- -
- 100%
- +
„Ich soll dir von unserem älteren Bruder die besten Grüße ausrichten. Wie man hört, läuft bei dir geschäftlich ja alles äußerst zufriedenstellend.“
Wie man hört … Es konnte nicht schaden, von Anfang an klarzustellen, wer die Kontrolle innehatte. Egal, wie weit die amerikanische von der indischen Ostküste entfernt war.
In Murugans Gesicht zuckte ein kleiner Muskel. Ganz kurz nur, aber Ajith registrierte es mit Wohlgefallen.
„Ich bedanke mich“, sagte der andere. Es klang, als machte seine Stimme dabei einen tiefen Bückling. „Und was die Geschäfte angeht, bin ich in der Tat sehr zufrieden.“
„Ja“, bestätigte Ajith mit einem Blick auf Murugans Anzug. Der dunkle Stoff schimmerte dezent und saß wie angegossen. So etwas gab es nicht von der Stange. „Unser älterer Bruder sorgt für uns wie ein wahrer Vater. Das sollten wir nie vergessen.“
Murugan nickte, vielleicht nicht ganz so enthusiastisch, wie man es sich hätte erwarten dürfen. Schließlich wusste Ajith nur zu genau, was bzw. wer den dunkelhäutigen Tamilen in die Lage versetzt hatte, so hoch auf der gesellschaftlichen Leiter zu klettern, dass er es sich leisten konnte, von seinem Arbeitsplatz an der Wall Street zurück zu seinem feudalen Häuschen im besten Bostoner Viertel zu fliegen, wann immer ihm danach war. Businessclass natürlich.
Ajith hatte noch nie ein derart teures Tuch auf der Haut gespürt, aber er beneidete den anderen nicht darum. Er machte sich nichts aus Statussymbolen. Zog es sogar vor, schlicht und möglichst locker gekleidet seiner Arbeit nachzugehen. Wenn er, wie momentan, selbst einen Anzug trug, dann nur deshalb, weil das in gewissen Situationen einfach unvermeidlich war. Weil man nicht auffallen durfte, sich anzupassen hatte wie ein Chamäleon. Das war in seiner Branche eines der ungeschriebenen Gesetze. Wobei diese die einzig wichtigen waren, davon konnte er ein Lied singen.
„Es geht um eine große Sache“, sagte er unvermittelt, „eine, die unserem älteren Bruder äußerst wichtig ist. Dein Anteil dabei ist einfach und klar umrissen: Du hast nur Informationen zu beschaffen und ein bisschen Material, das ich nicht im Flugzeug mitbringen konnte. Aber unter keinen Umständen darf jemand etwas von unseren Aktivitäten erfahren. Unter gar keinen Umständen. Ansonsten …“
Mit der Handkante fuhr er von rechts nach links über seine Kehle. Es ging so schnell, dass kein Gast im Nepalese Corner es bemerkte. Außer der eine, für den die Botschaft bestimmt war.
Ajith nippte an seinem Kaffee und musterte Murugan über den Rand der Tasse hinweg. Freundlich, aber deutlich länger als üblich. Unnötig lange wäre dennoch der falsche Ausdruck gewesen. Schließlich war eine solche Verzögerung der normalen Zeitabläufe mitunter das wirksamste Mittel, um Kontrolle auszuüben. Ich könnte darüber ein richtig dickes Buch schreiben, dachte er, eines, das strotzt vor Alltagserfahrung. Vor angewandter Psychologie. Von beidem hatte Ajith Nair sich mit seinen eben mal neunundzwanzig Jahren zweifellos schon jede Menge angeeignet.
Der Blick über die Kaffeetasse zeigte ihm, dass die Botschaft angekommen war. Das Blut war aus dem Gesicht des Brokers gewichen. Zu Hause in Indien strebte ein jeder nach einem möglichst blassen Teint – je heller, desto besser stand man damit da in der gesellschaftlichen Hierarchie. Manche ließen sich sogar mit Chemie behandeln, um ihre Haut ein klein bisschen aufzuhellen. Aber damit hatte das plötzliche Weiß im Gesicht R. S. Murugans nichts zu tun.
„Selbstverständlich“, flüsterte er. Dann versuchte er sich an einem Lächeln. „Meine Lippen sind versiegelt. Was immer unser älterer Bruder wünscht, es wird geschehen.“
Nun lächelte auch Ajith. Eine Sekunde lang hegte er so etwas wie Mitgefühl für den anderen. Saßen sie nicht beide im selben Boot, wurden sie nicht vom selben Licht bestrahlt? Murugan, der erfolgreiche Börsenspekulant, und er, der nicht weniger erfolgreiche Agent, wie er sich selbst bezeichnete – stammten sie nicht aus derselben Gosse, auch wenn die seine in Kerala lag und jene Murugans in Tamil Nadu? Nein, verwarf er brüsk den Anflug von Sentimentalität, Gefühle waren schädlich, waren gefährlich in seinem Gewerbe. Es galt sich ihrer schnellstmöglich zu entledigen, wann immer sie einen zu überwältigen drohten, gemeinsame Hautfarbe und Herkunft hin oder her! Nur die Treue zählte, und die war weit mehr als ein Gefühl: Sie war eine Grundbedingung, die einzige Konstante in Ajiths Leben. Ohne sie war man nichts, höchstens Scheiße auf Beton.
Unfruchtbar wie Scheiße auf Beton.
Es war der Lieblingsspruch seines Vaters gewesen. Wie oft er ihn wohl in seinem Leben wiederholt hatte? Und ob er ihn auch auf den Lippen führte, ein letztes Mal, als er das Undenkbare beging? Als er sich umbrachte, wie so viele verarmte Bauern damals, wegen der einen Missernte zu viel. Wegen der Wucherzinsen, die er nicht mehr zurückzahlen konnte. Wegen der Schande, die eigene Familie nicht mehr ernähren, die Ausbildung des Sohnes an der Privatschule in Trivandrum nicht mehr finanzieren zu können. Die katholische Schule, an der er, der Hindujunge aus ärmlichen Verhältnissen, erstmals frei zu atmen gelernt hatte, wo er den Geist einer anderen Welt einsog wie frische Meeresluft. Sie lasen sogar ausländische Bücher und lernten dreimal so viel wie an der staatlichen Schule, die fast alle anderen aus seinem Dorf besuchten, die danach nicht einmal ordentlich Hindi sprechen konnten. Vor allem Englisch liebte er. „Nur wenn ihr Englisch beherrscht, könnt ihr in diesem Land etwas werden“ – das war ihnen von seinem Lieblingslehrer, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, immer wieder eingetrichtert worden. Seiner Ansicht nach hatte Ajith großes Talent, und Ajith setzte alles daran, den amerikanischen Akzent seines Lehrers zu kopieren. So drückte er seine Dankbarkeit und Zuneigung aus. Es fehlte ihm nur noch ein Jahr, ein lächerliches Jahr. Den Abschluss hätte er, der fleißige Schüler, problemlos geschafft. Mit einem guten Zeugnis wären auch lukrative Posten außerhalb seines Dorfes für ihn in Reichweite gerückt. Möglichst weit weg von zu Hause, wo es nur die Alternative gab, sich als Bauer oder als Fischer zu Tode zu schinden.
Aber Vater hatte es vorgezogen, eines Morgens in den Verschlag hinter ihrer Hütte zu gehen, wo sie das Zeug lagerten, das in weißen Säcken darauf wartete, auf die Felder ausgebracht zu werden, und eine Handvoll davon zu schlucken. So erfüllte das Pestizid am Ende doch noch seinen einzigen Zweck: zu töten. Wenn auch auf den Feldern nicht einmal mehr das gedieh, was man damit hätte vertilgen müssen. Was sonst sind wir als Unkraut, hatte Vater an seinem letzten Tag gemurmelt.
Sie hatten nicht verstanden, was er damit sagen wollte.
Und weil Vater nicht der erste und nicht der letzte Bauer gewesen war in diesem Jahr, als der Monsun das dritte Mal hintereinander ausblieb, der Gift schluckte oder sich an einem Baum erhängte, wurde eine Kommission eingerichtet. Eine fact-finding delegation, die herausfinden sollte, was wohl schuld sei an der Häufung von Selbstmorden in der Landbevölkerung. Und als die Kommission herausfand, dass nichts Ungewöhnliches herauszufinden war, dass es ebenso viele unterschiedliche Gründe wie Todesfälle gab, speiste man die Familien der Selbstmörder gnadenhalber, oder weil gerade Wahlen anstanden, bei denen man jede Stimme benötigte, mit jeweils drei lakh Rupien ab, dreihunderttausend Rupien also für jeden toten Vater und Alleinverdiener. Wenn die so Beschenkten dann ihre Schulden an die Gläubiger zurückgezahlt hatten, welche für die Kredite zwischen fünfundzwanzig und sechzig Prozent nahmen, blieb so gut wie nichts übrig. Jedenfalls nichts, mit dem man das letzte Schuljahr für den einzigen Sohn hätte berappen können.
In der allgemeinen Verzweiflung, als Mutter Grund und Boden für einen lächerlichen Betrag verkaufen musste und man die Heirat der Schwester, mitgiftlos, wie sie war, wieder absagte, tauchte er auf. Er, der ältere Bruder mit dem langen weißen Bart, wie man ihn in Kerala selten zu Gesicht bekam. Ein Mann, der sich um sie kümmerte und ihn, den Halbwüchsigen, mitnahm, hinüber in die große Stadt, die einmal Madras geheißen hatte. Ein älterer Bruder, der ihn wie ein wahrer Maharadscha in seinem weißen steinernen Haus aufnahm, als wäre er, der unwürdige Sohn eines Selbstmörders, sein eigen Fleisch und Blut. Der ihm Arbeit und Essen gab und ihn für seine Dienste sogar noch bezahlte, wodurch Ajith in die Lage versetzt wurde, seinen Teil dazu beizutragen, dass Mutter und Schwester nicht länger betteln mussten und wieder ein Dach über dem Kopf bekamen. All das dank eines bärtigen Fremden, der sich aus Kastengrenzen nichts machte. Der wie ein wahrer Vater an ihm handelte, bis zum heutigen Tag.
Nicht wie jener, der die Seinen alleine zurückließ.
Ihm, dem älteren Bruder, als der er sich ansprechen ließ, ihm allein galt seither Ajiths ganze Hingebung. Seine Treue. Bis in den Tod.
Nicht umsonst trug er diesen Namen: Ajith. Der, der nicht zu besiegen ist. Und war er nicht ein Nair, ein Abkömmling der alten Kriegerkaste? Wenn auch die Nairs ihre hohe Stellung längst verloren hatten – ihr Erbe trug er im Blut.
Vor allem aber war er ein Profi. Und ein Profi wusste nie, welchen Auftrag er als Nächstes erhielt.
Wen er als Nächsten zu eliminieren hatte.
3
Gegen zehn trudelte sie am Frühstückstisch ein. Versuchte, das Lächeln von Rosa Tauner, der älteren der beiden Tauner-Schwestern, zu erwidern, die in einem blauen Dirndl am anderen Ende der Eckbank bereitstand, um ihre Frühstückswünsche aufzunehmen. Aber Frieda wusste, dass das mit dem fröhlichen Morgenlächeln ein sinnloses Unterfangen war. Ein einziger Blick in den Badezimmerspiegel hatte ihr vermittelt, wie schrecklich sie aussah. Wie mitgenommen, verbraucht. Mit solch einer Visage ließ sich beim besten Willen kein gewinnender Gesichtsausdruck generieren. Umso aufgeräumter war dafür die Hausherrin.
„Kaffee oder Tee, Fräulein Prohaska? Wir haben ganz frische Kipferl für Sie, mit Bauernbutter und unserer hausgemachten Heidelbeermarmelade dazu schmecken s’ am besten. Oder möchten S’ lieber ein weiches Ei? Sie können natürlich auch gern beides haben. Bei uns kriegen S’ ja noch echte Eier, mit einer g’sunden Farb. Nicht wie ein Chines, dem schlecht worden ist …“
Rosa Tauner kicherte über ihr Sprüchlein, das sie vermutlich schon zig Pensionsgästen erzählt hatte. Frieda lächelte mühsam zurück. Sie konnte mit dem Vergleich durchaus etwas anfangen, fühlte sie sich doch selbst wie besagter Chinese. Ihr Kopf dröhnte und im Bauch rumorte es, irgendetwas hatte sich da in den Schlingen ihrer Därme ganz gewaltig verheddert. Zweifellos hatte sie letzte Nacht ein weiteres Kapitel in ihrem privaten Rum Diary geschrieben. Im Tagebuch der großen Betäubung, wie sie es bei sich nannte. Eine Betäubung, die nun schon eine ganze Weile andauerte. Und die kurzen klaren Phasen wurden immer kürzer. Immer seltener.
Vor drei Jahren hatte es begonnen, während der paar abgefahrenen Wochen auf Kuba. Nein, natürlich hatte es nicht erst vor drei Jahren begonnen, aber in Havanna hatte sich die Betäubung materialisiert. Verschleiert, behübscht mit viel Tanz, viel Musik, kaschiert im Partytrubel, wo alle gesoffen hatten. Bacilón hieß das Zauberwort, abfeiern, was das Zeug hielt. Tanzend ins Delirium. Und zwar, das war das Edle daran, mit dem Sanktus von ganz oben. God himself war auf die Idee gekommen. Fillinger hatte gerade Grasl als Chefredakteur abgelöst, und vielleicht war seine geplante Verjüngungskur für opinion mit ein Grund dafür gewesen, dass er und nicht Glenk den Job erhalten hatte. Jedenfalls hatte Fillinger eine neue Serie ins Leben gerufen: Die rote Szene in Lateinamerika. Ein Signal an die dahinschmelzende jüngere Leserschaft, also an Studenten und alle links der SPÖ Angesiedelten, die einmal die wichtigste Zielgruppe gewesen waren – damals, als auf dem Cover noch knallrot wochenzeitschrift für politik und kultur stand und das Magazin auf Recyclingpapier produziert wurde. Mittlerweile fuhr opinion auf derselben Hochglanzschiene wie die Mitbewerber. Wie auch immer, Frieda sollte über die Musik- und Tanzszene Havannas berichten, sogar einen eigenen Fotografen hatte man ihr mitgegeben. Sie klapperten sämtliche In-Lokale vom Malecón bis hinaus zu den Playas del Este ab und vertieften sich in das grelle Ambiente. Der Havana Club, Nachfahre von Bacardi, leistete gute Dienste beim Vertiefen, über Nacht wurde der Rum zu ihrem Hauptnahrungsmittel. Un trago, y un otro, y uno más … Brannte nicht so in der Kehle wie Slibowitz oder Korn, aber die Wirkung war gleich stark. Eigentlich paradox, dachte sie, die Stärke dieses Zuckerbrands besteht darin, dich weichzumachen, zu entspannen. Dich einzulullen, würde Leo eher sagen. Und er hatte es auch gesagt, später, oft genug. Natürlich nicht bei ihrer ersten Begegnung. Da hatte er ja selbst noch mitgemacht. Er, der ungelenke Intellektuelle, hatte leicht angetrunken seine Gliedmaßen geradezu orgiastisch verrenkt, sich rumbatisiert, wie sie es scherzhaft nannten, wenn man im Tanz eins wurde mit den fetzigen Rhythmen der Bongos und Congas, mit den präzise gesetzten Riffs der Blechfraktion, alles kam, ohne Umweg über den Kopf, aus dem Bauch, aus der Hüfte heraus, zentriert noch im heftigsten Gewippe, in sich ruhend trotz Lärm und Hitze und Feuchtigkeit. Sudando, bailando … So hatte sie Leo kennengelernt: mit kreisendem Becken, mit kreisender Rumflasche. Sogar geraucht hatte er in jener Nacht: eine Cohiba, fett, aber oho. Er, der passionierte Nichtraucher, mit der besten Zigarre der Welt. Bis ihm so schlecht davon wurde, dass er für eine halbe Stunde auf dem Klo verschwand. Als er zurückkam, hatte sie schon mehr als eine halbe Flasche intus.
„Sorry, ich bin es halt nicht gewöhnt.“
Ja, er war es wirklich nicht gewöhnt und zeigte auch nicht die geringste Neigung, es sich irgendwann einmal anzugewöhnen. Weder das Rauchen noch das Saufen. Ausnahmen bestätigten bei ihm tatsächlich die Regel, so einfach war das für einen wie ihn. Zur Feier eines singulären Events, okay, aber immer im Bewusstsein: Gift bleibt Gift bleibt Gift … Es veränderte, verwandelte sich nicht schleichend, wie bei ihr, in den großen Tröster, den großen Betäuber, den old demon alcohol. Drowning my sorrows in whisky and gin. So let’s all drink to the death of a clown …
Die guten alten Kinks hatten schon davor gewarnt, sogar die Stones, wer hatte es nicht. Nur echte Suchtler konnten sich zu dem Thema gediegen äußern und glaubhaft warnen. Aber ab einem gewissen Punkt verpuffen wundersamerweise alle Warnungen, werden zu milde belächelten Phrasen. Oder du registrierst sie nicht einmal mehr. Selbst wenn in fetten Lettern auf jeder Zigarettenpackung zu lesen ist, was dir bevorsteht – vorzeitiges Altern der Haut, Lungenkrebs, ein früher Tod … Irgendwann liest sich das wie die gesetzlich vorgeschriebenen Produktangaben auf einem Tetrapak mit Gemüsesaft: Deckt den Tagesbedarf an Kalzium und Magnesium. Enthält soundso viel Milligramm Vitamin B oder E 312 oder was auch immer. Es ist einem kein Achselzucken mehr wert. Und schon gar kein Innehalten.
Un trago. Ein Schluck. Ein einziges Stamperl. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass trago auch Trunksucht heißen kann.
Letzte Nacht hatte sie wieder zu viel von ihrem Weichmacher geschluckt. Hatte es genossen, wie der fesche Stehgeiger sich nach seinem Auftritt um sie kümmerte. Wieder einmal hatte sich alles weich und warm angefühlt, trotz der harten Holzbänke, auf denen sie hockten. Was eindeutig dem hochprozentigen Inländerrum zu verdanken war. Dass der nicht nur von Inländern geschätzt wurde, hatten schon vor Jahren die Schweden und Norweger bewiesen. Seinetwegen machten sie auf ihrer Urlaubsfahrt in den europäischen Süden extra einen Abstecher nach Österreich. Sechzig bis achtzig Prozent Alkohol, das konnte man bis vor Kurzem in ganz Skandinavien nicht auftreiben. Dank des Spirituosenschmuggels aus den baltischen Staaten war der österreichische Inländerrum aber heute kein Thema mehr für die süchtigen Nordmänner.
Sie wusste, dass sie dem Zeug verfallen war. Längst gab sie sich nicht mehr mit Bier oder Wein ab. Dabei hatten sie in den Zelten und bei den Ständen auf dem Festivalgelände einen tadellosen Riesling und einen noch besseren Veltliner zu bieten, gut gekühlt und mit einem pfeffrigen Abgang, der sogar Leo geschmeckt hätte. Aber mit dem Wein dauerte es entschieden zu lange, auf Touren zu kommen, und speziell den Weißen hatte sie auch nie so richtig vertragen. Nicht das Quantum, das sie benötigte, um denselben Effekt einzufahren wie mit dem hochprozentigen braunen Saft. Es soll Bier- und Weintypen geben – vielleicht war sie ja ein Rumtyp? Immerhin, sie steckte die Auswirkungen des Gesöffs überraschend gut weg. Zumindest die körperlichen.
Love me tender. Das stand eingraviert auf dem Flachmann, den sie letztes Jahr auf dem Naschmarkt gekauft und seither immer dabeihatte, versteckt im inneren Reißverschlussfach ihrer Handtasche. Es fiel ihr nicht schwer, ein Schwarzteeglas unbemerkt mit Rum aufzufüllen, sobald der Pegel unter eine gewisse Marke fiel. Trotz des wohligen Gefühls und obwohl der Fiedler ein netter Kerl war, der ihr nach dem Konzert sicher auch gerne privat aufgegeigt hätte, war es nicht zu mehr gekommen als zu ein bisschen Grapschen. Er hatte sie hinauf zur Pension Nachtruh begleiten dürfen, ein schnelles Busserl auf die Wange, ein kurzes Handgemenge, als er ihr die Bluse öffnen wollte, dann war sie in ihr Zimmer gestolpert und betäubt ins Bett gefallen.
Zum Glück hatte ihr Leo letzte Weihnachten diesen Wecker geschenkt, der sie aus jedem Koma holte. Nur dank der digitalen Sirene hatte sie den Termin mit Lotte Prinz nicht verpennt. Dabei hatte sie das Arbeitsfrühstück in weiser Voraussicht erst für zehn Uhr anberaumt.
„Passt das überhaupt noch so spät?“, hatte sie Martha, die jüngere der Tauner-Schwestern, gefragt, die auch schon mindestens siebzig Jahre auf dem Buckel haben musste. Martha hatte übrigens wirklich einen ausgeprägten Buckel und stieg reichlich krumm daher. Das Leben hart an der Grenze zu Tschechien war kein Honiglecken.
„Aber natürlich passt das, Fräulein Prohaska!“, hatte Martha Tauner versichert, „bei uns gibt es keine Essenszeiten wie in den Hotels. Wir sind jederzeit für unsere Gäst’ da.“
Den beiden Damen verzieh Frieda nahezu alles. Auch, dass sie von ihnen nach all den Jahren noch mit Fräulein angeredet wurde. Seit sie 2007 auf die Pension gestoßen war, hatte sie sich keine andere Bleibe mehr gesucht, wenn sie Anfang Juli alljährlich zum Schrammelklangfestival nach Litschau kam, zurückkehrte in ihre alte Waldviertler Heimat. Rosa und Martha hatten diese drei L zu bieten, die sie auszeichneten unter allen Weibern, wie es in der Bibel hieß, vor allem unter allen Pensionsbesitzerinnen: Sie waren liebenswürdig bis zum Gehtnichtmehr, locker im Umgang und – ledig. Alte Fräuleins, wie sie selber von sich sagten, und wenn auch äußerlich gezeichnet durch Falten, gichtige Hände und verkrümmte Rücken, waren sie doch niemals grantig oder gar schrullig wie manche ihrer Schicksalsgenossinnen. Nichts weniger als bewundernswert, wie Frieda fand. Deshalb quartierte sie sich auch jedes Jahr wieder in der Pension Nachtruh ein. Der günstige Preis für das saubere Einzelzimmer – kleiner Erker und Blick auf den Herrensee inklusive – war auch kein Nachteil.
Penzdorf, ihr Penzdorf, hatte sie trotz der Nähe zu Litschau nie mehr besucht. Nicht hart wie Kruppstahl, nein, hart wie P, so sagte man bei ihnen zu Hause und meinte das eigene Dorf damit. Was auch passte, denn die meisten Penzdorfer waren hart im Nehmen und noch härter im Austeilen, beinhart bis in die Weichteile hinein. Seit Mutter tot und das Elternhaus verkauft war, hatte sie es vermieden, diesen Boden zu betreten, wo sie immerhin das Licht der Welt erblickt hatte. Aber es war zu wenig Licht in dieser Welt gewesen, viel zu wenig, und der eisige böhmische Wind war durch den dicksten Lodenjanker gepfiffen bis hinein ins Herz. Ja, Penzdorf und Prohaska – das waren zwei P, die einfach nicht zusammenpassten. Aber sie erinnerte sich noch an jeden Baum dort, an jeden einzelnen Findling. Von denen gab es auch genug in der Gegend, in dieser Hinsicht waren die Penzdorfer wirklich steinreich. Eingeklemmt zwischen drei Hügeln lag das Dorf da, mit seinen granitenen Kobel- und Wackelsteinen in den moorigen Wiesen und Kornfeldern, die den Bauern die Bewirtschaftung erschwerten. Jene gewaltigen Felsbrocken, die seit dem Rückzug der Gletscher hier herumlagen, wenn nicht, wie ein Mythos besagte, noch viel länger, nämlich seit der Teufel höchstpersönlich in einem Tobsuchtsanfall gegen Gott und die Welt mit ihnen um sich geworfen hatte.
Ihre Abneigung gegen Penzdorf hatte zum Glück nicht auf andere Waldviertler Kaffs abgefärbt, und Litschau war ihr von allen das liebste. Dieses Mal war Frieda in der einmaligen Situation, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können, indem sie den Besuch des Schrammelklangfestivals mit Recherchen und Interviews zu ihrem neuen Projekt kombinierte. Nun ja, so ganz als ihr Projekt durfte sie es wohl nicht bezeichnen, wenn sie ehrlich sein wollte. Sie spielte schließlich nur eine Nebenrolle. Denn während sie in der nördlichsten Gemeinde Österreichs hockte, durfte sich Kollege Lussnig mit den internationalen Dimensionen des Themas befassen und in Indien herumkurven. Die klassische Arbeitsteilung eben, was Männlein und Weiblein betraf, da war die sonst so furchtbar progressive Redaktion von opinion um keinen Deut besser als konservative Blätter. Wobei sie sich in diesem Fall nicht einmal darüber beschwerte. Eine Auslandsreise, das war im Moment so ziemlich das Letzte, was sie anstrebte.
*
Lotte Prinz sah nicht gut aus, ganz und gar nicht. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, und obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, trotz der sommerlichen Wärme Hals und Dekolleté mit einem Seidentuch zu verhüllen, konnte man dort, wo das Tuch verrutscht war, scharlachrote Stellen erkennen.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte Frieda sie und streckte ihre Rechte aus.
Die Frau hatte ihrem Händedruck nichts entgegenzusetzen, auch sonst wirkte sie völlig kraftlos. Eine schwere Depression, lautete Friedas schnelle Diagnose. Aber vielleicht würde ja eine jede so aussehen, die dieselbe Leidensgeschichte durchlitten hatte.
„Weiß eh nicht, ob es eine gute Idee war, mich mit Ihnen zu treffen“, sagte Lotte Prinz, nahm dann aber doch auf der Eckbank Platz. Frieda schob ihr ein frisches Gedeck hinüber.
„Darf ich Sie zu einem Brunch einladen? Hier gibt es wirklich sehr leckere Kipferl.“
„Danke, aber ich hab schon gefrühstückt, um fünf. Ich steh ja praktisch jeden Tag so früh auf. Wenn man nicht schlafen kann vor lauter Jucken …“
Als müsste sie das Gesagte noch bestätigen, kratzte sie sich ausgiebig am Hals und an den Handgelenken. Erst jetzt bemerkte Frieda den Ausschlag an beiden Unterarmen. Man durfte davon ausgehen, dass auch die verhüllten Partien ihres Körpers ähnlich aussahen.
„Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich unser Gespräch aufnehmen“, sagte Frieda und griff nach ihrem Voicerekorder. „Natürlich würde ich das Aufgezeichnete nur anonymisiert verwenden.“
Lotte Prinz sprang auf und rammte dabei mit dem Knie das dicke Holz des Tischunterbaus.
„Auf keinen Fall“, rief sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, „davon war nie die Rede!“
„In Ordnung, kein Problem, Frau Prinz. Es hätte mir nur erspart, mir schriftliche Notizen zu machen. Aber es ist wirklich kein Problem.“
Sie schob das Aufnahmegerät hinüber, um zu demonstrieren, dass sie nicht daran dachte, im Geheimen mitzuschneiden.
Rosa Tauner steckte die Nase zur Tür herein und fragte, ob sie etwas bringen dürfe.
„Nur einen Kamillentee, bitte“, sagte Lotte Prinz.
„Bitte sehr, bitte gleich“, sagte Rosa und verschwand wieder.
„Könnten Sie mir eingangs vielleicht erzählen, wieso Sie diese Klinik überhaupt aufgesucht haben? Bis jetzt weiß ich ja nur, dass Sie seither ziemliche Probleme haben …“
Friedas Stimme klang mitfühlend. Sie hatte von Lotte Prinz’ Leiden durch Emma erfahren und sofort telefonisch Kontakt zu der Litschauerin aufgenommen. Nachdem Dr. Weinzierl, der Chef der Ayurvedaklinik in Adang, Friedas Bitte um ein Interview und eine Besichtigung der Klinik brüsk abgelehnt und sie faktisch hinausgeschmissen hatte, waren Gespräche mit Betroffenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gerückt.






