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Schritt 7: Eine Liste möglicher Gebrauchssituationen entwickeln
In Gruppen und im Plenum wird besprochen, wo im Berufs- und im Alltagsleben diese Art, Phänomene zu erklären, nützlich wäre. Daraus entsteht eine Liste von möglichen Beobachtungssituationen, die die Lernenden in Schritt 8 leiten kann.
Schritt 8: Phänomene im Alltag beobachten und erklären
Die Lernenden erhalten den Auftrag, entsprechende Beobachtungen zu machen und diese zu erklären. Zu einem späteren Zeitpunkt werden diese Beobachtungen und Erklärungen gesammelt und besprochen.
PHÄNOMENE EINORDNEN IM ÜBERBLICK
1. Warten, bis die Lernenden entsprechende Erfahrungen gemacht haben
2. Erfahrungen schildern lassen, Erfahrungen machen lassen
3. Erklärungen und Fragen generieren
4. Erklärungsversuche zusammenstellen
5. Erklärung modellhaft vormachen
6. Weitere Erfahrungen mit vergleichbaren Phänomenen einordnen
7. Liste möglicher Gebrauchssituationen erstellen
8. Phänomene im Alltag erklären
A3.3 Querverbindungen zu anderen Rezepten
Phänomene einordnen und Handeln vorbereiten
Wie gesagt, unterscheiden sich Phänomene einordnen und Handeln vorbereiten nur dadurch, dass die Handlung, um die es hier geht, das Erklären von Phänomenen ist (und nicht das Backen von Broten oder das Verbinden von Wunden). Entsprechend ist vieles übertragbar. Erfahrungen, die Sie mit dem einen Rezept machen, können Sie auch beim anderen nutzen – etwa das Zusammenspiel des Vorwissens der Lernenden mit Ihrem professionellen Wissen.
HANDELN VORBEREITENPHÄNOMENE EINORDNEN1.Warten, bis die Lernenden mit der Situation schon Erfahrungen gemacht haben.Warten, bis die Lernenden mit dem Phänomen schon Erfahrungen gemacht haben.2.Die Lernenden schildern ihre Erfahrungen.Die Lernenden schildern ihre Erfahrungen.3.Die Lernenden lösen eine mittelschwere Aufgabe.Die Lernenden generieren Fragen und Erklärungen.4.Gemeinsam die Lösungen der Lernenden kritisch besprechen.Gemeinsam Erklärungsversuche kritisch besprechen und offene Fragen zusammenstellen.5.Das bewährte Vorgehen an einem realistischen Beispiel modellhaft demonstrieren.Das Phänomen mithilfe des Erklärungsmusters beschreiben und Fragen beantworten.6.Die Lernenden üben, indem sie selbst erfundene Beispielen lösen.Die Lernenden ordnen weitere Erfahrungen mit vergleichbaren Phänomenen ein.7.Die Lernenden erarbeiten einen Spickzettel.Gemeinsam eine Liste erstellen, wo im Alltag entsprechende Phänomene vorkommen.8.Gemeinsam die Anwendung im Betrieb diskutieren.Die Lernenden beobachten Phänomene im Alltag und ordnen sie ein.Phänomene einordnen und Erfahrungen reflektieren
Haben Sie sich schon A2 Erfahrungen reflektieren angesehen, hatten Sie vielleicht den Eindruck, dass das Einordnen von Phänomenen in Erklärungsmuster Ähnlichkeiten hat mit dem Einordnen einer Geschichte in ein Raster (Schritt 5 bei Erfahrungen reflektieren). Auch dies ist kein Zufall, denn der Mechanismus, wie Lernen durch die Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und verallgemeinerter Theorie möglich ist, bleibt derselbe (Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion).
A3.4 Anregungen zu den einzelnen Schritten
Dies war Phänomene einordnen einmal im Schnelldurchgang und anhand des einfachen Beispiels Preisgestaltung dargestellt (Weitere Beispiele: B7, B8 und B9). Damit die einzelnen Schritte aber tatsächlich die gewünschte Funktion übernehmen und als Ganzes ineinandergreifen, sind verschiedene Aspekte zu beachten.
Vieles dazu wurde schon bei Handeln vorbereiten gesagt und kann sinngemäss übertragen werden. Sie finden im Folgenden Querverweise zu den relevanten Punkten bei Handeln vorbereiten sowie spezifische Überlegungen zu Phänomene einordnen.
Zu Schritt 1: Warten, bis die Lernenden schon entsprechende Erfahrungen gemacht haben
Sinngemäss relevant aus Schritt 1 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: Beobachtungsaufträge, Alle Lernende? und Der gute Zeitpunkt.
Zu Schritt 2: Erfahrungen schildern lassen, Erfahrungen machen lassen
Sinngemäss relevant aus Schritt 2 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: Vielfalt zulassen, aber auf Situation fokussieren, Erzählungen ordnen, Beobachtungsaufträge, Materialien aus den Betrieben.
Bezug zum privaten Alltag: Typischerweise umfasst ein Erfahrungsbereich, für den man ein Erklärungsmuster anbietet, nicht nur den beruflichen, sondern auch den privaten Alltag – und manchmal sogar vor allem diesen. Dies gilt beispielsweise für physikalische (Mechanik, Elektrizität etc.) und ökonomische (Warenkreislauf, Buchhaltung etc.) Erklärungsmuster. Im Rahmen der Berufsbildung ist es zwar wichtig, wo immer möglich Verbindungen zu beruflichen Erfahrungen herzustellen. Es gibt aber keinen Grund, Erfahrungen aus dem privaten Alltag auszuschliessen.
Erfahrungen machen lassen: Je nach Bereich ist es möglich, die Lernenden im Unterricht entsprechende Erfahrungen machen zu lassen (physikalische Experimente, Rollenspiele, Simulationen, Beobachtungsaufträge, Projekte etc.). Auf diese Art können sie häufig besser relevante Details wahrnehmen, als wenn sie nur auf ihre Erfahrungen aus dem Alltag zurückgreifen. Wichtig ist dabei allerdings, dass trotzdem auch Alltagserfahrungen einbezogen werden, da sonst die Brücke aus der Schule in den Alltag nicht zustande kommt (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche).
Zu Schritt 3: Erklärungen und Fragen generieren
Sinngemäss relevant aus Schritt 3 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: Schritt 2 als Voraussetzung, keine Anleitung und keine künstliche Erschwerung.
Warum-Fragen und Wie-Fragen: Grob kann man Phänomene in zwei Kategorien einteilen: in natürliche Abläufe und in von Menschen organisierte Prozesse. Im ersten Fall bietet es sich an, als Einstieg eine Warum-Frage zu stellen (z.B. «Warum lässt man beim Verlegen eines Parketts zwischen dem Parkett und der Wand immer einen Spalt offen?»). Im zweiten Fall ist eher eine Wie-Frage angebracht (z.B. «Wie läuft in einem Spital die Aufnahme eines neuen Klienten ab?»). Mit der Wahl der Frage gibt man den Lernenden einen Hinweis, in welcher Richtung sie nach einem Erklärungsmuster suchen sollen. Bei Warum-Fragen geht es eher um ein «Naturgesetzt», bei Wie-Fragen eher um Prozessbeschreibungen.
Packende Frage: Alles steht und fällt damit, eine Frage zu finden, zu der die Lernenden wirklich eine Antwort möchten. Antworten auf Fragen, die man nicht hat, interessieren niemanden und lösen auch keine Lernprozesse aus (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort). Eine packende Frage zu finden, ist nicht immer einfach. Am besten geht man von Fragen aus, die man als Lehrperson selbst spannend und interessant findet (Herndon 1971).
Weitere Fragen: Wie vorgeschlagen, kann es sinnvoll sein, den Prozess durch eine geeignete Frage anzustossen. Damit aber die vorhandenen Erfahrungen der Lernenden breit mit einbezogen werden, ist es wichtig, dass es möglichst nicht bei dieser einen Frage bleibt. Wenn den Lernenden weitere Fragen einfallen – die sie vielleicht sogar mehr beschäftigen als die Einstiegfrage – sollten sie auch (oder vor allem) diesen anderen Fragen nachgehen.
Vielfalt fördern: Normalerweise können die Lernenden die behandelten Fragen nicht einfach beantworten, denn sonst wäre es nicht nötig, ein (neues) Erklärungsmuster zu vermitteln. Das bedeutet aber auch, dass die Lernenden nicht wirklich einschätzen können, wie gut ihre Erklärungsversuche sind. Es ist daher wichtig, sie zu ermuntern, nicht nur eine, sondern möglichst viele Erklärungen zu diskutieren. Dies kann man fördern, indem man beispielsweise die Brainstorming-Regel einführt, dass jede Idee zumindest notiert wird.
Zu Schritt 4: Erklärungsversuche zusammenstellen
Sinngemäss relevant aus Schritt 4 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: Präsentation der Lösungsversuche, positive Aspekte würdigen, Gegenbeispiele einsetzen, offene Fragen sammeln und wenn es keine Fragen gibt.
Alternative Erklärungsmuster bewerten: Erklärungsmuster gleich welcher Art sind nie einfach wahr, sondern spiegeln höchstens den aktuellen Wissensstand. Wichtig ist deshalb, dass alternative Erklärungsmuster, die die Lernenden im Laufe der Diskussion interessant finden, nicht einfach als falsch bezeichnet werden. Sie entsprechen zwar nicht dem aktuellen Wissensstand, aber es besteht die Möglichkeit, dass sich das in Zukunft ändern wird.
Die Diskussion um alternative Erklärungsmuster kann man nutzen, um mit den Lernenden daran zu arbeiten, wie man Informationsquellen und Informationen auf ihre Verlässlichkeit hin beurteilt.
BEISPIEL: DIE DISKUSSION ALTERNATIVER ERKLÄRUNGSMUSTER
In einer Berufsmaturitätsklasse geht es um die Frage, warum der Arbeitgeber (ein Heim) von den Mitarbeitenden verlangen kann, sich gegen Grippe impfen zu lassen. Eine Lernende wehr sich vehement dagegen und behauptet, es sei doch längstens bekannt, dass diese Impfung nichts nütze und dass im Gegenteil Impfen gefährlich sei. Sie bringt sogar Fachartikel mit, die dies belegen sollen. Da nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann, dass sich in Zukunft herausstellen wird, dass die Wissenschaft bei der Grippeimpfung die Sachlage falsch eingeschätzt hat, lässt sich die Meinung der Lernenden nicht einfach als falsch widerlegen. Man kann aber aufzeigen, auf welche Basis sich die offizielle Meinung stützt und wie die mitgebrachten Fachartikel relativ dazu einzuordnen sind.
Zu Schritt 5: Erklärung modellhaft vormachen
Sinngemäss relevant aus Schritt 5 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: Antwort auf Fragen, keine Show und Hintergrundtheorie.
Gebrauch zeigen: Die Theorie, das Erklärungsmuster, ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, Phänomene aus dem behandelten Erfahrungsbereich einzuordnen, das heisst mithilfe des Musters zu beschreiben (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen). Wichtig ist daher, dass in diesem Schritt nicht einfach die Theorie vermittelt wird, sondern dass sie eingesetzt wird, um zumindest ein konkretes Phänomen zu erklären.
Angepasster Detaillierungsgrad: Gut ausgebaute Erklärungsmuster erlauben manchmal detaillierte Erklärungen. Es ist aber nicht immer zielführend, jedes Detail zu beleuchten.
BEISPIEL: ANGEPASSTER DETAILLIERUNGSGRAD
Die Formel U = R × I beschreibt den Zusammenhang zwischen der Spannung (U), dem Widerstand (R) und der Stromstärke (I). Aus ihr lässt sich ableiten, dass sich I erhöhen muss, wenn man U erhöht und R gleich lässt. Anstatt dieser eher grob auflösenden Aussage kann man aber auch berechnen, um wie viel genau sich I erhöhen wird, wenn man U um einen ganz bestimmten Betrag vergrössert.
Nur weil das möglich ist, bedeutet das aber nicht, dass man das auch tun muss. Vielleicht rückt die gröber auflösende Betrachtung das, was für den behandelten Erfahrungsbereich wichtig ist, viel besser ins Licht, als wenn man sich auf die feiner auflösende Ebene begibt (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion).
Zu Schritt 6: Weitere Erfahrungen mit vergleichbaren Phänomenen einordnen
Sinngemäss relevant aus Schritt 6 von Handeln vorbereiten sind alle dort erwähnten Punkte, also: Anleiten, wörtliche Umsetzung, Anzahl, Lösungen und Reflexion.
«Reflexion»: Wie bei jeder praktischen Vorgehensweise, die nur unter gewissen Bedingungen sinnvoll eingesetzt werden kann, kann auch ein bestimmtes Erklärungsmuster nicht auf beliebige Phänomene angewendet werden. Im Vergleich zu Handeln vorbereiten und dem Einhalten der für ein Verfahren notwendigen Voraussetzungen dürfte es den Lernenden hier im Allgemeinen schwerer fallen, einzuschätzen, ob ein Erklärungsmuster anwendbar ist. Es werden daher hier häufiger als bei Handeln vorbereiten Aufgaben entstehen, die mit dem behandelten Erklärungsmuster gar nicht oder nur bedingt bearbeitbar sind (z.B. «Warum ist Kaviar im Einkauf so teuer?» im Zusammenhang mit «Preisgestaltung»). Die Reflexion darüber, wo das Erklärungsmuster einsetzbar ist und wo seine Grenzen sind, ist daher besonders wichtig.
Zu Schritt 7: Liste möglicher Gebrauchssituationen erstellen
Im Gegensatz zu Handeln vorbereiten stellt dieser Schritt hier nicht die Frage ins Zentrum, woran man alles denken sollte, wenn man versucht, das erlernte Vorgehen im Betrieb anzuwenden, sondern wo es Gelegenheiten geben könnte, das neue Erklärungsmuster zu erproben. Die hier vorgeschlagene Form des Spickzettels ergänzt den Spickzettel aus Handeln vorbereiten. Denn auch dort könnte man eine ähnliche Liste mit Gelegenheit erstellen, wo überall man das erlernte Vorgehen versuchsweise einsetzen könnte. Und umgekehrt könnte man hier beim Phänomene einordnen einen Spickzettel erarbeiten, auf dem man sich die wichtigsten Eckdaten des Erklärungsmusters und die notwendigen Überlegungsschritte bei seinem Gebrauch notiert.
Allgemeine und individuelle Einträge: Die Liste möglicher Gebrauchssituationen wird Situationen enthalten, die viele Lernende antreffen werden. Bei «Preisgestaltung» sind das etwa die Preise aller Gerichte auf den Speisekarten in den Betrieben aller Lernenden. Die meisten Lernenden werden auch beobachten können, wie ihr Betrieb die Preise bei Aktionen anpasst.
Bestimmte Situationen treten hingegen nur in einzelnen Betrieben auf und sind damit nur für einzelne Lernende relevant. Dazu gehören beispielsweise die Preise in einem hochdekorierten Gourmetrestaurant. Diese Situationen sind für Schritt 8 besonders interessant, da die Betreffenden etwas erzählen können, das den anderen Lernenden nicht direkt zugänglich ist.
Zu Schritt 8: Phänomene im Alltag beobachten und erklären
Sinngemäss relevant aus Schritt 8 von Handeln vorbereiten sind die Punkte: nachbereiten, kritische Reflexion.
Dieser Schritt unterscheidet sich nicht wesentlich vom entsprechenden Schritt bei Handeln vorbereiten. Während die Lernenden dort versuchen, das neue Vorgehen im Betrieb einzusetzen, geht es hier darum, das neue Erklärungsmuster einzusetzen. Die Lernenden erzählen von ihren Erfahrungen und individuellen Schwierigkeiten bei diesen Versuchen. Die Lehrperson moderiert und gibt Input, um gezielt Schwierigkeiten oder Verständnislücken zu beheben.
A3.5 Erwähnte Literatur
Herndon, J. (1971). Die Schule überleben. Stuttgart: Klett.
A4 DIE LEHRPERSON ALS LERNMODELL
Zweite Variation zum Rezept A1 Handeln vorbereiten
Viele Kapitel dieses Buches sind so geschrieben, dass Sie sie unabhängig voneinander lesen können. Dieses Kapitel hingegen ist vermutlich nur verständlich, wenn sie vorher A1 Handeln vorbereiten gelesen haben.
A1 Handeln vorbereiten geht davon aus, dass die Lehrperson gegenüber den Lernenden hinsichtlich des Vorgehens einen Wissensvorsprung hat. Nur so kann sie beispielsweise im Schritt 5 ein professionelles Modell abgeben. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich in der Vergangenheit in der Gesellschaft Wissen anhäufte, war diese Annahme bisher meist realistisch. Aber mit der stetigen Beschleunigung der technologischen Entwicklung trifft sie nicht immer zu. Und es ist zu erwarten, dass die Momente, in denen Lehrpersonen in der Berufsbildung gegenüber ihren Lernenden einen entsprechenden Wissensvorsprung haben, weiter abnehmen werden.
Aktuell wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Arbeitswelt, mit Industrien 4.0 (Deutschland), mit Industrie 2025 (Schweiz), darüber diskutiert, welche neuen Wissensinhalte und Fertigkeiten man den Lernenden mitgeben sollte. Entsprechende Prognosen sind aber schwierig zu machen. Im Jahre 2007 konnte niemand voraussehen, dass schon kurze Zeit später alle mit ihrem Telefon Fotos machen würde. Genauso wenig lässt sich momentan und wohl auch in absehbarer Zukunft vorhersagen, welche Anforderungen Arbeitsplätze nur schon in wenigen Jahren stellen werden. Entsprechend fehlt den Lehrpersonen die notwenige Vorlaufzeit, um sich einen Wissensvorsprung zu erarbeiten, ganz zu schweigen von den Organisationen der Arbeitswelt (OdA), die ihre Bildungspläne entsprechend anpassen möchten.
Sinnvoller, als im Kaffeesatz zu lesen, scheint es deshalb, sich grundsätzlich Gedanken darüber zu machen, wie in der Berufsbildung Lehrpersonen auch ohne den üblichen Wissensvorsprung guten Unterricht machen können (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit).
A4.1 Wenn die Lernenden einen Wissensvorsprung haben – ein einfaches Beispiel
Schreiner, die eine Einbauküche einbauen, haben folgendes Problem: Ist die Ecke perfekt rechtwinklig, in die die Küche eingepasst werden soll, lassen sich vorgefertigte Standardprodukte sauber einbauen. Weicht der Winkel aber auch nur wenig von 90 Grad ab, sind Anpassungen notwendig. Schreiner müssen deshalb ab und zu einmal überprüfen, ob zwei Mauern rechtwinklig aufeinandertreffen.
Der traditionelle Wissensvorsprung der Fachlehrperson besteht darin, dass sie zu diesem Zweck den Satz des Pythagoras (Abbildung 1, Variante a) kennen. Man bildet dazu in der entsprechenden Ecke am Boden ein Dreieck, von dem zwei Seiten mit den beiden aufeinandertreffenden Mauern zusammenfallen. Dann misst man die Längen zweier Seiten dieses Dreiecks und berechnet aufgrund dieser Daten, wie lange die dritte Seite wäre, wenn es sich um ein rechtwinkliges Dreieck handeln würde. Stimmt die gemessene Länge der dritten Seite mit der errechneten Länge überein, dann ist das Dreieck tatsächlich rechtwinklig.
Die Rechnerei kann man sich sparen, wenn man geeignete Dreiecke bildet, für die die Seitenverhältnisse bekannt sind. Schon im alten Ägypten wurden dazu Dreiecke mit den Verhältnissen 3 : 4 : 5 eingesetzt. Praktisch üblich sind 30cm : 40cm : 50cm oder 60cm : 80cm : 100cm (Abbildung 1, Variante b).

Abbildung 1: Drei Methoden zur Überprüfung eines rechten Winkels
Dieser traditionelle Wissensvorsprung der Lehrperson verflüchtigt sich, wenn plötzlich die Lernenden auf ihren Smartphones eine App in den Unterricht mitbringen, die das Problem grafisch löst. Auf dem Bildschirm ist ein typisches rechtwinkliges Dreieck zu sehen (Abbildung 1, Variante c). Man legt das Smartphone so vor sich hin, dass der rechte Winkel in die zu untersuchende Ecke zeigt. Dann misst und markiert man an den beiden Wänden zwei beliebige Längen ausgehend von der Ecke und trägt die Werte in der Grafik an der entsprechenden Stelle ein. Die Länge der dritten Seite wird automatisch angezeigt und kann überprüft werden.
Die Lehrperson kann ihr Wissen nun zwar noch einsetzen, um zu erklären, warum die App funktioniert (bis hin zum Beweis des Satz’ des Pythagoras, wenn sie das möchte). Für den korrekten Gebrauch der App ist dies aber überflüssig.
A4.2 Ganz ohne Wissensvorsprung?
Dass Lehrpersonen plötzlich ganz ohne Wissensvorsprung auskommen müssen, ist allerdings zu radikal gedacht. Denn gut ausgebildet werden sie immer in drei Punkten über Wissen verfügen, das ihren Lernenden so nicht zur Verfügung steht:
Methodisch-didaktisches Wissen: Lehrpersonen wissen, wie man in Gruppen Lernprozesse organisiert – auch dann, wenn sie fachlich nicht über den traditionellen Wissensvorsprung verfügen. Dieser Text ist ein Versuch, solch methodisch-didaktisches Wissen bereitzustellen. Im Beispiel oben würde der Lehrperson dieses Wissen helfen, die Nutzung der App als neuen Aspekt, den die Lernenden mitbringen, sinnvoll in den Unterricht einzubeziehen.
Fachliches Hintergrundwissen: Wissensentwicklung ist nicht revolutionär, sondern evolutionär. Dadurch, dass neues fachliches Wissen wichtig wird (wodurch die Lehrpersonen unter Umständen ihren Wissensvorsprung verlieren), wird das «alte» fachliche Wissen nicht obsolet. Mit diesem Wissen kann die Lehrperson den Lernenden helfen, neue Entwicklungen einzuordnen und zu verstehen. Im Zusammenhang des einleitenden Beispiels ist der Satz des Pythagoras immer noch gültig und findet in der App Anwendung.
Praktische Erfahrungen: Auch im praktischen Bereich sind die Erfahrungen, die die Berufsschullehrpersonen aus ihrer eigenen Tätigkeit als Berufsleute mitbringen, nicht plötzlich wertlos. Sie können der Lehrperson helfen, die Lernenden dabei zu unterstützen, das neue Vorgehen nicht nur theoretisch zu verstehen, sondern tatsächlich im praktischen Alltag einzusetzen. Im Beispiel oben stellt sich die Frage, wie genau gemessen werden muss – unabhängig davon, ob man mit Papier und Bleistift oder mit der App arbeitet.
All dieses Wissen qualifiziert Lehrpersonen, Unterricht durchzuführen und den Lernenden zu helfen, ohne im traditionellen Sinn über einen Wissensvorsprung zu verfügen (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit).
A4.3 Ein Rezept in fünf Schritten
Das Rezept ist nicht wirklich erprob, wenn es auch stark auf den mit Handeln vorbereiten gemachten Erfahrungen aufbaut. Rückmeldungen über Verständlichkeit und Nützlichkeit sind daher sehr erwünscht!
Im Zentrum stehen:
• Eine bestimmte Situation (wie «Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten»), deren Bewältigung die Lernenden am Ende ihrer Ausbildung beherrschen müssen.
• Ein neues Vorgehen, das von den Lernenden in den Unterricht eingebracht wird und das die Lehrperson nicht kennt.
Neue Vorgehensweisen können die Lernenden unmittelbar im betrieblichen Alltag von anderen Mitarbeitenden lernen. Sie können sie auf eigene Faust oder im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen im Internet entdecken. Oder vielleicht bekommen sie die Gelegenheit, an einer betrieblichen Weiterbildung teilzunehmen, bei der beispielsweise die ganze Belegschaft im Umgang mit neuen Maschinenmodellen geschult wird.
Da die Lehrperson das neue Vorgehen noch nicht kennt, gerät sie in die Rolle einer Lernenden. In diesem Moment sollte sie genau das tun, was gute Lernende auszeichnet: einerseits das neue Wissen mit dem vorhandenen verbinden und andererseits Anwendungsfragen und Anwendungsprobleme klären. In dieser Rolle dient sie den Lernenden als Modell, indem sie öffentlich und zusammen mit der ganzen Klasse dazulernt.
Schritt 1: Kontext sicherstellen
Die Lehrperson stellt sicher, dass alle von derselben Situation ausgehen. Bringt also jemand die App aus dem Beispiel spontan in den Unterricht mit, könnte eine erste Frage der Lehrperson lauten: «Moment, in welcher Situation soll das nützlich sein?»
Schritt 2: Verständnissicherung
Die Lehrperson versucht, das neue Vorgehen selbst einzusetzen. Sie lässt sich dabei von den Lernenden so lange helfen, bis sie sicher ist zu verstehen, wie dieses Vorgehen funktioniert. Sie ermuntert die anderen Lernenden dasselbe zu tun.