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Was bei meinem Vater erhalten blieb, als sein Gedächtnis und sein Verstand schon fast gänzlich dahin waren, war die Liebe seiner Familie und die tiefen Bande zu vielen wunderbaren FreundInnen, KollegInnen und StudentInnen in aller Welt, und das, was er in der Welt getan, gegeben und geliebt hatte. Das sind die menschlichsten unserer Verbindungsfäden zu dieser Welt. Aber auch sie sind flüchtig und vergänglich, sodass wir sie am besten anerkennen, sie kultivieren und uns ihrer erfreuen sollten, solange wir noch Gelegenheit dazu haben.
Was eine jede von uns irgendwann einmal vielleicht am tiefsten bedauern könnte, ist, den Moment nicht beim Schopfe gepackt und als das gewürdigt zu haben, was er war, solange er greifbar war, insbesondere, was unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur angeht. Vielleicht ist das die wesentlichste Orientierung, sowohl innerhalb von Zeit und Raum als auch gleichzeitig außerhalb von Zeit und Raum: ein nahtloses, kontinuierliches Erkennen dessen, was ist, direkt, nichtbegrifflich und in der eigenen Erfahrung verankert. Und all dem mit Liebe zu begegnen.
4 Ein Kōan ist ein Hilfsmittel der Zen-Schulung, eine Herausforderung in Form einer Frage oder eines Dialogs, die man versucht, während der Meditation vor dem inneren Auge zu halten, die man begreifen und auf die man antworten soll, ohne mit dem diskursiv denkenden Geist zu antworten, da jegliche Antwort, die aus dem Denken kommt, nicht authentisch und nicht den gegebenen Umständen angemessen sein wird. Beispiele für ein Kōan sind die Fragen »Was bin ich?« oder »Hat ein Hund die Buddha-Natur?« oder »Was ist Buddha?«. Praktisch sämtliche Situationen unseres Lebens könnte man als einen Kōan ansehen; es könnte etwa »Was ist dies?« oder sogar »Was jetzt?« lauten. Die Antwort könnte in jedem Augenblick eine andere sein. Es geht einzig darum, dass sie authentisch und angemessen ist und nicht aus dem dualistischen Denken hervorgeht. Es kann auch eine nichtverbale Antwort sein.
Orthogonale Wirklichkeit – Quantensprünge des Bewusstseins

Doch selbst in den Naturwissenschaften ist es, wenn wir die Grenzbereiche betrachten, nicht so klar, ob wir die zugrundeliegende Wirklichkeit tatsächlich verstehen, die zwar statistisch ergründet, aber doch auf beunruhigende Weise unvorhersagbar und geheimnisvoll zu sein scheint, etwa bei der Frage nach Ursache und Zeitpunkt eines bestimmten Vorgangs von radioaktivem Zerfall im Kern eines radioaktiven Atoms, oder ob das Universum endlich ist oder nicht, ob Zeit tatsächlich existiert, was im Inneren eines Schwarzen Lochs geschieht, warum das Vakuum so viel Energie besitzt, oder ob Raum nichts oder etwas ist.
Nichtsdestoweniger haben wir in der alltäglichen Realität der gelebten Erfahrung, wie schon früher angemerkt, einen Körper; wir werden geboren, leben unser Leben und sterben. Zum größten Teil bleiben wir dabei, den Schein der Dinge zu akzeptieren und mehr oder weniger bequeme Erklärungen dafür zu finden, wie die Dinge sind und warum sie so sind. Und unsere Sinne können uns einlullen, wenn wir uns von unseren Gewohnheiten bestimmen lassen und nicht wirklich von Moment zu Moment mit den Dingen in Kontakt sind, – wenn wir dermaßen von unserem Denken und Handeln absorbiert sind, dass wir uns vom Bereich des Seins, von der Empfindungsfähigkeit entfernen, auch wenn sie uns in jedem Moment näher als nah ist.
Während ein junger Mensch auf der Straße an uns vorbeigeht, sage ich zu Myla: »Hat er nicht ein schönes Gesicht?« Worauf sie antwortet: »Ja, wenn du das Fehlen jeglichen Gefühls darin übersiehst.«
Es hängt alles davon ab, was wir bereit sind zu sehen oder was wir aus einem Reflex heraus ignorieren, wie bereitwillig wir unsere momentane Wahrnehmung an das Seil eines aus Gewohnheit unachtsamen Wahrnehmens andocken lassen, bei dem wir nicht wirklich hinsehen, aber doch so tun, als täten wir es.
In der Welt der konventionellen Realität tun wir unser Bestes. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt, bringen das Essen auf den Tisch, lieben unsere Kinder und kümmern uns um unsere Eltern. Wir tun unsere Arbeit und was sonst noch nötig ist, um uns im Leben weiter vorwärts zu bewegen, und vielleicht lernen wir sogar, wie der Grieche Alexis Sorbas, zu tanzen – auch im Angesicht der existentiellen Prüfungen des Lebens, von Stress, Schmerzen, Krankheit, Alter und Tod, eben dem, was Sorbas »die ganze Katastrophe« nannte. Und dabei befinden wir uns die ganze Zeit in einem Strom von Gedanken, deren Ursprung und Inhalt uns häufig nicht klar sind, und die zwanghaft, sich ständig wiederholend, ungenau, quälend unaufhörlich und toxisch sein können: Gedanken, die auf den gegenwärtigen Augenblick abfärben und ihn vor uns verbergen. Außerdem werden wir oft von Gefühlen überwältigt, die wir nicht zu kontrollieren vermögen und die bei uns und anderen großen Schaden anrichten können, oder die das Resultat früherer Verletzungen oder vermeintlicher Verletzungen sind. Sie hindern uns daran, einigermaßen klarzusehen, selbst wenn unsere Augen weit offen sind.
Unangenehme Momente sind verwirrend und verstörend. Deshalb betrachten wir sie oft als Verirrungen oder Hindernisse für jenes Glück, nach dem wir ständig auf der Suche sind, und um das wir so viele Geschichten spinnen. Wir übertünchen solche Momente mit unserer andauernden Unaufmerksamkeit, sodass sie schnell in Vergessenheit geraten. Es kann aber auch sein, dass wir um unser Versagen, unsere Unzulänglichkeiten und unsere Missetaten herum eine ebenso unangenehme und quälende Geschichte bauen, eine Geschichte, die erklärt, warum wir unsere Begrenzungen und unser Karma nicht transzendieren können. Oft halten wir diese Geschichte dann auch noch für wahr, vergessen, dass sie bloß eine der vielen Geschichten ist, die wir uns selbst erzählen, und halten verzweifelt daran fest, als hingen unsere Identität, unser Überleben und all unsere Hoffnungen davon ab.
Außerdem vergessen wir gern, dass unsere konventionelle Realität, die Konsensusrealität, die wir das normale Leben nennen, selbst in einem Pawlowschen Sinne zutiefst konditioniert ist.
Infolge dieser lebenslangen Konditionierung sind wir nicht wirklich so »frei«, wie wir zu sein glauben, wenn wir annehmen, wir besäßen die Freiheit, zu tun und zu lassen, was immer wir wollten, was jedoch nur bedeuten mag, dass wir völlig im Griff des gewohnheitsmäßigen Festhaltens und Zurückweisens unseres Geistes und diesem total ausgeliefert sind. Wir sind uns nicht einmal unseres Potenzials zu jener Freiheit bewusst, von der Einstein und Buddha gesprochen haben. Und warum? Weil wir vergessen oder nicht wissen, dass wir nicht unaufhörlich und unweigerlich auf die Ereignisse reagieren müssen, in unseren oft unbewussten Entscheidungen, dies oder jenes zu tun, uns mit diesem oder jenem zu beschäftigen, dieses oder jenes zu meiden, dieses oder jenes zu vergessen. Uns ist nicht klar, dass all diese Konditionierungen sich zu dem addieren, was aussieht wie ein Leben, oft aber beunruhigend oberflächlich und unbefriedigend bleibt. Das bringt das schale Gefühl mit sich, dass es noch etwas mehr geben muss, einen tieferen Sinn, eine Möglichkeit, sich in der eigenen Haut wirklich wohl zu fühlen, unabhängig von den Umständen, ob die Dinge nun gerade »gut« oder »schlecht« stehen, »angenehm« oder »unangenehm« sind.
Wir erleben solches Unbehagen, solche Enttäuschung, solche Unzufriedenheit, und gelegentlich bemerken wir, dass diese Empfindungen unser ganzes Leben bestimmen wie eine ständig vorhandene Hintergrundstrahlung der Unzufriedenheit in uns allen, über die wir aber in aller Regel nicht sprechen. Gewöhnlich ist das einfach eine Art Schatten, etwas Bedrückendes. Hmmm… das hört sich sehr nach Dukkha an, Dukkha und noch mehr Dukkha (siehe Teil zwei des ersten Bandes, Meditation ist nicht das, was Sie denken).
Doch wenn wir uns dieses Unbehagen näher ansehen, wenn wir untersuchen, was dieses hintergründige Unbefriedigtseins tatsächlich ist, wenn wir uns dazu hingezogen fühlen, zu hinterfragen, wer denn da in diesem Augenblick leidet, dann erkunden wir damit eine völlig andere Dimension der Wirklichkeit, eine Dimension, die uns eine bisher ungeahnte, aber immer verfügbare Freiheit von dem beengenden Gefängnis der konventionellen Gedankenwelt anbietet, auch wenn wir dieser Welt geben, was ihr gebührt und weiterhin ihre Existenz anerkennen, deren Begrenztheit wir nun aber kennen und die uns längst nicht mehr so einengt wie zuvor. Unser bloßes Interesse an der Freiheit vom Leiden sowie daran, niemandem mehr unnötig und unbewusst Leiden zuzufügen, wird zu einer Pforte zur Verwirklichung einer neuen Dimension des Daseins und einer umfassenderen Lebensweise, in der ein Leben in Beziehung und wechselseitiger Verbundenheit im Vordergrund steht.
Dieser Prozess fühlt sich an wie ein Erwachen aus einer Konsens-Trance, einer Traumwelt, und so, als stünden uns plötzlich vielfältige Grade der Freiheit zur Verfügung und sehr viel mehr Optionen, aus ganzem Herzen und mit Achtsamkeit auf jegliche Situation einzugehen, in der wir uns vorfinden, und auf die wir zuvor bloß aus tiefsitzenden, konditionierten Gewohnheiten heraus reagiert hätten. Das gleicht dem Übergang aus einem zweidimensionalen »Flachland« in die dritte Dimension des Raumes, die sich in einem rechten Winkel (orthogonal) zu den anderen beiden anderen findet. Alles öffnet sich, auch wenn die beiden »alten« Dimensionen genau so bleiben, wie sie davor waren. Allerdings sind sie nun weniger einengend, weil wir jene dritte Dimension entdeckt und hinzugefügt haben.
Indem wir uns fragen, »Wer leidet?« oder »Wer möchte, dass das, was gerade geschieht, nicht geschieht?« oder »Wer fühlt sich verunsichert, unerwünscht oder verloren?« oder »Wer bin ich?«, setzen wir nicht weniger als eine Rotation des Bewusstseins in eine andere »Dimension« in Gang, die orthogonal zur konventionellen Realität steht und die deshalb gleichzeitig mit der konventionelleren Realität Bestand haben kann, weil wir einfach nur »mehr Raum hinzugefügt« haben. Nichts muss sich verändern. Es ist einfach nur so, als würde unsere Welt augenblicklich sehr viel größer und wirklicher. All die alten Dinge sehen jetzt anders aus, weil wir sie in einem neuen Licht sehen, mit einem Gewahrsein, das nicht mehr von der konventionellen Dimensionalität und Geistesverfassung eingeschränkt ist.
Was Veränderungen anbelangt, nun, die finden ohnehin die ganze Zeit statt. Oft stehen wir natürlichen Veränderungen und Wachstum im Wege, weil wir versuchen, die Dinge in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Dadurch wird die Wirklichkeit verengt und wir bleiben im konditionierten Geist und in unseren konditionierten Ansichten eingeschlossen, weil wir jene anderen Dimensionen und Optionen, die uns neue Grade an Freiheit in unserer inneren und äußeren Landschaft anbieten, zum Einsturz bringen.
Wenn Sie in Ihrem Bewusstsein eine Rotation erleben, sodass Ihre Welt sich ganz plötzlich größer und wirklicher anfühlt, dann erhaschen Sie einen Blick auf das, was die Buddhisten die absolute oder letzte Wirklichkeit nennen, eine Dimension, die sich jenseits aller Konditionierung befindet, aber in der Lage ist, Konditionierung zu erkennen, wenn sie auftaucht. Sie ist Gewahrsein selbst, die Erkenntnisfähigkeit des Geistes an sich, die jenseits eines Erkennenden und dem Erkannten ist – reines Erkennen. Und interessanterweise ist es bereits da, es gehört Ihnen längst.
Wenn wir im Gewahrsein verweilen, dann ruhen wir in dem, was wir orthogonale Realität nennen könnten, in einer Realität, die grundlegender ist als die konventionelle Realität und ganz genauso wirklich. Beide haben Moment für Moment Bestand, und wir müssen beide anerkennen und würdigen, wenn wir das volle Spektrum unseres Menschseins, unsere wahre Natur als fühlende Wesen ausfüllen und verkörpern wollen.
Wenn wir in dieser orthogonalen Dimension zu Hause sind, dann sehen wir die Probleme der konventionellen Realität aus einer anderen Perspektive, einer geräumigeren als der eines engstirnigen Egoismus. Die Situation, mit der wir uns konfrontiert sehen, ermöglicht mehr Freiheit, Klärung, Akzeptanz, Kreativität, Mitgefühl und Weisheit – Möglichkeiten, die in der konventionellen Geistesverfassung buchstäblich unvorstellbar waren, die nicht auftauchen und andauern konnten.
Dieses erweiterte Universum der Freiheit ist das Versprechen, das der Achtsamkeit innewohnt, sowohl in Bezug auf unser individuelles Leben als auch in Bezug auf die Welt. In der Welt kann das eine Rotation im Bewusstsein sehr vieler Menschen in relativ kurzer Zeit bedeuten. Solch ein Sprung kann die Natur einer schwierigen Situation augenblicklich in einem neuen Licht zeigen, in all ihrer Komplexität und Einfachheit und mit zusätzlichen Dimensionen und Graden der Freiheit und Möglichkeit… zu neuer Einsicht, zu weisem Handeln und zur Heilung. Das ist es, was eine orthogonale Perspektive uns zu bieten hat. Das ist es, was Achtsamkeit uns zu bieten hat… Einsicht in das, was das Allergrundlegendste und Allerwichtigste ist und was wir nur allzu leicht vergessen oder verlieren. An der konventionellen Realität ist nichts »Falsches«. Sie ist einfach nur unvollständig. Darin liegt die Quelle unseres Leidens und damit auch die Quelle unserer Befreiung vom Leiden.
Solche orthogonalen Sprünge sind uns nicht fremd. Eine authentische Entschuldigung zum Beispiel vermag, wie Aaron Lazare in seinem Buch On Apology (»Über das Vergeben«) mit zahlreichen Fallbeispielen eindrucksvoll demonstriert hat, innerhalb eines Moments eingefleischten Groll, Hass, Erniedrigung, Schuldgefühle und Scham bei beiden betroffenen Parteien aufzulösen und kann fast augenblicklich zu Heilung, zu Vergebung, zu einem Ausdruck der Liebe und zu Fürsorge zwischen einzelnen Menschen, aber auch zwischen Nationen führen. Was noch einen Moment zuvor höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar völlig unmöglich erschien, kann tatsächlich geschehen. Was wir für einen »unzulässigen Übergang« in uns selbst gehalten haben, erweist sich also nicht nur als zulässig, sondern als zutiefst möglich. Der Zustand des Glücks, der auf die Entschuldigung folgt, steht orthogonal zum Zustand des Leidens vor der Entschuldigung.
Er war die ganze Zeit als Potenzial, als Möglichkeit vorhanden, doch es bedurfte einer Rotation innerhalb der Landschaft des Geistes, damit er sich als real manifestieren konnte. Und indem wir diesen Übergang durchlaufen, werden alte Wunden geheilt, alte Verletzungen vergeben, und auf scheinbar wunderbare Weise entstehen neues Verständnis und Versöhnung und eine Weite im Herzen und im Geist.
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