irgendwie verbunden ist und dessen Weg durchs Leben lenkt. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Leben und die Fähigkeit zu Empfindungen nicht ein großes Mysterium sind und damit heilig, so wie auch das gesamte Universum ein großes Mysterium ist. Es heißt auch nicht, dass wir nicht von der Seele sprechen können, wenn wir damit das meinen, was sich tief in der Psyche und im Herzen bewegt, und auch nicht von der Quelle der Erbauung und Wandlung, die wir »Geist« im spirituellen Sinne nennen. Es impliziert ebenfalls nicht, dass unsere persönlichen Gefühle und unser persönliches Wohlergehen unwichtig wären und dass es keine Basis für ethisches und moralisches Handeln oder für die Empfindung des Numinosen gäbe. Tatsächlich könnten wir sagen, dass es unsere Natur und Berufung als fühlende Wesen ist, unsere Situation mit Ehrfurcht und Staunen zu betrachten und uns tiefe Fragen über das Potenzial zur Erweiterung unserer Empfindungsfähigkeit zu stellen und diese einzusetzen für das Wohlergehen anderer und dessen, was in dieser lebendigen Welt das Schönste und das Heiligste ist – so heilig, dass wir uns weit effektiver davor hüten würden, der Welt so respektlos zu begegnen oder sie womöglich sogar durch unsere Unreife zu zerstören.
Die Buddhisten haben ein ähnliches Verständnis von der unpersönlichen Natur der Phänomene. Wie wir schon am Beispiel der Herz-Sūtra gesehen haben (siehe Band 1 im Kapitel Leere), hat der Buddha auf der Grundlage seiner eigenen persönlichen Forschungen und Erfahrungen gelehrt, dass die gesamte erfahrbare Welt – also das, was er die fünf skandhas (Aggregate, Anhäufungen) nannte, nämlich Form, Empfindung, Wahrnehmung, psychische Formkräfte und Bewusstsein – leer ist von jeglichen dauerhaften und aus sich selbst existierenden Eigenschaften. So sehr man auch danach suchen mag, es wird einem nicht gelingen, eine dauerhafte, unveränderliche Selbstheit in oder unter den Phänomenen aufzufinden, den unbelebten und den belebten einschließlich unserer selbst, weil alles wechselseitig miteinander verknüpft ist und jede Manifestation einer Form oder eines Prozesses in ihrer individuellen Emergenz und in Bezug auf ihre charakteristischen Eigenschaften von einem sich ständig wandelnden Gefüge von Ursachen und Bedingungen abhängt. Der Buddha fordert uns heraus, selber hinzusehen und nachzuforschen, ob dem so ist oder nicht, ob das Selbst oder Ich nicht einfach ein Konstrukt ist, so wie unsere Sinne irgendwie zusammenwirken, um sowohl die Welt, die »da draußen« zu sein scheint, als auch die Empfindung einer Person »hier drinnen«, die die Welt wahrnimmt, zu konstruieren.
Nun, wie könnten wir aber dann das Gefühl haben, dass es ein Selbst gibt, dass wir ein Ich sind und dass das, was geschieht, »mir« geschieht; – dass jeden Morgen dasselbe Ich aufwacht und sich als solches im Spiegel wiedererkennt? Sowohl die moderne Biologie und Kognitionswissenschaft als auch der Buddhismus würden sagen, dass dies in gewisser Weise eine Fehlwahrnehmung ist, die zu einer beständigen individuellen und kulturellen Gewohnheit geworden ist. Wenn Sie sich jedoch auf den Prozess einer systematischen Suche nach diesem Ich oder Selbst einlassen, so behaupten beide, dann werden Sie kein beständiges, eigenständiges Selbst finden, ob Sie nun in »Ihrem« Körper – einschließlich seiner Zellen, spezialisierten Drüsen, seinem Nervensystem, Gehirn und so weiter – oder in »Ihren« Gefühlen, Überzeugungen, Gedanken, Beziehungen oder sonstwo suchen.
Und der Grund dafür, dass Sie nirgendwo ein dauerhaftes, isoliertes, aus sich selbst existierendes Ich finden können, das »Sie« sind, besteht darin, dass dieses Ich ein Trugbild ist, eine holographische Emergenz, ein Phantom: das Produkt eines an Gewohnheiten gebundenen und emotional aufgewühlt denkenden Geistes. Dieses »Ich« wird ständig, von Moment zu Moment, konstruiert und wieder dekonstruiert. Es ist andauernd dem Wandel unterworfen und deshalb im Sinne von etwas Identifizierbarem und Isolierbarem weder dauerhaft noch wirklich. Es ist eher virtuell als solide, zumindest metaphorisch vergleichbar mit den virtuellen Elementarteilchen, die für kurze Augenblicke im Quantenschaum des leeren Raumes aus dem Nichts aufzutauchen scheinen und sich sofort wieder in das Nichts auflösen. Das, was wir das Selbst nennen, könnte man in der Welt der Chaostheorie auch als einen »seltsamen Attraktor« bezeichnen, ein dynamisches Muster, das sich ständig verändert, aber immer selbst-ähnlich bleibt. Mehr oder weniger sind Sie, wer Sie auch gestern schon waren, aber doch nicht genau die oder der Gleiche.
Lassen Sie uns ein wenig mit dieser Vorstellung spielen und unter die Lupe nehmen, was wir meinen, wenn wir von »meinem Körper« sprechen. Wer sagt das? Wer behauptet da, einen Körper zu »haben« und damit von ebendiesem Körper getrennt zu sein? Das ist doch ziemlich mysteriös, nicht wahr? Unsere Sprache selbst ist selbst-referentiell – sie verweist auf ein Selbst. Sie verlangt, dass wir von »unserem« Körper sprechen – zählen Sie nur einmal, wie oft ich auf dieser Seite ein Personalpronomen benutzen muss, um Irgendetwas über uns auszusagen –, und wir gewöhnen uns daran, zu denken, dass es eben das ist, was wir sind, oder doch zumindest ein großer Teil dessen, was wir sind. Das wird zu einem nicht hinterfragten Teil unserer konventionellen Realität. Auf der Ebene der Erscheinungen ist das, relativ gesprochen, natürlich auch der Fall.
In den meisten Fällen würden wir nicht »eine Hand« oder »ein Bein« oder »einen Kopf« sagen, sondern wir würden das Personalpronomen »mein« verwenden, weil, relativ gesehen, dieser unser Körper (da haben Sie es schon wieder) in einer Beziehung zu der Sprechenden steht, wer immer das ist. Sprächen wir von »unserer Hand« als »einer Hand«, erschiene uns das distanziert, entfremdet, irgendwie unverkörpert und krankhaft. Es gibt also eine geheimnisvolle Beziehung zwischen mir und meinem Körper, jedoch eine, die wir gewöhnlich in keiner Weise hinterfragen. Weil sie nicht hinterfragt wird, verfallen wir so leicht darauf, zu glauben, dass es »unser« Körper ist, ohne uns bewusst zu sein, dass wir gar nicht genau wissen, wer es ist, die da behauptet, die Besitzerin zu sein, und dass dieser Besitzanspruch nur eine Sprachfloskel ist und keine Tatsache. Natürlich ist das relativ wahr (schließlich ist es nicht der Körper von jemand anderem – würden wir das denken oder fühlen, dann wären wir in großen Schwierigkeiten und uns stünde wohl die Einweisung in eine Nervenklinik bevor), doch aus der absoluten Sicht gilt das nicht. Wenn das, was der Herz-Sūtra besagt, wahr ist, dann ist die Erscheinung an sich leer.
Dasselbe trifft auch auf den Geist zu. Wessen Geist ist es denn? Und wer macht sich die Mühe, einen Geist zu erfinden? Und wer will das wissen? Wer liest gerade diese Zeilen?
Nehmen wir einmal an, die Biologinnen und die Buddhistinnen hätten recht – obwohl der Geist für die Buddhistinnen durchaus einer anderen Dimension angehört, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit besitzt, und er zwar mit materiellen Phänomenen, also dem Gehirn, in Zusammenhang gebracht, jedoch nicht auf Materie reduziert werden kann. Als Lebewesen wären wir nach dieser Ansicht das Produkt von Chemie, Physik und Biologie, von gänzlich unpersönlichen Prozessen, die, sobald wir mit der Welt jenseits unserer Haut und mit dem Reich von Körper und Geist in Kontakt treten, unsere Erfahrung hervorbringen. Die Empfindung eines Selbst, eines »Ich«, das all diese Erfahrungen macht, das diese Gedanken denkt, diese Gefühle fühlt, das Entscheidungen trifft und auf diese oder jene Weise handelt, ist nur ein Epiphänomen: ein Nebenprodukt komplexer biologischer Prozesse. Sowohl die Ichempfindung als solche als auch unsere Persönlichkeit sind in einem tiefen Sinne unpersönlich, wenn auch eindeutig einzigartig und im relativen Sinne wirklich, so wie auch unser Gesicht einzigartig und relativ gesehen wirklich ist, wenn auch bei Weitem nicht alles, was wir sind.
Wenn dem so wäre, was würden wir verlieren? Und was könnten wir durch eine solch radikale Verschiebung des Blickwinkels hin zu einer größeren, umfassenderen und vielleicht grundlegenderen Sichtweise gewinnen?
Was wir verlieren würden, wäre unsere übertriebene Identifizierung mit praktisch jeglicher inneren wie äußeren Erfahrung als »ich«, »mich« und »mein« anstelle einer Sichtweise, für die sich die Phänomene entsprechend verschiedener Ursachen und Bedingungen entfalten oder sie, wie man sagen könnte, einfach geschehen. Wenn wir lernen könnten, die Art und Weise, wie sich eine Ichempfindung um Geschehnisse und Erscheinungen herum kristallisiert und sich dann, koste es, was es wolle, selbst behauptet, infrage zu stellen, wenn wir uns fragten, ob diese Ichempfindung grundlegend real ist und nicht bloß ein Konstrukt des Geistes, und wir untersuchen wollten, ob sie unveränderlich oder in ständigem Wandel begriffen ist, und bedenken würden, wie wichtig unsere Ansichten in jedem Moment in Relation zum größeren Ganzen sind, dann wären wir vielleicht nicht so sehr von uns eingenommen und die meiste Zeit so sehr mit unseren Gedanken und Meinungen sowie unseren persönlichen Geschichten über Gewinn und Verlust beschäftigt und damit, ersteren zu maximieren und letzteren zu minimieren. Dann könnten wir vielleicht durch diesen von uns selbst erzeugten Schleier, der auf subtile oder nicht so subtile Weise auf jeden Aspekt unserer Erfahrung abfärbt, hindurchsehen. Wir könnten uns selbst vielleicht sehr viel besser hören. Wir würden uns und die Geschichten, die wir darüber erfinden, wie die Dinge sein müssten, damit wir glücklich sein können und damit sie nach »unseren Vorstellungen« laufen, vielleicht weniger ernst nehmen.
Würden wir das tun, dann würden wir vielleicht auch mit einem größeren Gefühl von Leichtigkeit unseren Körper bewohnen und in der Welt leben, dann würden wir vielleicht sehr viel mehr über die bloße Tatsache unserer Existenz, die bloße Tatsache des Erkennens staunen, ohne uns allzu sehr in das feste Gefühl eines »Erkennenden« verrennen zu müssen, das sich von dem Erkannten abspaltet und damit sowohl ein Subjekt (ein Ich) als auch ein Objekt da draußen (das vom Subjekt erkannt wird) erzeugt sowie Distanz schafft zwischen den beiden statt Nähe in ihrer Wechselseitigkeit, einem gemeinsamen Entstehen mit dem Gewahrsein und im Gewahrsein. Stellen Sie sich vor, wir wären auf diese Weise weniger mit uns selbst beschäftigt, wir müssten nicht ständig unsere engstirnigen Pläne vorantreiben, weil wir sähen und wüssten, dass die Ichempfindung an sich leer ist von inhärenter Existenz, dass sie nur den Anschein der Existenz erweckt und dass eine starke Identifizierung mit ihr uns gefangenhält in einer verzerrten, verarmten und eklatant unvollständigen Sicht auf unser Sein und auf unser Leben, insbesondere in Beziehung mit dem Leben anderer und auf unseren Pfad in dieser Welt.
Was das angeht, so ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, dass unsere Ichempfindung uns die ganze Zeit glauben macht, wir seien nicht vollständig. Sie sagt uns, dass wir anderswohin gelangen müssen, dass wir etwas Erstrebenswertes erlangen müssen, dass wir ganz werden, glücklich werden, etwas verändern, weiterkommen müssen – und all das mag zum Teil richtig und im relativen Sinne wahr sein, und in diesem Maße sollten wir diese Stimmen auch ernst nehmen. Aber unsere Ichempfindung vergisst, uns daran zu erinnern, dass auf einer tieferen Ebene, jenseits der Erscheinungen und der Zeit, all das, was es zu erreichen gilt, bereits jetzt hier ist, und dass es nicht möglich ist, das Selbst zu verbessern. Wir können lediglich seine wahre Natur als gleichermaßen leer wie voll und als ausgesprochen nützlich erkennen.
Wenn wir das zutiefst erkennen, wenn wir es mit unserem ganzen Sein erkennen – eine Fähigkeit, die die sich durch beständige Achtsamkeitspraxis entwickelt – dann vermögen wir in diesem Wissen selbst zu ruhen und können wesentlich weniger egozentrisch in der Welt handeln, zum Wohle anderer Lebewesen, mit einer gewaltlosen Haltung und ohne etwas erzwingen zu wollen. Wir sind dazu in der Lage, weil wir auf einer grundlegenden Ebene erkennen, dass die »anderen« immer auch wir selbst sind. Diese wechselseitige Verbundenheit ist ursprünglicher Natur. Sie ist der Geburtsort von Einfühlung und Mitgefühl, unseres Gefühls für die anderen, unseres Impulses und unserer Veranlagung, uns an die Stelle eines anderen zu setzen, mit einem anderen zu fühlen. Das ist die Grundlage von Ethik und Moral, auf der wir wahrhaft menschlich werden können – jenseits des potenziellen Nihilismus und des unbegründeten Relativismus, der aus einer rein mechanistischen und reduktionistischen Sichtweise des Geistes und des Lebens entspringt.
Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Sie in einem ganz wirklichen Sinn nicht diejenige, die Sie zu sein glauben. Und alle anderen Menschen sind auch nicht das, was sie zu sein glauben. Wir alle sind viel größer und viel geheimnisvoller. Haben wir das erst einmal erkannt, erweitern sich unsere kreativen Fähigkeiten enorm, weil wir verstehen, wie wir uns letztlich selbst im Weg stehen und uns klein machen durch unsere zwanghafte Beschäftigung mit uns selbst und unsere Selbstzentriertheit, unser Beschäftigtsein mit dem, was wir für wichtig halten, was aber in Wahrheit nicht wesentlich ist.
Das ist keine Kritik. Es ist bloß eine Tatsache.
Es ist also nicht persönlich gemeint, darum fassen Sie es bitte nicht so auf.
Ich bin nicht ich.
Ich bin der,
der neben mir geht
und den ich nicht sehe,
den ich gelegentlich zu besuchen vermag
und den ich zu anderen Zeiten vergesse…
JUAN RAMÓN JIMÉNEZ
(nach der englischen Übersetzung von Robert Bly)
Genug. Diese wenigen Worte genügen.
Wenn nicht diese Worte, dann dieser Atem.
Wenn nicht dieser Atem, dann dieses hier Sitzen.
Diese Öffnung für das Leben,
der wir uns verweigert haben,
wieder und immer wieder,
bis jetzt.
Bis jetzt.
DAVID WHYTE
3 In der Tat sind Kosmologen heute der Ansicht, dass das Universum zu etwa 30 Prozent aus »dunkler Materie« besteht, die vielleicht in schwarzen Löchern eingefangen ist, und zu mehr als 65 Prozent aus »dunkler Energie«, die möglicherweise für die Kraft hinter der Ausdehnung des Universums, eine Art Anti-Schwerkraft, verantwortlich ist.
Selbst unsere Moleküle berühren sich

Manchmal wird das Immunsystem auch das »zweite Gehirn« des Körpers genannt, weil es in der Lage ist, zu lernen und sich zu erinnern, und weil es sich an sich verändernde Bedingungen anpassen kann. Anatomisch gesehen, ist es teilweise in der Thymusdrüse, im Knochenmark und in der Milz angesiedelt, ist aber auch insofern nicht lokalisiert, als seine Lymphozyten und die Antikörper-Moleküle, von denen diese produziert werden, selbstständig im Blut und in der Lymphe zirkulieren können. Lymphozyten haben spezialisierte Rezeptormoleküle (einschließlich der Antikörper), die in ihre Membran eingebettet sind und es ihnen erlauben, die Konturen und die Architektur des Körpers auf der molekularen Ebene zu »fühlen«, die Topologie seiner zirkulierenden Moleküle, seiner Zellen, Organe und Gewebe, und die es dem Körper dadurch erlauben, sich selbst zu erkennen und nicht zum Selbst gehörige »fremde Eindringlinge« durch ständige Überwachung und hoch spezialisierte Molekülerkennung aufzuspüren.
Selbst in Abwesenheit von fremden Eindringlingen oder Krankheitsprozessen scheint es einen ständigen Dialog zwischen allen Mitgliedern des Zellverbundes, die den Körper bilden, zu geben, einem Dialog, der mit Hilfe der Sprache und der Signale des Immunsystems geführt wird. Durch diese Kommunikation werden all die verschiedenen Funktionen des Körpers auf der zellulären Ebene koordiniert. Ohne einen solchen Dialog würde der Körper zerfallen. Francisco Varela bemerkte dazu:
»Sinnesorgane wie Augen und Ohren, die das Gehirn mit der Umwelt verbinden, haben Parallelen in einer Reihe von Lymphorganen. Das sind ganz bestimmte Regionen, die als Sensoren fungieren und mit Reizen interagieren, zum Beispiel Bereiche im Darm, die ständig mit dem in Beziehung stehen, was man isst.«
Wenn etwas schiefläuft, wenn zum Beispiel bestimmte Zellen mutieren und beginnen, unkontrolliert zu wachsen, oder wenn fremde Viruspartikel oder andere Substanzen im Körper auftauchen, werden sie durch das Immunsystems aufgespürt, indem sie durch das Berührungs-Erkennungssystem »gefühlt« werden. Dann werden verschiedene Mechanismen auf der Grundlage von Zellen und Antikörpern aktiviert, die diese Störfaktoren mit erstaunlicher Genauigkeit eingrenzen und neutralisieren. Dieser Vorgang basiert auf Klonselektion und der Verstärkung jener Lymphozyten, die über spezifische Erkennungsmoleküle verfügen, sodass die anormalen Zellen oder Chemikalien neutralisiert werden können, ohne dass die normalen Zellen angegriffen oder geschädigt werden.
Das Immunsystem ist ein wahrer Bienenstock selektiver Berührungen und Erkennungen, ein Überwachungssystem, das niemals schläft. Somit bleibt im dynamischen Lebensfeld des Körpers die Harmonie aufrechterhalten, während er potenziell schädlichen Agenten aus seinem Inneren oder von außen ausgesetzt ist. Das Immunsystem funktioniert sowohl auf molekularer als auch zellulärer Ebene mit exquisiter Eleganz: Der Körper vermag auf Bedrohungen zu reagieren, die ihm nie zuvor begegnet sind, seien es nun infektiöse Agenten oder vom Menschen hergestellte Substanzen, die zur Zeit der Evolution des Menschen noch nicht auf diesem Planeten existierten, die aber nichtsdestoweniger als potenziell schädlich erkannt, ausgegrenzt und neutralisiert werden können. Das Immunsystem kann diese Reaktion lernen und sich bei Bedarf daran erinnern.
Wenn dieses System zusammenbricht, wie das manchmal auf unerklärliche Weise geschieht, verlieren wir die schützende Selbsterkennung unseres Körpersystems. Das führt dann zu den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem normales Körpergewebe anzugreifen beginnt. Der Kontakt unter den Mitgliedern dieses Verbundes von Zellen und Geweben, aus denen der Körper besteht, ist dann nicht mehr von einer Art, die zur Optimierung von Harmonie und Gesundheit führt. Der Austausch zwischen ihnen verstummt oder wird toxisch. Das ist nicht sehr viel anders, als wenn soziale Gruppen oder Nationen keine gemeinsame Grundlage mehr finden können.
Was die Frage der körperlichen Identität und die über die Selbstverteidigung hinausgehende Rolle des Immunsystems angeht, benutzte Francisco Varela eine soziale Analogie, um ein Gefühl für seine nicht aus sich heraus existierende Natur zu vermitteln. Da er in Paris lebte, nahm er Frankreich als Beispiel. Im Gespräch mit dem Dalai Lama führte er Folgendes aus:
»Was ist die Natur der Identität einer Nation? Frankreich zum Beispiel hat eine Identität, und die sitzt nicht im Büro von François Mitterand [dieses Gespräch fand 1990 statt, als Mitterand noch französischer Staatspräsident war]. Wenn zu starke ausländische Einflüsse in das System eindringen, dann wird es sich natürlich nach außen gerichteter Abwehrfunktionen bedienen. Die Armee startet also eine militärische Reaktion; dennoch wäre es töricht, zu behaupten, dass diese militärische Reaktion die Gesamtheit der französischen Identität darstellt. Was ist die Identität Frankreichs, wenn es keinen Krieg gibt? Es ist das Gefüge des sozialen Lebens, die Kommunikation, die entsteht, wenn Menschen einander begegnen und miteinander sprechen, welche Identität erzeugt. Das ist der Pulsschlag des Landes. Man geht durch eine Stadt und sieht die Leute in Cafés sitzen, Bücher schreiben, Kinder aufziehen, kochen – aber vor allem reden. Etwas Analoges geschieht im Immunsystem, während wir unsere körperliche Identität aufbauen. Zellen und Gewebe besitzen eine Identität als ein Körper, weil es das Netzwerk von B-Zellen und T-Zellen gibt, die sich ständig durch den Körper bewegen und dort Verbindungen mit jedem einzelnen molekularen Profil herstellen und wieder auflösen. Sie verbinden sich auch ständig untereinander und lösen diese Verbindung wieder auf. Ein großer Teil der Kontakte einer B-Zelle besteht aus Kontakten mit anderen B-Zellen. Wie in einer Gesellschaft bauen die Zellen ein Gefüge wechselseitiger Interaktionen auf, ein funktionales Netzwerk… Und durch diese wechselseitigen Interaktionen werden Lymphozyten gehemmt oder in Klonen vervielfältigt, so wie Menschen degradiert oder befördert werden, wie Familien sich ausdehnen oder kleiner werden. Diese Bestätigung der Identität eines Systems, die keine Abwehrreaktion ist, sondern eine positive Konstruktion, ist eine Art von Selbstbestätigung. Das ist es, was unser «Selbst» auf der molekularen und zellulären Ebene ausmacht… Es gibt T-Zellen, die sich mit jedem einzelnen molekularen Profil im Körper verbinden können, so wie es für jeden Aspekt des französischen Lebens – Museen und Bibliotheken, Cafés und Bäckereien – Menschen geben muss, die damit umgehen… Tatsächlich findet man Antikörper zu jedem einzelnen molekularen Profil in unserem Körper (Zellmembranen, Muskelproteine, Hormone und so weiter)… Durch diese verteilte Interdependenz wird ein globales Gleichgewicht hergestellt, sodass die Moleküle meiner Haut in Kommunikation mit den Zellen meiner Leber stehen, weil sie durch dieses zirkulierende Netzwerk des Immunsystems wechselseitig beeinflusst werden. Aus der Perspektive der Netzwerk-Immunologie ist das Immunsystem nicht anderes als etwas, was die ständige Kommunikation zwischen den Zellen unseres Körpers ermöglicht, so wie die Neuronen voneinander entfernte Orte im Nervensystem miteinander verbinden (…) Zellen des Immunsystems sterben etwa in einem Rhythmus von zwei Tagen ab und werden durch neue ersetzt [bei einigen ist das der Fall, andere leben viel länger, Wochen oder sogar Monate], so wie Menschen in einer Gesellschaft nach einer bestimmten Zeit sterben und ständig wieder Kinder geboren werden. Auf sehr komplexe Weise bildet die Gesellschaft die Kinder aus diesem Reservoir dazu aus, verschiedene Aufgaben zu übernehmen. Auf diese Weise erneuert das System seine Bestandteile. Es kommt zu Lernen und Erinnerung, weil neue Zellen durch «Erziehung» in das System eingepasst werden. Die neuen Zellen sind nicht mit den alten identisch, aber sie spielen dieselbe Rolle für den übergeordneten Zweck des emergierenden globalen Bildes…