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David Kadel: Eigentlich kurios, wenn man dich als Feierbiest kennt. Okay, aber das sagt auch viel über das Momentum und den Wert dieses Titels aus. Damals, bei der Meister-Feier mit dem BVB, konnte man dich während der Busfahrt durch Dortmund singen hören: „Rubbel die Katz, Rubbel die Katz am Borsigplatz“. Was hast du auf dem Liverpool-Bus gesungen?
Jürgen Klopp: (lacht lange und holt tief Luft zum Gesang) „We've conquered all of Europe. We're never gonna stop. Allez allez allez!“ – und das auf der drei bis vier Stunden dauernden Fahrt durch ganz Liverpool gefühlte 25.000 Mal. Das war schon außergewöhnlich. Du guckst in die Augen der Leute: 180-Kilo-Männer hauen sich auf die Brust, schauen dich an und schreien: „Ich liebe dich.“ Das ist der Hammer. Da waren definitiv über eine Millionen Leute. Absolut verrückt, was da los war.

Biggest football moment in life
David Kadel: Unfassbar, was der Fußball mit Menschen macht.
Jürgen Klopp: Du sagst es. Wir alle wissen, wie viel Energie der Fußball manchmal verleihen kann, weil es plötzlich diesen Glauben gibt und eine Perspektive, siehe Barcelona. Der reine Fußball ist ja gar nicht das Entscheidende. Es ist viel eher das Gefühl, dass wir das gemeinsam machen und erleben werden. Dass wir alle zusammen diese Leidenschaft haben. Barcelona 4:0 zu schlagen wäre ohne diese fantastischen Leute gar nicht möglich gewesen. Deshalb durften eben auch alle stolz darauf sein. Weil an diesem Tag alle Liverpooler auf der ganzen Welt an uns geglaubt haben, hätten wir damit jeden Gegner aus dem Stadion gefegt – so spürbar war dieser reale Glaube. Aber es ist natürlich nicht immer so einfach. Da steckt viel Vertrauen und Leidenschaft dahinter. Und das alles, Barcelona, Tottenham, die Trophäe, und diese riesige Feier gemeinsam mit allen auf den Straßen Liverpools, das war schon gigantisch. Und nach einigen Stunden, auf dem Bus oben mit den Spielern, waren wir nach einer Kurve alle sicher: „Das war’s jetzt, mehr geht nicht!“ Und dann fährst du um die nächste Kurve, und dann geht’s eigentlich erst richtig los, weil da noch mal eine halbe Millionen Leute auf uns warten. Das war der absolute Hammer. Und ich wusste gar nicht, dass Menschen einen Lied-Ton so lange halten können. Großer Moment in meinem Leben. Das war stark.
David Kadel: Gehen wir mal kurz in dieses Jahrhundert-Halbfinale gegen Barcelona. Ihr verliert das Hinspiel 0:3 und weltweit haben wahrscheinlich nicht viele Experten einen Pfennig auf euch gesetzt, dass ihr das gegen Messi & Co. noch drehen könntet. Und dann steht es in Anfield im Rückspiel plötzlich 3:0 für euch, „die Glaubenden“. Jetzt kommt dieser unfassbare Geniestreich von Trent Alexander-Arnold, mit dem abgefahrensten Eckball aller Zeiten. Wie hast du das Tor erlebt?
Jürgen Klopp: Live gar nicht. (Beide lachen!!) Ich hatte mich umgedreht, stand mit dem Rücken zum Spielfeld und sprach mit dem Co-Trainer. Dann erkenne ich in seinen Augen, dass da was passiert, drehe mich um und sehe, wie der Ball ins Tor fliegt. Ich drehe mich wieder um und ich höre: „What happened?“ Keine Ahnung! Das war wirklich ziemlich verrückt.
David Kadel: Hat dieser Treffer das Potenzial zum frechsten Tor aller Zeiten?
Jürgen Klopp: Ja klar, das war ja das allererste Mal in der Geschichte der Champions League. Das ist ja so vorher noch nie passiert, dass zwei Spieler so hellwach sind wie Divock und Trent und alle anderen schlafen. Das ist schon sensationell! Wir feiern das heute noch in Liverpool (lacht frech).
David Kadel: Ich bin öfter in den Nachwuchs-Leistungszentren unterwegs mit meinen Vorträgen für die Profis von morgen und erzähle dabei auch oft von der „Klopp’schen Art, Menschen zu führen“. Zuletzt in Kaiserslautern oder Werder Bremen. Ich brauche neuen Stoff vom Meister – was würdest du den Nachwuchs-Leistungs-Kids von heute sagen in Sachen Entschlossenheit? Das ist ja was ganz Wichtiges, um im Leben etwas zu erreichen. Wie beweist man als 15-/16-Jähriger seine Entschlossenheit?
Jürgen Klopp: Was mir ganz häufig auffällt, ist, dass im Umfeld der Jungs das Maß der Verbissenheit zu groß ist. Die Jugendzeit und Ausbildungszeit ist die Zeit, in der jeder lernen muss. Das Coole daran ist, dass man normalerweise noch sehr weit davon entfernt ist, Verantwortung übernehmen zu müssen. Da ist alles immer noch spielerisch.
Aber das ist auch die Zeit, wo man sich langsam vorbereiten muss für den Rest seines Lebens. In dem Fall: die Fußballkarriere. Da kann man ein bisschen gesegnet sein mit Talent, aber es geht darum, aus dem, was man bekommen hat, das Allerallerbeste zu machen. Wir schauen alle auf die Großen: Ronaldo, Messi ... – die Namen dieser Welt. Die haben ein bisschen mehr Talent mitbekommen als andere, aber darum geht es überhaupt gar nicht. In Liverpool habe ich ganz viele Spieler, die einen ganz anderen Weg gehen mussten und denen nichts zugeflogen ist. Jungs, die nicht vom ersten Tag an gemerkt haben: „Oh, ich bin schneller und besser als andere.“
Spieler, die sich jeden Tag beweisen mussten. Und so hat jeder seinen eigenen Weg. „Robbo“ Robertson kam von ganz unten aus Schottland und hat sich bei uns ganz schnell überragend entwickelt, weil er die nötige Bereitschaft und Demut mitgebracht hat zum Lernen – die wichtigste Einstellung überhaupt im Fußball.
David Kadel: Wie wird ein Spieler innerlich stark und total entschlossen, auch in heftigen Widerständen seinen Weg zu gehen?
Jürgen Klopp: Entschlossenheit heißt für mich, diesen Weg, der vor mir liegt, konsequent zu gehen, das wirklich durchzuziehen und sich nicht ablenken zu lassen. Dabei musst du immer auch mit Nackenschlägen rechnen, damit du nicht von ihnen überrascht wirst. Jedes Problem, das du schon im Vorfeld erkennst, wirst du souveräner handhaben. Es gibt keine Entwicklung, die immer nur stetig bergauf geht. Zur Entwicklung gehören auch Brüche. Von Brüchen nicht geschockt zu sein, sondern zu wissen, dass sie zur Entwicklung dazugehören – dieses Denken brauchst du heute, um als Profi erfolgreich zu sein.
Einer, der es ganz nach oben schaffen will, der muss eins verstehen: Auch wenn du das Problem noch gar nicht hast, kannst du dich jetzt schon mit der Lösung des Problems beschäftigen. Damit du dich in schweren Situationen dann eben nicht aus der Bahn werfen lässt, dass du dranbleibst, dass du dich nicht vergleichst mit anderen. Sondern, dass du dir selbst immer wieder das beste Training zukommen lässt.

Tuchel, Heidel und Klopp beim Abschied von 05-Legende Noveski
David Kadel: Welche Rolle spielt der Charakter, die Persönlichkeit im Fußball?
Jürgen Klopp: Wahrscheinlich die größte, denn kicken können ja viele. Aber da gibt es nun mal die Momente, wenn du alleine bist mit dir, da ist dann deine Persönlichkeit gefragt und dass du dich weiterentwickelst als Charakter, als Typ. Das hilft dir dann auf dem Platz und auch außerhalb, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
David Kadel: Wie wichtig sind Vorbilder und das Lernen von den Großen?
Jürgen Klopp: Da gibt es ein Missverständnis heutzutage. Viele Fußballer schauen sich die Spiele unter falschen Voraussetzungen an. Sie lernen dadurch nicht das Spiel besser kennen, sondern gucken sich Tricks von Ronaldo und Messi ab. Der Unterschied zwischen einem sehr guten Spieler und einem guten Spieler ist die Häufigkeit der richtigen Entscheidungen im Spiel. Die Wahrscheinlichkeit, richtige Entscheidungen im Spiel zu treffen, hängt davon ab, wie gut ich darauf vorbereitet bin. Das heißt zum Beispiel: Wie kann ich das Spielfeld einschätzen? Wenn ich fünf Gegenspieler um mich herum habe, gibt es Menschen, die denken darüber nach zu dribbeln. Das macht aber keinen Sinn. Diese Spiel-Intelligenz entwickelt sich mit der Zeit. Es geht im Grunde darum, diese Entwicklungszeit so kurz wie möglich zu halten. Dann ist man soweit für das große Spiel beim Erwachsenen-Fußball.
David Kadel: Dieses Buch heißt ja „Was macht dich stark?“ Aber das Gegenteil zu verstehen, „Was macht dich schwach?“, ist auch wichtig im Leben von jungen Profis, oder? Was ist in der Entwicklung von jungen Menschen der größte Feind?
Jürgen Klopp: Ungeduld. Das ist definitiv das größte Problem. Jeder sollte sich bewusst sein darüber: In der Bundesliga zu spielen, ist nur etwas für Ausnahmetalente. Wenn wir alle direkt ein Ausnahmetalent sein wollen, dann wird es schwierig. Sehr schwierig. Aber wenn du unbedingt etwas Außergewöhnliches erreichen willst, dann musst du auch bereit sein, diese nötigen, außergewöhnlichen Schritte zu gehen. Das ist das Schwierigste überhaupt! Doch dein größter Feind ist die eigene Ungeduld. Aber es ist unsere Gesellschaft, die diese Ungeduld schürt. Du musst mit 18/19 Jahren schon fertig sein. Das gibt es in keinem anderen Bereich in unserem Leben außer im Fußball.