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Nachdem die schöne Philosophin unter tosendem Applaus die Bühne verlassen hatte, folgte das Referat eines schon leicht ergrauten, aber umso arrivierteren Kriegsberichterstatters, der Frieda sofort an Bernd Lussnig erinnerte. Er erging sich in zahlreichen Anekdoten über die Unwägbarkeiten in arabischen und afrikanischen Kriegsgebieten und betonte, keineswegs aus selbstzerstörerischen Tendenzen heraus immer wieder solch lebensfeindliche Schauplätze aufzusuchen. Warum dann, das sagte er nicht. Nach der dritten Geschichte, in der der edle Held wieder nur um Haaresbreite einem Anschlag oder einer Entführung entkommen war, schaltete Frieda innerlich ab.
Von welchen verdammten Risken und Chancen war da eigentlich die Rede? Welche Präpotenz brauchte es, nach der glücklichen Heimkehr ins sichere Mitteleuropa vom Umgang der Kriegsopfer mit ihren Ängsten und Nöten zu schwafeln? War das nicht auch das Dilemma aller Promiberichterstatter: dass sie den eigenen Standpunkt, die eigene Wahrnehmung mit jener der direkt Betroffenen gleichsetzten? Dass sie ihr eigenes Davongekommensein mit anekdotengewürzten Referaten zu entschuldigen suchten? Es konnte einem übel werden davon, speiübel!
Wissend, dass sie soeben wieder einmal im Begriff war, einen Schwur zu brechen, erhob sie sich von ihrem Sitz und bat Leo, sie hinauszulassen.
„Ich muss nur schnell mal wohin.“
Aber sie kehrte nicht zurück. Schnappte sich stattdessen im Foyer, wo die Kellner bereits damit beschäftigt waren, das Buffet aufzubauen, ohne zu fragen, ein Glas Weißwein und flüchtete damit hinaus in den begrünten Innenhof. Hier würde sie warten, bis der dritte Vortrag, in dem eine Klimaforscherin über die Grenzen der Wissenschaft sprechen sollte, vorbei war. Bei Leo würde sie sich halt für ihre abermalige Desertion entschuldigen müssen. Vielleicht würde er sie dafür mit dem traurigsten Hundeblick bestrafen, zu dem er fähig war. Seis drum. Diese bescheuerten Referate hatten mit ihr so viel zu tun wie … wie die mythischen Sirenen mit jenen neuzeitlichen, die samstags zu Mittag heulten! Das musste sie sich nun wirklich nicht länger geben.
Sie fragte sich, von welchen Risken und Chancen die Rede sein müsste, dass es mit ihr etwas zu tun hätte. Dass auch sie, Frieda Prohaska, sich daran aufbauen könnte. Flaute. Einöde. Kahlschlag. Das waren die Bilder, die ihr einfielen, wenn es ums Eingemachte ging. Um die nüchterne, die ernüchternde Zwischenbilanz, die frau mit knapp achtunddreißig zu ziehen hatte.
Die einzig interessante Story der letzten Jahre war ihr vor fast vier Monaten entzogen worden. Unmittelbar nach Bernds Unfall. Weil man ihr nicht zutraute, in seine Fußstapfen treten zu können. Weil man ihr keine Chance geben wollte, die Sache alleine durchzuziehen. Und vielleicht hatten sie sogar recht gehabt damit.
Vielleicht kannten Fillinger und Glenk sie ja besser als sie sich selbst …
Jedenfalls musste sie sich seit Juli mit lächerlichen Brosamen über Wasser halten. Mit Aufträgen, die weder finanziell noch journalistisch gesehen etwas hergaben. Und den Wechsel zu einem anderen Magazin konnte sie auch vergessen. Sämtliche Bewerbungen waren ein Flop gewesen, meist hatte man sie nicht einmal zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Die Printbranche lag darnieder, so sah es aus. Da konnte Minister Steindlinger daherquatschen, was er wollte.
Sie hockte unter einer Linde, deren Blätter allesamt abgefallen waren, und schlotete still vor sich hin. Es war föhnig, untypisch für einen Novembertag in Wien, sie schätzte die Temperatur auf knapp zwanzig Grad. Aus dem Vortragssaal drang kein Laut, und die hohen Mauern des Innenhofs schirmten den Verkehrslärm fast hundertprozentig ab.
Dennoch hatte sie plötzlich dieses Rauschen in den Ohren.
Auf einen Schlag, ohne jegliche Ankündigung, wie es nun einmal so seine Art war, schlug der alte Tinnitus wieder zu.
*
Sie steht am offenen Grab, umgeben von wenigen Verwandten und Bekannten. Es ist ein Sommertag, es ist heiß. Sie lässt die weiße Rose auf den mit Weihwasser vollgespritzten Sargdeckel fallen. Ein Fallen in Zeitlupe, in Superzeitlupe, bei der alle Geräusche sich verzerren. Das Gemurmel des Pfarrers, der sich trotz allem bereit erklärt hat, ein Begräbnis zu zelebrieren, zu einem Gequietsche entstellt, beendet erst durch eine einzige, entsetzliche Detonation: Die Rose hat eingeschlagen. Hat sich in den massiven Deckel mit dem schlichten Holzkreuz gebohrt und verwandelt sich jetzt, geführt von Geisterhand, in eine Dornenkrone.
Eine Detonation, die es gar nicht geben kann, geben darf.
Und die dennoch einen Tinnitus auslöst, der sie in alle Ewigkeit begleiten wird.
Betäubt klappt sie den Sarg auf, betrachtet das Gesicht der Mutter mit den weit aufgerissenen Augen, mit den schrecklich bleichen Lippen, die vergeblich ein letztes Wort zu formulieren versuchen: Frieda.
Klagend, flehend, im höchsten Diskant: Friiie-da, Friiie-da …
Hör auf, bitte hör endlich auf! Vergib uns unsere Schuld, Mama, vergib wenigstens mir!
Ja, ich hätte dich öfter besuchen müssen, dich nicht so alleine lassen dürfen. Hätte wissen müssen, wie dir zumute ist, nach all den Jahren ohne Mann, ohne Wärme. Du und ich, wir sitzen im selben Boot, hast du mehr als einmal gesagt. Aber ich habe dich nicht verstanden, habe deine Hilferufe nicht gehört. Du hast geschrien, wenn du schweigend in deinem Lehnstuhl gehockt bist, wenn du mich so müde angeschaut hast. Nicht anklagend, nur unendlich müde.
Das Schnitzelmesser, es ist neben dir in der Wanne gelegen.
Ein solides, altes Küchenmesser mit zwei Messingschrauben im Griff. Du hast dafür gesorgt, dass es immer gut geschliffen war. Das zäheste Hammelfleisch hat sich anstandslos damit zerlegen lassen, mit dem Schleifstein hast du umgehen können wie keine sonst. Das kommt davon, wenn man mit der Sense in der Hand auf die Welt gekommen ist – deine Worte! Früher hast du die Wiese hinterm Haus noch selbst gemäht. Alle paar Minuten hast du den grauen, speckigen Schleifstein hervorgezogen und das Sensenblatt damit nachgeschärft. Das Messer war ein Teil der Mitgift, ja, der halbe Hausrat wurde einem nachgeschmissen bei der Hochzeit dazumal, nicht irgendwelche teuren Reisegutscheine wie heutzutage. Deine Eltern haben es bei einem der letzten Messerschmiede in Zwettl anfertigen lassen. Weißt du noch, wie du mir das stolz erzählt hast?
„Echte Qualitätsware“, hast du gesagt: „So etwas geht nie kaputt.“
Und das ist sie auch nicht, obwohl die Klinge schon ganz schmal und dünn war vom vielen Schleifen, wie bei einem richtigen Fleischermesser. Wie viele Schnitzel du damit wohl geschnitten hast? Keines für Papa jedenfalls. Der war nach meiner Geburt schneller weg, als du schauen konntest.
Ich weiß nur eins: Ich werde nie mehr ein Schnitzel essen können, Mama. Mein Lebtag nicht! Denn das Schnitzelmesser habe ich gefunden, finden müssen, das hast du gut arrangiert. Ein altes Schnitzelmesser unter deinem weißen, aufgeschwemmten Körper. Die Pulsadern glatt durchtrennt. Zwei saubere Schnitte. Kein Pfusch.
Weil zu pfuschen, das ist dir zeitlebens gegen den Strich gegangen, Mama.
E-Mail-Verkehr mit Thomas Mitterer, Wien
Von: fpro@gmx.at
Gesendet: Mittwoch, 20. Juni 2012 17 : 47
An: t.mitterer@ecology.at
Betreff: deine fachliche Meinung
Lieber Thomas,
ich habe mich lange nicht mehr bei dir gemeldet, entschuldige! Aber wenn das auch nach einer Ausrede klingen mag: Mir ist es wirklich nicht so gut gegangen in letzter Zeit. Wenigstens hab ich jetzt beruflich etwas Spannendes am Laufen, was auch der Grund für dieses Mail ist.
Ich hätte ein paar fachliche Fragen zu klären, die du als erfahrener Chemiker mir vermutlich aus dem Stand beantworten könntest. Sofern es deine Zeit am Ökologieinstitut erlaubt, würde ich mich gerne mit dir treffen, um ein kleines Interview zu machen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir einen Termin geben könntest. Gerne komme ich auch zu dir an deine Arbeitsstelle, damit du keine Freizeit opfern musst. Es eilt allerdings ziemlich, wenn ich das so direkt sagen darf, denn ich stecke bereits mitten in den Recherchen.
Nur so viel dazu: Es geht um Kritik an ayurvedischen Praktiken. Soweit ich weiß, bist du mit dem Thema vertraut, immerhin hast du zwei Jahre lang in Kalkutta gearbeitet. Konkret würde mich deine fachliche Meinung zu einer amerikanischen Studie interessieren, die ich dir ebenso beilege wie eine aktuelle Zurückweisung dieser Studie durch indische Ärzte. Vielleicht findest du Zeit, dir beides vor unserem Gespräch anzuschauen.
Auf eine baldige Antwort freut sich
deine alte Studienkollegin
Frieda Prohaska
Von: t.mitterer@ecology.at
Gesendet: Freitag, 22. Juni 2012 11 : 03
An: fpro@gmx.at
Betreff: Re: deine fachliche Meinung
Liebe Frieda,
ich hab geschwind einmal in deine Unterlagen hineingeschaut und rede natürlich gerne mit dir darüber, auch wenn ich schon viele Jahre nicht mehr in dieser Sparte tätig bin. Andererseits: Die Grundprinzipien vergisst man wohl nie.
Ich bin derzeit noch in Berlin, ab nächsten Mittwoch aber wieder in Wien. Während der Zugfahrt werde ich mir das Material noch genauer zu Gemüte führen. Ruf mich einfach ab Donnerstag an, dann machen wir uns einen Termin aus, einverstanden?
Herzlich dein
Thomas
Transkript: Interview mit Dr. Thomas Mitterer, Ökologieinstitut, 29. 6. 2012
FP: Danke, Thomas, dass du dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast. Es geht, wie gesagt, um deine Einschätzung jener Studie, die Dr. Richard Piper von der Boston University gemacht hat und die unlängst im Journal of the American Medical Association publiziert wurde. Die Studie kam zum Ergebnis, dass vierzig Prozent der im Internet verkauften ayurvedischen Produkte, welche unter Rasa shastra laufen, massive Überschreitungen der Grenzwerte bei Quecksilber, Blei und Arsen aufweisen. Diverse Ayurvedaverbände in den USA und Europa haben auf die Ergebnisse von Pipers Studie reagiert und die Aussagekraft dieser Untersuchungen bestritten. Meine erste Frage an dich: Wie schätzt du das Ganze ein?
TM: Okay, zuerst einmal einige Anmerkungen zur Studie selbst. Was ich für problematisch halte, ist, dass da immer von soundso viel Mikrogramm Schwermetall pro Kilo die Rede ist. Es wird nicht unterschieden, ob es sich um Schwermetalle in löslicher oder nicht löslicher Form handelt. Genau das macht in der Praxis aber den Unterschied zwischen gefährlich und ungefährlich aus.
Weiters stört mich die ständige Bezugnahme auf den sogenannten Durchschnittsmenschen. Ich habe diese Kategorie noch nie verstanden. Wo sind etwa Kinder oder Alte und Schwache anzusiedeln? Aber man kann den Studienverfassern natürlich zugutehalten, dass ihr Untersuchungsgegenstand nicht die Erfassung der gesundheitlichen Effekte am Patienten war, wie bei einer klinischen Studie, sondern nur die Bestimmung des Schwermetallgehalts in verschiedenen Produkten.
FP: Und wie siehst du die kategorische Ablehnung dieser Studienergebnisse durch die Ayurvedacommunity? Sie lehnt den chemisch-analytischen Zugang ja prinzipiell ab.
TM: Nun, das ist eine sehr komplexe Geschichte. Erst einmal muss ich bekennen, dass sich meine Einstellung zur westlichen Naturwissenschaft im Verlauf der letzten Jahre einigermaßen geändert hat. Das klingt aus dem Mund eines Chemikers vielleicht eigenartig, aber ich bin überzeugt, dass es Dinge jenseits unseres Horizonts gibt. Dinge, die wir mit unseren evidenzbasierten physikalischen oder chemischen Methoden alleine nicht in den Griff bekommen. Denk nur an die Homöopathie. Es ist doch hochinteressant, dass sie bei uns immer stärker angenommen wird – gerade von den höheren Bildungsschichten.
Für mich kommt da eben ein wichtiger Aspekt ins Spiel, und der lautet Systembetrachtung. Die klassische Chemie, so wie du und ich sie gelernt haben, beruht ja darauf, dass man die Dinge erst in ihre Einzelteile zerlegt und dann wieder zusammenbaut. In den letzten Jahren ist man aber dazu übergegangen, die Systemwirkung mitzuberücksichtigen. Um es einfach zu sagen: Ein und dieselbe pflanzliche Substanz kann isoliert oder im Verbund mit anderen sehr unterschiedliche Wirkungen haben.
FP: Entschuldige, aber es geht hier ja nicht um Pflanzen – es geht um Schwermetalle wie Quecksilber, Blei, Arsen oder Kadmium!
TM: Ich weiß, ich weiß. Aber wie ich schon sagte, man kann nicht einmal davon ausgehen, dass Schwermetalle in jedem Fall negative Auswirkungen haben. Wie du weißt, ist beispielsweise Quecksilber in purem Zustand geschluckt überhaupt nicht gefährlich – der Körper scheidet es einfach wieder aus. Oder denk an das Quecksilberamalgam, das sich vielleicht auch als Füllung in deinen Zähnen befindet. Andere Hg-Verbindungen sind hingegen hochgiftig. Und natürlich macht die Dosis viel aus, ebenso wie die Frage Lang- oder Kurzzeiteinnahme. Eine bestimmte Substanz ein einziges Mal in großer Konzentration eingenommen kann zum Beispiel weitaus stärker wirken als eine häufige Einnahme in niedriger Konzentration oder umgekehrt. Dazu kommt noch die Konstitutionsfrage: Medikamente werden ja in der Regel von kranken Menschen eingenommen und treffen deshalb auf einen geschwächten Organismus, der völlig anders reagieren kann wie ein gesunder. Alle diese Aspekte spielen eine nicht unbedeutende Rolle – und deshalb ist eben die isolierte Betrachtung einer Substanz nicht zielführend.
FP: Genau so argumentieren auch die Vertreter des Ayurveda. Aber geht es letztlich nicht darum, ob sich die chemische Struktur, etwa von Quecksilber, durch eine ayurvedische Zubereitungsprozedur grundsätzlich ändern kann oder nicht? Ob das, was im Ayurveda unter Shodana verstanden wird, wissenschaftlich betrachtet überhaupt möglich ist: nämlich die Reinigung der Metalle von sämtlichen toxischen Nebenwirkungen? Kannst du dir das vorstellen?
TM: Ob ich mir das vorstellen kann? Ach Gott, wir wissen spätestens seit der Quantenphysik, dass es Dinge gibt, die uns Normalsterblichen schwer verständlich sind. Stichwort Informationsübertragung. Außerdem reden wir hier ja von einem Systemwechsel. Und ich denke, dass es generell schwierig bis unmöglich ist, mit den Methoden der einen Wissenschaft eine andere zu bewerten.
FP: Okay, lass uns einen Schritt zurück machen. Der Grund, warum im Rasa-shastra-Verfahren pflanzliche Stoffe mit Schwermetallen vermengt werden, ist ja, dass dadurch die Heilkraft und Haltbarkeit der Präparate erhöht werden soll. Es geht also, wohlgemerkt, nicht um zufällige Verunreinigungen, etwa durch Düngemittel, mit denen die Pflanzen in Kontakt kommen, sondern um eine bewusste Beimengung von Quecksilber oder Blei gemäß einer jahrtausendealten Tradition, niedergeschrieben in den ayurvedischen Rezepturen. Verstehe ich dich richtig: Du hältst eine solch wundersame Verwandlung eines giftigen Schwermetalls in ein heilsames Medikament für grundsätzlich möglich? Von der Beantwortung dieser Frage hängt immerhin ab, ob es angezeigt ist, schwermetallhaltige Produkte zu verbieten oder in unseren Apotheken zuzulassen.
TM: Wir bewegen uns im Kreis. Ich kenne mich bei Ayurveda doch viel zu wenig aus, um deine Frage eindeutig beantworten zu können.
FP: Aber du musst doch als Chemiker sagen können, ob eine Eliminierung der toxischen Eigenschaften von Schwermetallen durch Kalzinierung et cetera grundsätzlich denkbar ist?
TM: Meine Antwort darauf ist ein klares Jein. Als Chemiker müsste ich natürlich sagen, dass das nicht geht. Aber wie eben dargelegt, bin ich nicht mehr davon überzeugt, dass unsere Vorstellung von Chemie das alleinig Seligmachende ist. Ich maße mir auch nicht an, Zugänge jenseits der westlichen Chemie zu beurteilen.
FP: Aber Thomas …
TM: Nein, warte, ich versuche es mit einem simplen Beispiel zu verdeutlichen. Wir wissen doch, dass Chinesen Kuhmilch schlecht vertragen. Nun, heute lässt sich das natürlich leicht erklären – ihnen fehlt einfach ein Enzym, um die Milch zu verdauen. Aber vor zweihundert Jahren hat kein Mensch den Grund gekannt. Und selbst wenn eine Gesellschaft grundsätzlich über ein komplexes Wissen wie die Quantenphysik verfügt, heißt das noch lange nicht, dass damit viele etwas anfangen können. Das sollte uns doch zu denken geben, nicht wahr, und vorsichtiger sein lassen bei der Beurteilung fremder Systeme!
FP: Du lässt diese Frage also offen?
TM: Exakt. Sollen die sich damit beschäftigen, die beide Systeme gleich gut kennen. Ich zähle nicht dazu.
Was mich bedeutend mehr interessiert, ist die Frage: Was steckt dahinter, dass so viele westliche Menschen heute ihr Heil in etwas komplett Fremdem, Andersartigem suchen? Wieso kommt es bei uns überhaupt zu einem Ayurvedaboom? Ist eine solche, in einer anderen Kultur gewachsene Medizin überhaupt auf uns übertragbar? Ich meine, das ist ja schon bei einfachen Dingen so, dass sie an unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirken. Wenn du eine Flasche des Weins, der dir im Urlaub so phantastisch geschmeckt hat, zu Hause aufmachst, fragst du dich vielleicht, was du da bloß für einen Fusel gekauft hast. Dabei hat sich der Wein nicht geändert – bloß das kulturelle Umfeld, in dem er getrunken wird, ist ein anderes.
FP: Manche halten diese Tradition der Mischung von Schwermetallen und pflanzlichen Substanzen für einen von der modernen Chemie längst überwundenen alchemistischen Irrglauben. Und sie fragen sich, wie diese Schwermetalle, wenn sie denn in angeblich ungefährlicher, nicht löslicher Form vorliegen, überhaupt eine Wirkung geschweige denn eine heilende haben sollen.
TM: Weil es nach ayurvedischer Meinung eben nicht um die stoffliche Wirkung, sondern um eine andere Art von Informationsübertragung geht. Ähnlich wie in der Homöopathie.
FP: Aber wie bitte stellt sich ein Chemiker vor, dass Informationen übertragen werden, die nicht an Moleküle gebunden sind?
TM: Ich tu mir persönlich schon schwer, den Welle-Teilchen-Dualismus zu verstehen, und der ist ja auch schwer verständlich in den makroskopischen Kategorien, in denen wir gelernt haben zu denken. Bezüglich der Frage, ob es absolute Wahrheiten gibt oder nur kulturell determinierte, tendiere ich mittlerweile eher zu Letzterem. Ich stelle fest, dass in anderen Kulturen seit Jahrtausenden andere Wege als bei uns beschritten werden und die Menschen dort offenbar auch nicht kränker sind.
FP: Aber ist ein solcher Relativismus nicht problematisch? Wenn etwa die Food and Drug Administration in den USA Obergrenzen bei Schwermetallen festlegt, tut sie das wohl deshalb, weil sie Menschen damit schützen will. Egal, welchen kulturellen Hintergrund sie haben.
TM: Genauso kannst du fragen, welche Interessen dahinterstehen, dass es punkto Schwermetalle alleine in den USA vier unterschiedliche Grenzwerte gibt.
FP: Die aber allesamt, wie Pipers Studie belegt, bei Quecksilber, Blei und Arsen um das Tausendfache überschritten werden. Umso überraschender, dass in den USA nicht mehr Vergiftungsfälle bekannt sind als die etwa siebzig, von denen derzeit ausgegangen wird. Und aus Indien, wo Ayurveda ja einen viel höheren Stellenwert hat, sind noch weniger Fälle bekannt.
TM: Na, das überrascht mich jetzt nicht sonderlich. Es gibt auch eine große Dunkelziffer nicht erfasster Morde, weil einfach viele Opfer nie als solche erkannt werden. Opfer von Giftanschlägen zum Beispiel. Nicht jeder Tote wird gerichtsmedizinisch untersucht.
FP: Abgesehen von den Gefahren für jene, die diese zweifelhaften Substanzen schlucken: Denkst du nicht auch, dass insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter, die bei der Herstellung schwermetallhaltiger Präparate eingesetzt werden, besonders gefährdet sind?
TM: Na klar, schon wegen der anfallenden Dämpfe. Und nach meiner Erfahrung mit indischen Betrieben kümmert sich dort selten jemand um den Schutz der Belegschaft. Warum verlagern westliche Pharmaunternehmen ihre Produktion in solche Schwellenländer? Weil, abgesehen von den lächerlichen Löhnen, dort auch die staatlichen Auflagen und Sicherheitsstandards niedriger sind, was wiederum Kosten senkt.
FP: Abschließende Frage: Worauf würdest du besonders achten, wenn du so einen Produktionsbetrieb zu kontrollieren hättest?
TM: Zuerst einmal müsste klar sein, mit welchen chemischen Verbindungen in dem betreffenden Betrieb hantiert wird. Erst danach kann man sich mit den nötigen Schutzmaßnahmen beschäftigen und überprüfen, ob es für alle, die mit gefährlichen Substanzen in Berührung kommen, eine entsprechende Arbeitskleidung oder Atemschutzmasken gibt, die auch tatsächlich verwendet werden bzw. funktionieren. All das ist nämlich keineswegs selbstverständlich.
Ein simples Beispiel: Auch in Indien gilt längst die Helmpflicht für Motorradfahrer. Im Alltag wirst du aber feststellen, dass die meisten den Helm lieber am Handgelenk als auf dem Kopf tragen. Das bloße Vorhandensein einer Schutzkleidung in einer chemischen Produktionsstätte sagt also noch gar nichts über deren Verwendung aus. Vielleicht gilt es ja einfach als uncool, sich in einen Schutzanzug zu zwängen, weil der die Haartracht ruiniert? Es gibt tausend Gründe, warum die Sicherheit am Arbeitsplatz nicht ernst genommen wird – vor allem, wenn, wie in Indien, das Leben des Einzelnen weniger wert ist als der mögliche Profit für ein Unternehmen. Darauf würde ich also bei einer Inspektion vor allem achten: auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
FP: Thomas, ich danke dir für das Gespräch.
2
Ajith Nair lehnte sich zufrieden zurück in den dicken Polster und streckte die Beine aus. Er verspürte nicht den geringsten Jetlag, und das Essen in dem von einem Nepalesen geführten Restaurant, von dem aus sich ihm ein schöner Blick auf den Charles River bot, hatte hervorragend gemundet. Von den vegetarischen Momos in Tomatensauce hatte er sogar noch eine Portion nachbestellt.
Sein Gegenüber war da weitaus weniger entspannt. Kein Wunder, dachte er. Sein Besuch war R. S. Murugan schließlich erst einen Tag vor Ajiths Abflug angekündigt worden, und in dem Telefonat waren nur einige wenige Eckdaten genannt worden: Wann genau Ajith am Flughafen Boston abzuholen sei, dass der ältere Bruder ausdrücklich eine persönliche Abholung wünsche und dass Ajith angemessen, also in einem ordentlichen Hotel, aber unter falschem Namen, unterzubringen sei. Mehr nicht. Murugan hatte immer nur yes und of course gemurmelt. Dabei hatte er vermutlich an nichts anderes denken können als an die wenig erfreuliche Perspektive, wegen des überraschenden Besuchs aus Chennai alle möglichen Termine schleunigst absagen zu müssen. Ohne Wenn und Aber. Egal, wie wichtig sie auch sein mochten.
Während des dreigängigen Menüs hatten sie nur belangloses Zeug geplaudert. Wie es den Eltern gehe, was die Kinder so trieben (Ajith hatte keine, weshalb sich das Thema rasch erledigt hatte) und wie hoch der Benzinpreis in Indien respektive in den USA derzeit sei, die übliche Palette eben. Wenn Murugan sich auch rechtschaffen bemühte, Interesse an der momentanen Situation in seiner ehemaligen Heimat zu bekunden, entging Ajiths geschärften Sinnen nicht, wie hektisch die Blicke des Brokers waren, wie fahrig seine Bewegungen. Ständig nickend und lächelnd vermied er tunlichst die eine, die einzig interessante Frage: jene nach Ajiths Auftrag. Das hätte schon beim Besuch eines nahestehenden Freundes als unhöflich gegolten; wie viel mehr galt das erst für ihre Beziehung. Die gar keine war, in der engeren Bedeutung des Wortes. Oder konnte man es als eine Art indirekter Verwandtschaft bezeichnen, wenn der ältere Bruder über ihnen beiden als überdimensionaler Scheinwerfer strahlte, als Fixstern am Firmament? Ein Stern, der alles sah und über allem wachte. Immerzu präsent, doch von den Menschen erst wahrzunehmen, wenn die Dunkelheit hereinbricht.
Nachdem der Besitzer des Lokals höchstpersönlich den Kaffee serviert hatte, fand Ajith es an der Zeit, zum geschäftlichen Teil überzugehen.






