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Hajo nickte und wollte, als sie einen kleinen Feldweg in Richtung Wald liefen, wissen: „Hast du im Wagen eigentlich irgendwelche Papiere gefunden?“
Carsten schüttelte den Kopf.
„Nein, nur ein Smartphone, aber das ist gesperrt. Da müssen die Kollegen ran.“ Dann zückte er sein Handy, nahm einen Notizblock aus der Tasche und wählte eine Nummer.
„Wir sind jetzt hier im Wald unterwegs, rufen Sie Ihre Leute zurück, damit die uns nicht abknallen.“ Kurz lauschte er auf die Antwort und meinte dann: „Ihr Wort in deren Gehörgang. Bis später, wir kommen noch bei Ihnen vorbei.“
Kurz darauf war ein lang gezogener Pfiff zu hören.
„Geht doch!“, sagte Carsten knapp und zufrieden.
Sie streiften eine Weile durch die Gegend, nahmen dann aber den Weg zurück zum verlassenen Fahrzeug, als Carstens Handy klingelte.
Es war der Kollege vom Präsidium, den er gebeten hatte, den Halter des Wagens zu ermitteln.
„Es handelt sich um das Fahrzeug eines Pharmaunternehmens aus Hannover. Die Firma heißt IMG und handelt mit Medikamenten. Wie es aussieht, gibt es auch noch Tochterfirmen, soll ich da weiter …?“
„Ja!“, unterbrach ihn Carsten. „Klemm dich dahinter und schick mir bitte die Nummer dieser IMG aufs Handy, ich rufe dort an. Danke dir.“
Carsten wischte über das Display und steckte sein Telefon weg.
Als sie wieder beim verlassenen Fahrzeug ankamen, wollte Hajo von den Spurensuchern gleich wissen, ob man schon Neuigkeiten für sie habe.
„Nein, nicht wirklich“, bekam er zur Antwort. „Was ich bestätigen kann, ist, dass die klebrige Masse am Lenkrad Blut ist. Blut, vermischt mit Haaren. Ob die Pfotenabdrücke vom Hund oder Wolf sind, kann ich nicht sagen, noch nicht. Allerdings – von einer Katze sind sie nicht.“
„Fingerabdrücke?“
„Später!“
„Okay!“, brummte Carsten und drehte sich zu Hajo um.
„Schau mal, der Schäfer ist noch da, lass uns hingehen. Vielleicht ist ihm ja noch etwas eingefallen.“
Kurz darauf meldete sein Handy eine eingehende Nachricht. Man hatte ihm die Telefonnummer der IMG geschickt.
Er blieb stehen und schlug vor: „Hajo, geh du schon mal vor, ich setze mich in mein Auto und rufe die Firma an, zu der dieser verlassene Wagen gehört. Die müssen mir ja sagen können, wer damit unterwegs ist oder war.“
Hajo nickte und setzte seinen Weg fort.
Nachdem er mehrere Versuche unternommen hatte und er es jedes Mal sehr lange hatte klingeln lassen, gab Carsten auf.
„Klar!“, murmelte er, „wir haben Samstag, da geht heute keiner ran.“
Nochmals wählte er die Nummer des Kollegen in Wittmund und bat ihn, jemanden bei der IMG ausfindig zu machen, der auch am Wochenende erreichbar war.
„Die können ja nicht, nur weil heute Samstag ist ‚toter Mann‘ spielen. Versuche dein Glück, es wäre gut, wenn das klappen würde.“
Als er seinen Wagen verlassen wollte, kam Hajo auf ihn zu und meinte kopfschüttelnd:
„Schaut wirklich grausam aus; das tote Schaf, meine ich.“
„Trotzdem kein Grund zum Rumballern, obwohl, wenn ich an deren Stelle wär, ich weiß nicht, was …“
„Sprich nicht weiter, Kollege, alles was du sagst, kann gegen dich … du weißt.“
Carsten musste lachen.
„Ich höre noch mal bei den Spurensuchern nach, ob sich was Neues ergeben hat, danach fahren wir zurück. Im Moment gibt es für uns hier nichts zu tun.“
„Jow!“, brummte Hajo, „muss ja auch nicht wirklich was passiert sein, oder?“
Carsten verstand nicht.
„Na, vielleicht hatte jemand ein paar Schluck oder ein Bier zu viel und hat deshalb das Auto hier abgestellt“, versuchte er zu erklären, glaubte aber selbst nicht wirklich daran, wie Carsten an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte.
Trotzdem führte der Hajos Gedanken fort.
„Und lässt beide Türen weit offen, medizinische Ware im Kofferraum, haut sich den Kopf am Lenkrad blutig, reißt sich ein Büschel Haare aus und der Schlüssel steckt auch? Jow, da muss jemand aber etliche Schluck zu viel gehabt haben.“
Hajo lachte. „Stimmt, war ein blöder Gedanke. Lass uns fahren.“
Da sie beide mit ihren Fahrzeugen vor Ort waren, vereinbarten die Kommissare, sich anschließend im Büro zu treffen.
Hajo hob grüßend die Hand und ging zu seinem Wagen, Carsten stieg ebenfalls ein und fuhr davon.
Unterwegs fiel ihm ein, dass er eigentlich um zehn Uhr einen Termin hatte. Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett entlockte ihm einen Fluch. Er trat das Gaspedal durch.
„Scheiß-Doppeljob, es wird wirklich Zeit, dass Tomke wiederkommt.“
***
Die hatte vor einiger Zeit darauf bestanden, eine Auszeit, ein Sabbatjahr zu nehmen und dies nach einigen Knüppeln, die sie wegräumen musste, auch genehmigt bekommen.
Es war ein harter Kampf gewesen, bis sie sich mit ihrem Chef, Polizeirat Christoph Gerdes, der sich inzwischen im Ruhestand befand, und der schwerfälligen Obrigkeit geeinigt hatte. Ein halbes Jahr wurde ihr schlussendlich zugestanden.
Dafür musste die Kriminalhauptkommissarin einen Kompromiss eingehen, der ihr damals sehr schwergefallen war, und sie haderte bis heute damit, wie Carsten wusste, ob sie die Entscheidung nicht doch bereuen würde.
Wie man Tomke und Carsten dann mitgeteilt hatte, sollte es für eine Testphase eine Vereinbarung geben.
Die Stelle von Gerdes als Polizeirat musste besetzt werden. Das Arrangement lautete:
Da weder Tomke noch Carsten dazu bereit waren, den Posten zu übernehmen, sollten sie beide sich diese Stelle teilen. Einen fremden Vorgesetzten, den sie nicht kannten und der vielleicht nicht zu ihnen passte, lehnte Tomke heftig ab, und so gingen sie diesen Kompromiss ein. Carsten hatte damals gemeint: „Pass auf, die finden an dieser Regelung gefallen. Zum einen spart es Personal und Kosten, zum anderen wird es mehr Kollegen geben, die sich auf eine solche Regelung einlassen werden. Die Kombination Schreibtisch und Straße ist doch wirklich interessant. Interessanter jedenfalls, als ausschließlich zum Sesselpupser zu werden.“
Er wie auch Tomke waren nicht bereit, das Amt des Polizeirates oder der Rätin allein zu übernehmen. Sie wollten ihre Arbeit vor Ort und auf der Straße, wie sie es nannten, nicht aufgeben. Aber so … Nun teilten sie sich die Arbeit fifty-fifty, allerdings erst, wenn Tomke von ihrem Sabbathalbjahr zurück war. Bis dahin lag diese Doppelbelastung auf Carsten. Allerdings hatte er mit seiner Kollegin vereinbart, sie über besondere Fälle zu informieren. So blieb sie auf dem Laufenden.
Über all das nachzudenken, war jetzt jedoch müßig, er musste den Bürokram allein wuppen – und die Ermittlungsarbeit gemeinsam mit Hajo. Obendrein war ihm für heute eine Studentin der Polizeihochschule für ein sechsmonatiges Praktikum angekündigt worden. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Ausgerechnet heute und außerdem noch an einem Samstag. Ob diese Kommissaranwärterin eher Hilfe oder mehr Belastung sein würde? Carsten überlegte, wie ihr Name war, aber er fiel ihm partout nicht ein.
Als er das Ortsschild von Wittmund passierte, schaute Carsten erneut auf die Uhr. Kurz nach zehn. Na, ein paar Minuten würde die junge Dame noch warten müssen.
Gefangen
Samstag, früher Morgen
Wieder hatte sie für ein paar Minuten geschlafen, oder doch länger? Jana wusste es nicht, und im Grunde war es auch egal. Sie wollte raus. Sie musste raus aus ihrem Gefängnis, lange würde sie es nicht mehr aushalten können. Immer wieder schrubbte sie mit dem Gesicht über den Boden und endlich löste sich der Klebestreifen über ihrem Mund. Endlich! Jana atmete tief durch, fast hektisch, als hätte sie Angst, nie mehr Luft zu bekommen und war knapp davor, zu hyperventilieren.
„Ich muss um Hilfe rufen, muss schreien, laut, damit man mich hört. Sicher hört mich jemand, oder?“
Sie setzte zu einem „Hilfe“ an, doch aus ihrer Kehle kam kein Ton. Sie war trocken und rau, wie ausgedörrt. Mund und Gesicht schmerzten heftig. Jana versuchte zu schlucken, aber da war nichts, was sie schlucken könnte, ihr Mund total ausgetrocknet.
„Hilfe!“, krächzte sie nochmals, „Hilfe!“ Aber wer sollte das hören?
Doch dann vernahm sie erneut etwas von draußen. Sie konnte das Geräusch nicht zuordnen, es hörte sich anders an als vor einiger Zeit. Was war das nur? Es dauerte einen Moment, doch dann …
Ein Ticken konnte sie vernehmen, so wie bei einer Uhr, einem Wecker. Sie lauschte weiter. Tick, tack, tick, tack.
Ja, eine Uhr, ein Wecker, dessen Sekundenzeiger …
Scheiße!, dachte sie und fürchtete: „Das ist eine Zeitschaltuhr, man hat an meinem Gefängnis eine Bombe angebracht. Sie wird sicher jeden Moment in die Luft gehen.“
Erfasst von einer Panikattacke, wand die junge Frau sich hin und her. Jana schrie, doch noch immer kam kaum ein Laut aus ihrer Kehle. „Hilfe, ich will hier raus“, krächzte sie, hämmerte so lange mit dem Kopf gegen die Decke ihrer Behausung, bis sie spürte, dass ein warmes Rinnsal von ihrer Stirn herablief.
Tick, tack, tick, tack, kam es von draußen.
Es war aussichtslos. Niemand schien da zu sein, sie hatte keine Chance, gleich würde es hier heftig knallen.
Aber das höre ich nicht mehr, hoffte sie. Tick, tack, tick, tack. Jana schloss resigniert die Augen und wartete auf den Tod. Gleichzeitig ging ihr durch den Kopf, was der Dieb wohl mit dem Inhalt der beiden Koffer machen würde. Wenn er Glück hatte, würde alles gutgehen, aber wenn nicht … Die Chance stand fünfzig zu fünfzig. Nein, dreiunddreißigkommadrei zu dreiunddreißigkommadrei zu dreiunddreißigkommadrei …
Jana lachte gereizt auf. Galgenhumor, wusste sie.
Alle drei Glasflaschen, gut in Styropor verpackt, beinhalteten eine gelartige Flüssigkeit. Alle drei konnten Leben bringen. Bei einer handelte es sich um den Samen eines preisgekrönten Zuchthengstes, der im Besitz des Unternehmens war, bei dem sie arbeitete. Die anderen …, ja, die anderen waren nicht ganz so prämiert. Wieder lachte sie auf.
Dann war da noch der zweite Koffer. Jana wusste seit einiger Zeit, dass bei der IMG neben medizinischen Tierprodukten auch Wundermittel in Sachen „Lass die Pferde schneller laufen“ entwickelt und getestet wurden. Nur zu Testzwecken, hieß es dort. Auch Jonas hatte so etwas einmal erwähnt. Sie vermutete, nein, sie war sich ganz sicher, dass sich dieses Mittel im zweiten Koffer befand.
Nun, wenn man das Sperma des Superhengstes mit dem der beiden Zossen vertauschen würde, wäre ein Dopingmittel sicher hilfreich. Aber so war das sicher nicht geplant.
Jana musste wieder kurz lachen und wunderte sich darüber. Wieso ist mir in meiner Situation zum Lachen? Tick, tack, tick, tack, hörte sie von draußen.
Wieder kehrten ihre Gedanken zu der kostbaren Lieferung zurück. „Geheim“, hatte ihr Chef zu ihr gesagt. „Jana, über diese beiden Koffer darfst du mit niemandem reden. Halte dich an die Anweisung, merke dir den Code und vergiss das Ganze, wenn du sie abgeliefert hast. Verstanden?“ Jana hatte nur genickt. Warum hatte man ausgerechnet sie damit beauftragt, die Ware auszuliefern? Wirklich nur, weil die Zustellung auf ihrem Weg lag, oder eher, weil eine kleine Pharmareferentin hier weniger auffallen würde? Steckte vielleicht sogar Jonas dahinter? Nein, dazu war er nicht clever genug. Obwohl … Oder war es ein abgekartetes Spiel, weil sie leichter zu überwältigen war? Klar! Woher sonst wusste man von ihrer Fracht?
Gab es einen Verräter in der Firma? Jonas? Der würde für Geld doch alles machen.
Der Code war klar und lautete: „In der Mitte liegt die Kraft!“, was wohl bedeutete, dass der mittlere Glasbehälter der richtige sein musste. Das war aber nun egal, und sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, sie hatte andere Sorgen.
Tick, tack, tick, tack, vernahm sie wieder und überlegte:
Kann man mit rückwärts gefesselten Händen beten?
Lieber Gott …, begann sie.
Tick, tack, tick, tack.
Na, dann flieg schon in die Luft, ich kann es sowieso nicht ändern! Jana war verzweifelt.
Tick, tack, tick, tack.
Gedanken flogen wie Geschosse durch ihren Kopf.
Erinnerungen, Worte, Töne.
Und wieder: Tick, tack, tick, tack.
Der alte Song vom Vorabend trällerte dazwischen:
♫ Rada rada radadadada, rada rada radadadada ♫
Und dann wieder:
Tick, tack, tick, tack!
Jemand flüsterte ihr ins Ohr:
„Jana, sprich mit niemandem darüber.“
„Jana, geheime Fracht.“
„In der Mitte liegt die …“
Und dann …
Klack machte es draußen und danach herrschte Stille, tödliche Stille.
In der Nacht zuvor …
Die Lieferung
Es war ganz früh am Morgen und noch dunkel, als Dimitri auf dem Hof von Ole van Leeuwen vorfuhr. Er parkte, wie man ihn vorab angewiesen hatte, vor der ersten Stallung, blinkte zweimal auf und schaltete Motor und Licht aus. Das war das vereinbarte Zeichen.
Nach ein paar Sekunden ging die Stalltür auf, er wurde also schon erwartet.
Dimitri tastete nach den beiden Koffern neben sich auf dem Sitz und stieg aus. Im leichten Licht des Mondes, unterstützt von einem düsteren Wandlicht an der Scheune, kam ein Mann mit Bart und Sonnenbrille auf ihn zu. In der Hand trug er eine Taschenlampe und blieb in ein paar Metern Entfernung stehen. Dimitri bemerkte, dass der Mann nicht allein war. Ganz hinten, nahe der Stallung, bewegte sich etwas. Der Russe griff mit einer Hand nach seiner Waffe in der Jackentasche und beschloss:
„Wenn die versuchen, mich zu verarschen, knall ich sie ab.“
Doch die Übergabe erfolgte reibungslos.
„Wo ist die Ware?“, kam eine Stimme aus der Dunkelheit.
„Im Wagen.“
„Zwei Pakete?“
„Nein, zwei Koffer!“
Sein Gegenüber leuchtete Richtung Fahrzeug.
„Alles da“, setzte Dimitri nach. Der Mann griff in seine Jackentasche. Dimitri zuckte zusammen und fasste erneut an seine Waffe, doch der Mann zog einen Umschlag heraus. Dimitri grinste leicht. Er hat mein Geld, gut.
Der Mann mit Bart fragte: „Sag mir, was hast du für mich!“
Der Kurier antwortete: „Viele Nachkommen!“ Das war das vereinbarte Losungswort und Kennzeichen dafür, dass sie hier verabredet waren.
Dimitri freute sich über den angenehmen Auftrag mit leicht verdientem Geld. Er nahm zwei kleine Schlüssel, die an einem metallenen Ring hingen, aus der Jackentasche und warf sie dem Bärtigen zu. Der fing sie trotz der Dunkelheit sicher auf.
Der Bärtige legte den Umschlag mit dem Geld auf die Kühlerhaube des Fahrzeuges und trat ein paar Schritte zurück. Er war zufrieden. Nun hatte er alles, was er brauchte.
Dimitri ebenfalls. Bisher war die ganze Sache reibungslos verlaufen. Die Frau in der Kiste interessierte ihn nun nicht mehr, sie war dort deponiert, falls hier etwas schieflaufen sollte. Doch jetzt würde er über die niederländische Grenze verschwinden, und das war gut so.
Der Umschlag, den er von der Kühlerhaube nahm, war dünn, aber zehntausend Euro trugen nicht wirklich auf. Nachzählen konnte er in der Dunkelheit nicht, das würde er später machen und zurückkommen, wenn man ihn hier beschissen hatte.
Wortlos drehte sich Dimitri um und ging zur Fahrertür. Der Bärtige ging zur anderen Seite des Fahrzeuges und öffnete die Beifahrertür. Dort auf dem Sitz standen die beiden angekündigten Koffer. Der Bärtige hob wie zum Gruße den Arm, Dimitri grüßte zurück, doch es war sein letzter Gruß. Den roten Punkt, der durch die dunkle Nacht flog und die Scheibe der Fahrertür streifte, sah er nicht. Bevor das dumpfe Geräusch des Schusses an sein Ohr drang, traf ihn die Kugel. Er fiel einfach um.
Der Mann mit Bart hob die beiden Koffer aus dem Wagen, lief zur Fahrertür, bückte sich wortlos nach dem Umschlag und schob ihn in seine Jackentasche. Diese unnütze Geldausgabe hatte er sich nun erspart. Den Rest würde Peer übernehmen, Peer und die Schweine. Ole van Leeuwen verschwand in der Stallung, nicht ohne dem Schützen ein kurzes Nicken zuzuwerfen. Der verstand. Die Leiche musste beseitigt werden.
Der Pferdestall war hell erleuchtet, und der Bärtige wurde schon erwartet.
Kurz darauf im Stall
Künstliche Befruchtung?
An das Sperma eines solch wertvollen Pferdes heranzukommen, war nicht einfach. Weder auf dem regulären Weg noch auf dem Schwarzmarkt. Die Papiere entsprechend zu fälschen dagegen das wesentlich kleinere Problem. Außerdem hatte er dafür seine Leute. Die Saat des Wunderhengstes hatte ihn sehr viel Geld gekostet. Sie allerdings regulär zu besorgen, wäre viel teurer, ja im Grunde unerschwinglich gewesen.
Es hatte ihn auch nicht interessiert, ob es Kollateralschäden geben würde. Der Russe, den sein Helfer nun verschwinden ließ, gehörte dazu. Ole brauchte keine Zeugen, aber er brauchte Geld. Jeder Euro zählte, und den Russen zu bezahlen, hatte er von Anfang an nicht vorgehabt. Wie dieser an die Ware herangekommen war, interessierte ihn ebenfalls nicht.
Der Deal war gelungen, sein Mann bei der IMG hatte nicht zu viel versprochen, als er ihm zusagte, dass alles reibungslos ablaufe. Die Verbindung zwischen dem Überbringer und seinem Gestüt war nun unterbrochen, konnte nicht mehr nachvollzogen werden. Ole wusste, dass man den Typen nie finden würde. So wie andere vor ihm auch nicht.
Wichtig war die Zucht und sonst nichts. Es stand viel auf dem Spiel, aber der Erfolg würde ihm recht geben.
Für Ole van Leeuwen zählte im Moment nichts anderes als seine Pferde und der Erfolg, den er damit erreichen wollte. Ole van Leeuwen – Züchter der weltbesten Pferde! So sollte es in der Fachwelt heißen. Das, nur das zählte.
Er hatte in der Branche allerdings keinen Namen, somit kein Renommee. Hatte keine Siege, keine Preisgelder vorzuweisen. Noch nicht, aber das sollte nun anders werden. Das Sperma des Wunderhengstes würde viele gute Rennpferde hervorbringen und das Dopingmittel in der Zwischenzeit gutes Geld einbringen. So war der Plan. Bis Ende des nächsten Jahres konnte er das Gestüt noch halten, dann aber würden ihm seine Geldgeber den Geldhahn zudrehen. Aber so weit wird es nicht kommen, war der Mann sich sicher. Jetzt nicht mehr.
Sollen sie zuerst über Zuchterfolge im nächsten Frühjahr auf mich aufmerksam werden. Die Rennerfolge durch das Wundersperma würden sich dann anschließen. Ein wirklich guter Plan, wie Ole fand.
Nun musste er sich aber beeilen. Die ersten drei ausgesuchten Stuten standen bereit.
Bei den Boxen wartete schon Hendrik. Doktor Hendrik Schuster, sein alter Schulkollege und inzwischen Tierarzt hier in der Gegend, war ihm verpflichtet und würde es immer bleiben. Ole war sich sicher, dass der niemals reden würde. Niemals! Ole grinste.
Er legte die beiden Metallkoffer auf einen kleinen Sockel neben der Box von Saskia, einer seiner Prachtstuten. Sie kam zuerst an die Reihe.
„Was sagt die Temperatur?“, fragte er zu Hendrik Schuster hinüber, der mit einer Mund-Nasen-Maske geschützt auf ihn wartete. Der zeigte einen erhobenen Daumen und meinte weiter: „Wir können nun langsam loslegen, die anderen Mädels sind auch so weit. Ein bisschen Stimulation noch und es kann losgehen. Also mach schon mal auf die Kiste.“
Ole nickte.
Ja, es wurde nun wirklich Zeit, dass sie die Stuten beglückten, grinste er in sich hinein.
Die Zeit wurde knapp, sie wollten keine Stunde vergeuden. Die Organisation dieses Coups hatte mehr Zeit erfordert als gedacht.
Er nahm die kleinen Kofferschlüssel aus der Brusttasche seiner Jacke und öffnete beide Koffer. Darin befand sich jeweils eine Styroporkiste.
Ole zog sein Taschenmesser hervor und ließ eine Klinge herausspringen. Vorsichtig fuhr er damit in das Klebeband der Verpackung, ritzte auch die seitlichen Flächen auf und öffnete den Deckel. Zwischen vielen Styroporschnipseln kamen nun kleine Verpackungen zum Vorschein, in denen winzige Glasampullen steckten.
„Falsche Kiste!“, schimpfte Ole, „das sind die Beschleuniger.“
Er nahm die andere zur Hand und öffnete nun auch diese. Vorsichtig griff er hinein, hob eine weitere Styroporverpackung heraus. Diese Kiste war seitlich verklebt, wieder nahm er sein Messer zu Hilfe und hob den Deckel ab.
Sein Blick fiel auf drei Glasbehälter, rechts und links mit Kühlpads verklemmt.
„Drei?“ Ole schaute erstaunt zum Tierarzt. Der zuckte mit den Schultern.
„Egal, war ja auch teuer genug und der wertvolle Hengst wohl sehr emsig.“ Er setzte ein meckerndes Lachen hinterher.
Dann zog er eine Flasche heraus und las, was auf dem Aufkleber stand, griff nach der nächsten und hektisch auch nach der dritten Glasflasche.
„Scheiße, gottverdammte, elendige Scheiße. Die haben uns reingelegt!“
„Was meinst du?“ Der Tierarzt verstand nicht.
„Schau es dir an. Elendiger Mist, das gibt es doch nicht. Hier steht nicht, welcher Inhalt vom Wunderhengst stammt.“
Er reichte Hendrik eine der Flaschen und griff nach dem Zettel, der seitlich im Paket steckte.
Neben ihm fluchte nun auch der Tierarzt laut und griff nach den beiden anderen Glasbehältern. Auf jeder dieser Flaschen klebte ein Etikett mit einer Zahl und der Aufschrift: Zosse oder Wunderhengst?
„Sauber“, meinte er. „Das nenne ich mal fein ausgetrickst.“
„Halt’s Maul, Idiot. Solche Sprüche kann ich nicht brauchen, und nimm endlich die bekloppte Maske aus dem Gesicht. Tu lieber was.“ Er hielt ihm das Schreiben hin.
„Lies!“, schrie Ole. „Nun lies doch endlich! Kannst du was machen? Vielleicht untersuchen und feststellen, welches das richtige Sperma ist?“
Doktor Hendrik Schuster las laut vor und endete kopfschüttelnd mit den Worten: „Sicher haben Sie Verständnis für den eingebauten Sicherungscode. Welches die wertvolle Füllung ist, Nummer 1, 2 oder 3, sagt Ihnen unsere Überbringerin!“
Die beiden Männer schauten sich an.
„Wie bitte? Überbringerin? Woher hat dein Bote aus dem Land der kalten Nächte die Pakete? Hat er dir das gesagt?“, wollte Hendrik wissen.
„Nein!“, murmelte Ole. „Sei still, ich muss nachdenken – Überbringerin?“, fragte er sich auch.
Nach einer Weile gespenstischen Schweigens, selbst von den Pferden war kein Laut zu hören, fragte Ole nochmals: „Kannst du feststellen, welches Sperma von dem Zuchthengst stammt?“
„Nein, wie denn? Ich bräuchte Vergleichsmaterial und im Übrigen habe ich in meiner Praxis gar nicht die Möglichkeit für solche Untersuchungen.“
Wieder herrschte Schweigen.
„Welche Möglichkeit haben wir?“ Ole schaute zu Hendrik.
„Russisch Roulette wäre eine davon“, meinte der. „Mit viel Glück hast du beim ersten Mal einen Treffer.“
„Quatsch. Woher weiß ich, dass es ein Treffer ist. Außerdem dauert mir das alles viel zu lange. Ich brauche die Fohlen aus dieser Besamung, sonst kann ich einpacken.“
„Drei Mädels, dreimal Sperma. Mit einer wirst du dann Erfolg haben“, schlug der Tierarzt weiter vor und zeigte auf die Boxen.
„Ich muss aber drei gute Fohlen haben, und zwar schnellstens. Die sind schon an die Araber verkauft.“
„Was? Du hast die Fohlen schon …? Spinnst du? Wie kannst du so was machen, ohne zu wissen, ob …“ Als er Oles Gesicht sah, brach er kopfschüttelnd ab.
„Und nicht nur das“, fuhr der fort. „Was glaubst du denn, wem die drei Prachtstuten in den Boxen dahinten gehören? Die beiden Scheichs haben sie hier deponiert, damit auch sie das Sperma des Wunderhengstes bekommen. Ich allein, für meine eigenen, hätte das gar nicht bezahlen können.“
„Also wirklich, dann kann ich dir auch nicht helfen.“
Im Stall war es nun still, bis Ole meinte: „Ich muss wissen, woher der Russe die Pakete hat. Wer hat ihm die übergeben oder wem hat er sie abgenommen? Einer Frau, wie es scheint, denn von einer Überbringerin ist in dem Schreiben die Rede. Die müssen wir finden.“
„Zu schnell geschossen, würde ich mal sagen!“, kam es lakonisch von Hendrik Schuster, der nun seine Tasche packte und das Schloss mit einem lauten Knacken zuschnappen ließ.
„Halte endlich dein gottverdammtes Maul! Nimm den Scheiß mit und friere ihn ein. Stelle die Kiste so in den Tiefkühler, wie sie ist“, fauchte ihn Ole an. Er donnerte wütend mit der Faust an die Pferdebox. Saskia antwortete mit einem erschrockenen Schnauben. Er beruhigte sie mit sanftem Klopfen gegen den Hals und erklärte: „Ich hoffe, vom Russen ist noch was übrig und Peer hat ihn nicht schon komplett an die Schweine verfüttert. Vielleicht finde ich bei ihm einen Hinweis auf die Frau, der er die Kiste abgenommen hat. Die muss ich finden. Sie muss mir den Code nennen, egal wie, sonst bin ich am Ende.“