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Aus seinem ruhmvollen Aufstieg würde sonst nichts werden und seine Arbeit, sein Einsatz wären umsonst, wusste er. Von den Pensionspferden, die im angrenzenden Stall untergebracht waren, konnte er nicht leben. Die Besitzer zahlten zwar gut und Helfer, die sich ohne Bezahlung um die Pferde kümmerten, Boxen und Stall ausmisteten, Pferde striegelten und was sonst noch zu tun war, gab es genug. Vor allem junge Mädchen rissen sich darum, die Pferde zu umsorgen. Außerdem mussten die Besitzer trotz des Einstellgeldes Stunden auf dem Gestüt abarbeiteten, und das waren in der Hauptsache die Töchter der Besitzer. Mädchen und Pferde eben! Aber all das reichte nicht aus. Außerdem kamen sie jetzt zur Corona-Zeit nur noch selten.
Ole musste eine Lösung finden.
„Zieh ab!“, fauchte er Hendrik an.
Der Tierarzt schnappte sich die Kiste mit der eigentlich so wertvollen Fracht, klemmte sie unter den Arm und riss sich die Maske vom Gesicht. In der anderen Hand trug er seine Arzttasche und verließ den Pferdestall. Nachdem er alles in seinem Wagen verstaut hatte, murmelte er: „Von wegen‚ die haben mich verarscht. Du bist doch der große Betrüger, nun hat es dich getroffen. Das geschieht dir so was von recht.“ Hendrik wusste genau, dass er gegen seinen ehemaligen Schulfreund nichts ausrichten konnte. Der hatte ihn in der Hand und das wohl für immer und ewig. Daran konnte er nichts ändern. Oder vielleicht doch? Sollte er vielleicht einen Schlussstrich ziehen? Auf jeden Fall würde er dabei Federn lassen, aber nicht nur er. Nachdenklich startete der Mann seinen Wagen und fuhr davon.
Mit großen Schritten verließ nun auch Ole den Stall und ging über den dunklen Hof. Seinen Helfer und „Mädchen für alles“, Peer, vermutete er bei den Schweinen. Unterwegs bemerkte er, dass der Wagen des Russen noch immer mitten auf dem Hof stand, und hoffte, vielleicht darin einen Hinweis zu finden. Ole pfiff durch die Finger, kurz darauf öffnete sich in einiger Entfernung die Tür des Schweinestalles.
„Ist gleich weg!“, berichtete Peer, ungefragt.
„Wo sind seine Klamotten?“, wollte Ole wissen.
„Hier, die verbrenne ich anschließend.“
„Nein, gib sie her, ich muss sie untersuchen. Hast du ein Handy bei ihm gefunden?“
„Nein!“, antwortete Peer nach einem kurzen Zögern. Das Handy wollte er selbst behalten; bei dem Hungerlohn, den er hier bekam, musste er ab und zu auch an sich denken. Es würde ihm bestimmt ein nettes Sümmchen bringen.
„Bring mir alles ins Haus, was du noch von ihm hast und bescheiß mich bloß nicht.“
Peer grunzte: „Ich doch nicht, Chef!“
Die Armbanduhr und das Handy würde er ihm sicher nicht überlassen. Alles andere, was der Kerl bei sich hatte, sollte der Chef gerne haben.
Im Wagen des Russen konnte Ole keinen Hinweis auf diese Frau finden. Handschuhfach und Seitentüren hatte er schon untersucht, morgen, bei Tageslicht, wollte er sich noch den Kofferraum vornehmen. Außer einem Zettel, auf dem der Mann sich ein Autokennzeichen notiert hatte, war ihm nichts wirklich Interessantes in die Hände gefallen. Sollte das ein Hinweis sein? Oder hatte dieser Zettel keine Bedeutung? Vorsichtshalber steckte er ihn ein.
Es wunderte ihn sehr, dass der Kerl kein Handy bei sich gehabt hatte. Oder war es so gut versteckt? Unwahrscheinlich.
Ole stieg in den Wagen, drehte den Zündschlüssel, der noch immer im Schloss steckte, und fuhr das Fahrzeug auf die Rückseite des Anwesens in eine der leer stehenden Scheunen. Nachdem er den Motor abgestellt hatte, öffnete er nochmals das Handschuhfach und durchsuchte es ganz genau. Aber er konnte kein Handy zu finden. Ob Peer etwa doch?
Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Der Russe war ganz sicher nicht ohne Handy unterwegs gewesen.
Der Zettel mit dem Autokennzeichen fiel ihm ein. Nachher wollte er gleich nachforschen, was oder wer dahintersteckte. Jetzt war es dafür noch zu früh. Im Grunde war es ja für alles zu spät, überfiel ihn ein resignierender Gedanke. Einen Versuch wollte er allerdings noch unternehmen. Auf jeden Fall würde er noch mal seinen Mann bei der IMG kontaktieren. Ob der wohl etwas über die erwähnte Frau wusste? Vielleicht hatte diese ja was mit der IMG zu tun. Anders konnte es einfach nicht sein. Es schien ihm zwar ein gefährliches Unterfangen, aber er konnte nichts unversucht lassen.
So eine verdammte, große Scheiße. Jetzt hatte er drei eigene und drei fremde rossige Stuten im Stall stehen und konnte sie nicht besamen.
Oder doch? Wann würde es den Arabern auffallen, falls ihre Pferde Nachwuchs von Zossen bekämen? Was würden sie dann mit ihm tun? Das Risiko war groß, zu groß! Aber hatte er eine andere Möglichkeit?
Ole wusste, dass er eine Lösung finden musste, und zwar schnell.
Die Neue
Samstagvormittag, im Kommissariat
Ein eigenartiger Fall war das, zu dem sie gerufen worden waren. Ein verlassenes Auto, Blutspuren, tote Schafe …, Carsten wusste die Sache nicht einzuordnen.
Als der Beamte das Gebäude des Kommissariats betrat, wurde er im Eingangsbereich mit den Worten „Gute Wahl!“ begrüßt. Doch Carsten verstand nicht. Im Treppenhaus begegnete er einem Kollegen vom Diebstahl. Der grinste und zeigte ihm seinen erhobenen Daumen.
Auf dem Flur der Etage standen drei junge Kollegen zusammen. Auch sie zeigten ihm „Daumen hoch“.
Kopfschüttelnd ging er in sein Büro und erkannte, was die Kollegen meinten.
„Na, jetzt weiß ich, was hier los ist. Wie lange warten Sie schon?“, begrüßte er die ausgesprochen hübsche junge Frau, die auf dem Besucherstuhl seines Büros saß und in einer Akte blätterte. Er ging zum Fenster und öffnete es weit.
„Fünfzehn Minuten, kein Problem“, meinte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Carsten kreuzte die Hände, ließ sich auf seinen Stuhl fallen und begann:
„Zeit genug, um im Haus für Unruhe zu sorgen. Und legen Sie die Akte bitte wieder zurück.“
„Warum? Ab sofort sind das auch meine Fälle!“, erwiderte sie und lächelte Carsten an. „Ach so, ja, ich bin Miriam Blum, Kommissaranwärterin und Ihre neue Praktikantin. Und sorry, stimmt, Hände schütteln ist gerade nicht.“
„Richtig! Und noch mal richtig, Sie sind unsere neue Praktikantin! Richtig ist aber auch, die Praktikantin bekommt eine Akte von mir und nimmt sie sich nicht vom Tisch.“ Er schaute Miriam Blum mit strenger Miene an, dann beugte er sich über seinen Schreibtisch.
„Wir duzen uns hier alle. Ich bin Carsten, Kollege Hajo kommt auch gleich. Auf gute sechs Monate bei uns.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und zog sie jedoch gleich wieder zurück. Die Corona-Pandemie war zwar allgegenwärtig, aber Abstand halten doch noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.
Carsten fragte die junge Frau über ihren Ausbildungsstand, ihre Ambition, zur Polizei zu gehen, und weitere Details aus. Außerdem informierte er sie darüber, dass man sich unter den Kollegen darauf geeinigt habe, im Haus, wenn irgendwie möglich, keine Masken zu tragen. „Wir achten auf Abstand und lüften ständig“, erklärte er ihr. „Wie du es hältst, bleibt natürlich dir überlassen. Sind wir draußen und dort unter Menschen, ist es natürlich keine Frage, den Schnutenpulli aufzusetzen.“
Als Hajo zehn Minuten später das Büro betrat, fand er die beiden in ein intensives Gespräch vertieft.
Tod in der Kiste?
Der Anruf erreichte die beiden Kommissare, als sie mit Miri – Miriam Blum hatte darum gebeten, dass man sie Miri nannte – im Büro saßen. Miri hatte man Tomkes Schreibtisch zugeteilt.
Hajo erklärte ihr gerade, was sich heute ereignet hatte. Carsten versuchte zwischendurch, die Firma IMG zu erreichen.
Reno, der inzwischen den Dienst von Jan an der Zentrale übernommen hatte, meldete: „Die Kollegen von der Spusi haben angerufen. Thomas sagt, im Wald, nahe des gefundenen Wagens, sei eine Kiste explodiert, und sein Chef will, dass ihr euch das anseht.“
„Wie, sind die noch immer dort?“, antwortete Carsten. „Und was war denn drin in der Kiste? Hat er das nicht gesagt?“
„Nein, die wollen, dass ihr euch das selbst einmal anschaut.“
Mit einem Stöhnen legte Carsten den Hörer weg und erklärte: „Hajo, wir müssen noch mal raus. Nahe dem Fundort des Wagens ist was in die Luft geflogen. Und unsere Miri nehmen wir mit. Dann kann sie gleich was lernen. Auf geht’s.“
Miri rief „Mega!“ und sprang erfreut auf. So hatte sie sich das vorgestellt. Außendienst gleich am ersten Tag.
Als die drei am Ort des Geschehens ankamen, herrschte hektisches Treiben an einem Feldweg zwischen dem verlassenen Wagen und dem Waldstück.
Zwei Feuerwehrwagen, ein Rettungswagen und ein Pkw, der mit „Notarzt“ gekennzeichnet war, standen auf dem Weg. Die Feuerwehrleute packten schon wieder ihre Sachen zusammen, zwei Sanis schienen im Rettungswagen weiter hinten beschäftigt, der Notarzt stieg gerade in den Pkw ein und schlug die Tür zu.
„Moment, Moment, fahrt ihr etwa schon wieder? Was ist denn Sache hier!“ Carsten klopfte an das Fenster der Beifahrertür.
Der Notarzt kurbelte die Scheibe herunter und erklärte lapidar: „Hier bin ich überflüssig, ich muss weiter. Mein Fahrer hat mir gerade einen Notfall gemeldet, bei dem ich dringender gebraucht werde. Sprechen Sie mit den Sanis.“ Er deutete auf den Rettungswagen.
Der Fahrer gab Gas, der Arzt legte den Sicherheitsgurt um und die beiden brausten davon.
Carsten und Hajo schauten sich verwundert an und marschierten, mit Miri im Schlepptau, auf den Rettungswagen zu. Die Kollegen der Spurensicherung konnten sie nirgendwo sehen. Die angeblich explodierte Kiste ebenfalls nicht.
„Das ist ja ein Auflauf hier!“, bemerkte Miri mit großen Augen und setzte ihr obligatorisches „Mega!“ hinterher.
Wenn der Notarzt nichts machen konnte, dann hat es sicher einen Toten gegeben.
Ob es sich wohl um den Fahrer des verlassenen Wagens handelt?, überlegte Carsten.
Seine Gedanken behielt er allerdings für sich und schaute in den Rettungswagen. Die Liege war leer, die beiden Sanis nahmen gerade die Schutzmasken ab und räumten ihre Sachen zusammen. Carsten kannte sie beide.
Fragend deutete er auf die Liege. Der Sani verstand. Er beugte sich aus der Tür und zeigte Richtung Wald. „Deine Kollegen von der Spusi sind vor Ort.“
„Meine Güte, macht ihr das spannend!“, konnte sich Hajo nun nicht mehr zurückhalten. „Wo ist die Leiche? Oben am Waldrand?“ Aber der Sani war schon wieder im Wagen verschwunden.
So stapften die drei den Weg entlang, vorbei an den beiden Feuerwehrfahrzeugen, Richtung Waldrand. Nun konnten sie auch erkennen, dass dort die Kollegen von der Spusi zugange waren. Eine Frau saß etwas abseits im Gras.
Als sie näher kamen, bemerkte Carsten, dass ihre Handgelenke bandagiert waren, auch um die Knöchel trug sie Verbände.
„Die sagen uns jetzt aber nicht, dass das die Fahrerin des verlassenen Wagens ist, oder?“, raunte Carsten seinem Kollegen zu. Miri spitzte die Ohren. Mein Gott, das war ja mega spannend!
Rikus Stevenson, Chef der Spurensicherung und – wie er sich bezeichnete – Aushilfsleichenfledderer, war vor Ort und begrüßte sie mit den Worten: „Darf ich vorstellen? Das ist Jana Briggs, sie war hier in dieser Kiste eingesperrt und hat die Explosion überlebt, sogar fast unbeschadet, wie ihr sehen könnt.“
Carsten konnte es nicht fassen.
„Ich denke, hier ist eine Kiste explodiert? Wie kann das …“
Rikus schüttelte den Kopf.
„Das kann man so nicht sagen. Das außen angebrachte Schloss ist explodiert, nicht die Kiste selbst. Heißt: Es war dort eine kleine Zeitbombe angebracht, die das Schloss sprengte.“
„Und was ist mit ihr? Ich meine, was ist mit Ihnen?“, wandte Carsten sich an die junge Frau.
„Warum sind Sie nicht im Rettungswagen und lassen sich verarzten?“, wollte nun auch Hajo wissen.
„Weil es mir nach dem ersten Schock und nachdem man meine Verletzungen behandelt hat, ziemlich gut geht. Ich kann das selbst ganz gut beurteilen, schließlich habe ich Medizin studiert. Nur in meinen Ohren pfeift es, aber sonst ist alles gut. Ich will auf keinen Fall ins Krankenhaus. Meine Eltern erwarten mich zu Hause. Sicher machen die sich bereits große Sorgen. Schließlich sollte ich schon heute Nacht bei ihnen eintreffen.“
„Die werden sich noch gedulden müssen. Zuerst werden wir uns unterhalten. Was zum Teufel ist passiert? Rufen Sie Ihre Eltern an und erklären ihnen, dass es noch etwas dauert.“
„Mein Handy liegt im Wagen und der Mensch hier lässt mich nicht ran.“
Sie deutete auf Rikus.
„Recht hat er, der Mensch. Zuerst muss sich die Spurensicherung Ihren Wagen und vielleicht auch das Handy ansehen, dann dürfen Sie telefonieren.“
„Aber meine Eltern …!“, warf Jana ein.
Hajo zückte sein Smartphone und forderte sie auf: „Geben Sie mir die Nummer, ich stelle die Verbindung über meines her.“
„Die weiß ich nicht, die Nummer, meine ich. Ist im Handy einprogrammiert“, antwortete Jana kleinlaut. „Außerdem will ich hier weg“, begehrte sie dann heftig auf und rieb sich die Ohren.
„Nicht ohne dass geklärt ist, was los war. Wir können Sie nicht einfach gehen lassen, wie stellen Sie sich das vor?“
„Nix ist passiert, da hat sich wohl jemand einen schlechten Scherz mit mir erlaubt.“ Jana zog die Schultern hoch.
Es wäre fatal, der Polizei zu erzählen, was geschehen war. Schließlich hatte ihr Chef sie zu strengstem Stillschweigen verdonnert. Und ihren Job wollte sie auf keinen Fall verlieren. Die Bezahlung war super und würde, falls sie den Mund hielt, bestimmt noch besser werden. Und dann war da ja auch noch die Möglichkeit, zusätzlich an Geld, an viel Geld zu kommen … Geld, durch das sich ganz neue Perspektiven aufzeigen könnten. Schließlich kannte nur sie den Code. Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Miri, die die ganze Zeit stumm zugehört hatte, sah das leichte Grinsen und beugte sich, wenn auch mit etwas Abstand, zu ihr hinunter.
„Du musst uns schon sagen, was hier abgelaufen ist. Und warum sitzt du hier im Gras und nicht vorne bei den Sanis? Dort ist es vielleicht nicht gemütlich, aber doch wesentlich bequemer und wärmer als hier. Holst dir ja noch ’ne Blasenentzündung, und die ist nicht ohne, ich weiß, wovon ich spreche.“ Sie verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse.
„Komm!“, forderte sie dann Jana auf. „Wir gehen zu deinem Auto, schauen nach der Nummer und du kannst von meinem Handy aus anrufen.“ Ihr fragender Blick zu Carsten wurde mit einem Kopfnicken bestätigt.
Soll sie doch, überlegte er. Vielleicht konnte da von Frau zu Frau mehr erreicht werden.
„Handschuhe nicht vergessen!“, rief er Miri noch nach. Die aber hatte schon ein Paar aus ihrer Hosentasche gezogen und winkte ihm damit zu.
„Denkt mit, die Deern. Aus der kann was werden!“, erklärte Hajo anerkennend.
Carsten nickte. Dann drehte er sich zu Rikus Stevenson um und bat: „Jetzt sag doch mal, was hier los war.“
„Tja, das war ein Ding, als es, während meine Leute das verlassene Auto untersuchten, einen Riesenknall gab. Sie haben nachgeschaut, die Frau gefunden und die Rettung, mich und natürlich euch informiert.“
„Warum warst du eigentlich schon da, als wir kamen?“, hakte Hajo nach.
„Weil ich fast vor Ort war. Zufällig und außer Dienst. Aber da ich im Grunde nie außer Dienst bin …“
„Hm, na dann.“ Carsten zeigte auf die Kiste.
„Und da steckte sie drin?“ Er beugte sich über die enge Behausung.
„Jow!“
„Was ist das, wofür wird die genutzt?“, wollte Hajo wissen.
„Ich weiß nicht, vermutlich wird hier im Winter Streusand deponiert.“
„Warum hat man die junge Frau hier eingesperrt und wie?“
„Gefesselt und anfangs wohl auch geknebelt, wie sie uns erzählte“, erklärte Rikus nun. „Die Kabelbinder an Hand- und Fußknöcheln haben wunde Stellen hinterlassen. Deshalb die Verbände. Ein Stück Klebestreifen haben wir auch in der Kiste gefunden. Das hatte man ihr wohl über den Mund geklebt. Aber warum? Das müsst ihr klären.“
Hajo und Carsten betrachteten sich die ramponierte Kiste genauer.
„Diese Bombe, die hier explodiert ist, war vorne am Schloss befestigt?“
„Ja, und mit einem Zeitzünder verbunden. Es hat den Anschein, als sollte die Kiste nicht explodieren, sondern nur das Schloss sprengen und die Frau somit befreien. Aber es war wohl eher ein Bömbchen.“
„Aber warum das Ganze? Es macht doch keinen Sinn.“
„Ich vermute, wenn diese Frau Briggs weiterhin schweigt, erfahren wir das nie. Aber warum schweigt sie? Das ist doch eigenartig. Sie ist die Geschädigte. Was steckt dahinter? Ein blöder Scherz ganz sicher nicht.“ Carsten fuhr sich über die Stirn.
„Und wer? Wer steckt dahinter?“, setzte Hajo kopfschüttelnd nach. „Aber wie heißt es? Wer nicht will, der hat. Dann eben nicht.“ Er war verärgert. „Dann ist der Fall für uns erledigt und wir können uns anderen Dingen widmen.“
„Schön wär’s, dürfen wir aber nicht, das weißt du. Überfall, Entführung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, gehört alles zu den schwerwiegenden Delikten, die wir verfolgen müssen.“
„Klugscheißer!“ Hajo tat resigniert und meinte weiter: „Vielleicht kann unsere Praktikantin ja etwas in Erfahrung bringen.“
„Jow, soll sie es versuchen, aber mit aufs Kommissariat muss die Briggs trotzdem. Da kann sie meckern, so viel sie will.“
Halbe Wahrheit?
Samstag
Miri versuchte das Vertrauen von Jana zu gewinnen, doch das gelang ihr kaum. Zwar nutzte diese das Handy der jungen Polizistin, um ihre Eltern zu informieren, aber danach war Jana wieder verschlossen wie eine Auster. Auch hatte sie kein Verständnis dafür, warum man von ihr verlangte, mit auf das Kommissariat nach Wittmund zu kommen. Miri musste all ihre Überredungskunst einsetzen, die junge Frau davon zu überzeugen. Und es glückte ihr tatsächlich. Nach heftiger Gegenwehr wurde Jana dann doch friedlich.
Miri atmete auf, wollte sie doch nicht gleich am ersten Tag des Praktikums an einer Aufgabe scheitern.
Sie war mit Jana rasch in ein formloses Du übergegangen, was beiden nicht schwerfiel, da sie sich ungefähr im gleichen Alter befanden.
„Überlege doch bitte noch mal“, hakte Miri nach, „kannst du wirklich nicht sagen, was passiert ist? Du musst dich doch an irgendetwas erinnern.“ Miri schaute fragend zu Jana. Doch die schüttelte den Kopf.
„Du warst mit dem Auto unterwegs, warum hast du angehalten? War etwas oder jemand auf der Straße?“
Jana zuckte mit den Schultern.
„Bist du aus deinem Wagen ausgestiegen? Hast du jemanden gesehen? Hat dich jemand angesprochen?“
Jana schüttelte den Kopf.
Dann herrschte für einen Moment Funkstille zwischen den beiden, bis Miri einen Pfeil abschoss und ihr auf den Kopf zusagte: „Ich weiß, dass da was ist. Ich habe es dir angesehen und du kannst es nicht abstreiten!“
Jana drehte sich zu ihr um und wollte wissen: „Was? Was hast du mir angesehen? Keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Es war nur ein ganz kurzes und leichtes Grinsen, aber ich habe es gesehen, und versuche nicht, es zu leugnen. Rede mit uns.“ Sie zeigte auf Carsten und Hajo, die nun langsam auf sie zukamen.
„Keiner glaubt dir, dass du als Zufallsopfer in dieser Kiste gelandet bist oder sich jemand einen Scherz mit dir erlaubt hat. Das ist nun wirklich eine blöde Ausrede.“
Jana zuckte wieder mit den Schultern.
„Weißt du“, fuhr Miri fort und lehnte sich gegen den Kotflügel von Janas Wagen. „Mir kann das egal sein. Die beiden Kollegen müssen den Fall bearbeiten, wenn du den nächsten Angriff nicht überlebst und man deine Leiche irgendwo findet. Ich bin in sechs Monaten wieder weg. Andererseits kann es auch sein, dass der nächste Anschlag auf dich schon früher passiert und ich doch dabei bin, wenn man …, du weißt schon. Aber okay, das ist deine Entscheidung.“ Miri drehte sich um und ging auf die Kollegen zu.
„Die ist stumm wie ein Fisch. Vielleicht habe ich sie aber auch ein wenig angespitzt und sie erzählt uns auf dem Kommissariat, was passiert ist. Die hat irgendetwas im Köcher, das habe ich ihr angesehen.“
„Okay …!“, meinte Carsten langgezogen und schaute Miri nachdenklich an. „Wie kommst du darauf?“
„Da war so ein Ausdruck in ihrem Gesicht, warten wir es ab.“
„Okay, Fräulein Praktikantin. Hoffen wir mal auf den großen Schatz Ihrer Lebens- und Ermittlererfahrung!“, spottete er und meinte zu Jana: „Kommen Sie bitte, Frau Briggs, wir fahren aufs Kommissariat.“
Die zeigte auf ihren Wagen und wollte wissen: „Und mein Auto?“
„Das bekommen Sie, wenn die Spurensicherung damit durch ist.“
Als sie alle auf den Dienstwagen zugingen, nahm Miri Carsten zur Seite und flüsterte: „Übrigens hat sie ihrer Mutter gesagt, sie habe eine Autopanne gehabt.“
„Na ja, vielleicht wollte sie ihre Mutter nur nicht aufregen, wir wissen ja, wie Mütter sind.“
„Stimmt!“, pflichtete ihm Miri bei, „aber komisch ist es schon.“
Auf dem Weg nach Wittmund, die beiden Frauen saßen auf der Rückbank, versuchte die junge Polizistin, das Mienenspiel von Jana zu lesen, was aber unter der Maske, die sie im Auto nun trug, sehr schwer war. Nur die Augen konnte sie sehen. Scheiß-Corona, fluchte sie heimlich. Jana aber schaute nur unbeweglich nach vorne.
Auch Carsten und Hajo erfuhren nichts. Jana Briggs blieb verschlossen.
Nachdem die KTU das Auto noch weiter untersuchen musste, bestand die junge Frau darauf, trotzdem gehen zu wollen. Sie bestellte sich ein Taxi, um zu ihren Eltern zu fahren.
„Ich will hier weg, benachrichtigen Sie mich, wenn ich den Wagen abholen kann! Spätestens am Montag muss ich ihn aber unbedingt haben“, forderte sie die Kommissare auf und verließ das Büro.
Die mussten sie ziehen lassen, hatten sie doch nichts gegen die Dame in der Hand. Im Gegenteil, schließlich war sie das Opfer.
Miri brachte sie zur Tür und verabschiedete sich mit den Worten: „Pass auf dich auf!“
Hajo meinte achselzuckend: „Reisende soll man nicht aufhalten, und wem nicht zu helfen ist, dem ist halt nicht zu helfen.“
Als Jana gegangen war, drehte sich Carsten zu Hajo und Miri um und erklärte: „Dann müssen wir ins Blaue hinein ermitteln, hilft ja nix. Vielleicht haben die Kollegen der Kriminaltechnik später was für uns, wenn sie mit dem Auto durch sind.“
Miri rieb sich das Kinn.
„Das heißt, wir müssen weiter ermitteln, obwohl Jana nichts sagt und meint, es sei ein dummer Scherz?“
„Auf jeden Fall, Miri! Schließlich handelt es sich hier um eine Straftat, egal ob es um eine Entführung, Geiselnahme oder Freiheitsberaubung geht, was wir ja nicht wissen. Schließlich hat die Briggs sich dort nicht selbst eingeschlossen. Also müssen wir nachforschen.“
„Schon komisch!“, meinte Miri nachdenklich.
„Ja, das hatten wir auch noch nicht. Eine überfallene und verschleppte Frau, die sagt: ‚Lasst mal, alles nur ein dummer Scherz‘.“
Carsten schüttelte den Kopf und überlegte im gleichen Moment, was Tomke zu diesem Fall wohl sagen würde.
Auch Hajo vermisste Tomke hier im Kommissariat. Zu Hause wollte sie zwar von ihm wissen, ob und was es Neues gab, lauschte dann schweigend und mit geschlossenen Augen, sagte aber nichts dazu.
Plötzlich riss ihn sein Handy aus den Gedanken. Auf dem Display blinkte der Name Tomke. Hajo meldete sich mit den Worten: „Gedankenübertragung, mein Schatz!“ Wobei er das Wort Schatz besonders betonte. Tomke lachte laut auf und ging auf das alte Wortspiel ein. „Sag nicht immer Schatz zu mir!“ Dann änderte sich ihr Tonfall und sie wurde ernst. „Du, sag mal, kannst du schon abschätzen, wann du nach Hause kommst?“
„Ja, theoretisch bald, wir haben zwar einen neuen Fall, aber viel können wir noch nicht ausrichten. Warum?“
„Lass uns bei Oma und Tant’ Fienchen treffen.“
„Gern! Was haben die beiden ollen Tanten denn Leckeres zu bieten?“
„Es geht nicht immer nur ums Essen, wenn wir zu ihnen auf den Deich müssen.“
„Ist was passiert?“, wollte Hajo dann wissen, dem Tomkes ernster Ton in der Stimme nun auffiel.
„Ja, aber das erzähle ich dir jetzt nicht. Komm, wenn du fertig bist, ich bin schon dort. Bis dann.“ Es knackte in der Leitung. Sie hatte das Gespräch beendet.