- -
- 100%
- +
Am Sonntagmorgen stieg Kristina gleich nach dem Frühstück ins Auto. Fast schon automatisch fuhr sie diese Strecke über den Peenestrom zum Festland. Doch während sie in der Woche gleich nach der Schlossinsel links zum Kai abbog, fuhr sie heute nach rechts in Richtung Tannenkamp zum Friedhof. Nein, sie war kein regelmäßiger Friedhofsbesucher, doch heute war Totensonntag, da wollte sie dem Grab ihrer Mutter einen Besuch abstatten. Sie hatte sich damals, als die Mutter gestorben war, für ein kleines Urnengrab entschieden und es mit einer Einfassung und einer schlichten Marmorplatte versehen lassen, die nur wenig Raum für Bepflanzungen ließ. So musste sie nicht zwangsläufig, der Pflege der Blumen wegen, regelmäßig zum Friedhof fahren. Auch diesen Hang zum Praktischen hatte sie wohl von ihrer Mutter übernommen. Nun stand sie hier und blickte auf die Inschrift: Marianne Schmidmann 1939 – 1998 Mit einem Papiertaschentuch wischte sie über den kalten Stein. Sie legte das mitgebrachte Gesteck in Herzform auf die freie Stelle
der Grabplatte. Obwohl der Tod der Mutter recht plötzlich gekommen war, hatte sie immer gut damit umgehen können. Doch jetzt empfand sie den Verlust als tragisch und schmerzlich. In stiller Zwiesprache stand sie hier und hätte ihre Mutter anschreien mögen: Was hast du alles mit ins Grab genommen?
Langsam bummelte Kristina über den Friedhof, auf dem es heute vor Menschen nur so wimmelte. Sicher gab es einige, die auch nur am Totensonntag den Weg zum Friedhof fanden. Wenn sie in ihre alte Heimat fahren würde, dann musste sie unbedingt auch zum Friedhof gehen, nahm sie sich vor. Dass ihre Großeltern noch lebten, war nicht zu erwarten, aber Gräber müsste es doch geben. Sie könnte ja ein paar Tage dort bleiben, überlegte sie. Vielleicht kam dann die Erinnerung wieder. Oder es gab noch jemanden, der sich erinnerte, Nachbarn vielleicht oder Eltern von Mitschülern.
Ein deutliches Hungergefühl zeigte ihr, dass es Zeit wurde, etwas zu essen. Wie schön wäre es jetzt, nicht allein hier zu sein, dachte sie. Vielleicht war Mark ja auch allein und hatte noch nichts gegessen? Kristina nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte Marks Festnetznummer an. Sie ließ es einige Zeit klingeln und drückte dann den Anruf weg. Nein, von seiner Handynummer machte sie lieber keinen Gebrauch. Wenn sie ihn nicht daheim erreichen konnte, dann war er wohl anderweitig beschäftigt. Sie wollte ihn dann
nicht stören. So lange arbeiteten sie nun schon zusammen, doch eigentlich wusste sie so wenig über ihn. Kristina musste sich eingestehen, dass es nicht Marks Schuld war. Mehr als einmal hatte er den Versuch unternommen, mit ihr über private Dinge zu sprechen, doch sie selbst hatte immer wieder abgeblockt.
Gegenüber vom Friedhof lag das Gelände des Tierparks. Im ersten Sommer an der See war sie mit der Mutter einmal hier gewesen. Inzwischen hätte sie die schöne, parkähnliche Anlage mit Enkeln besuchen sollen, doch nicht einmal zu einem Kind hatte sie es gebracht. Es war ihr nie vorher so schmerzlich aufgefallen, wie allein sie war.
Schließlich fuhr sie mit dem Auto in die Innenstadt und suchte sich ein nettes Restaurant. Das Essen war sehr gut und vertrieb ein wenig ihre trüben Gedanken. Und überhaupt, morgen früh würde alles wieder seinen geordneten Gang gehen. Betont langsam fuhr Kristina zurück zur Insel. Sie hatte es nicht eilig. In ihrer Wohnung nahm sie sich ein Buch aus dem Regal und machte es sich gemeinsam mit Kater Toni auf dem Sofa gemütlich.
3. Kapitel
Zur gleichen Zeit klingelte fast 500 Kilometer entfernt ein Telefon.
»Schmidmann.«
»Hallo Karsten, hier ist Berit.«
»Hallo Berit! Möchtest du Andrea sprechen?«
»Nein, Karsten. Dich möchte ich sprechen«, erwiderte Berit am anderen Ende. »Ich habe nämlich gute Neuigkeiten.« Sie machte eine kleine Pause, um den ersten Teil ihrer Nachricht wirken zu lassen. »Kristina hat zugesagt, sie kommt zum Jahrgangstreffen.«
»Wirklich?!« Vor freudiger Überraschung bekam er kein weiteres Wort heraus. Er musste sich erst einmal fassen. Berit konnte sich gut vorstellen, was in ihm wohl jetzt vorging. Als sie selbst vor ein paar Jahren ihren Jugendfreund gesucht und wiedergefunden hatte, da war sie in diesem Moment auch zu keinem klaren Gedanken fähig gewesen. Jetzt war der Ehemann ihrer Kollegin, und inzwischen besten Freundin, Andrea in einer ähnlichen Lage.
»Ja, wirklich. Sie hat schon am Freitag gemailt, aber ich habe es erst heute gelesen. Ich habe unseren Paul wieder heimgebracht. Na, und die kleine Lina musste ich doch auch endlich begrüßen!«
»Ach ja, ihr seid ja wieder Großeltern geworden, ich gratuliere auch noch.« Karsten war froh, dass Berit ihm die Gelegenheit gab, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen und stieg dankbar auf ihr Thema ein. »Falls unser Benni nicht ebenso so ein Spätzünder ist wie ich, dann werde ich das hoffentlich auch noch mal erleben.«
Er war schon 40 gewesen, als er seine zehn Jahre jüngere Frau geheiratet hatte und ein paar Jahre später war Benjamin zur Welt gekommen.
»Bei Markus und Tanja dürfte die Familienplanung damit abgeschlossen sein«, mutmaßte Berit über ihren Sohn und dessen Frau, »und Julia und Sebastian werden sich wohl noch etwas Zeit lassen, schließlich ist Julia mitten im Studium.« Ihre Tochter war ja gerade erst 20, da hatte sie noch viel Zeit.
Inzwischen hatte sich Karsten wieder etwas gefangen.
»Mensch Berit, was mache ich denn jetzt? Nun, wo ich weiß, dass du Kristina aufgespürt hast und sie sogar kommen wird, kann ich es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen. Über 40 Jahre, was für eine lange Zeit! Hat sie noch etwas geschrieben? Wie geht es ihr und Marianne?« Die Ungeduld war ihm deutlich anzumerken.
»Nein, leider nichts weiter. Die Mail war sehr kurz gehalten. Ich werde ihr auf jeden Fall antworten, dass wir uns freuen, sie hier zu treffen. Vielleicht schreibt sie dann etwas mehr.«
»Ja gut, mach das.« Karsten hätte jetzt so viele Fragen gehabt, so viele Gefühle stürmten in diesem Moment auf ihn ein, doch er wusste auch, dass er sich und Kristina Zeit lassen musste.
»Du Karsten, lass uns später weiter reden. Ich möchte unbedingt noch kurz zum Friedhof fahren und es wird schon dämmrig«, versuchte Berit, ihm ihre Eile zu erklären.
»Na klar, fahrt nur.« Er verstand Berit, dass sie gerade am Totensonntag noch einmal zu den Gräbern wollte. Sie trauerte aufrichtig um ihre Eltern. Er hingegen verspürte überwiegend Abscheu. Wieviel Unrecht war ihm und Kristina und Marianne angetan worden.
Karsten hatte nicht bemerkt, dass Andrea ins Zimmer gekommen war. Zärtlich legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. Noch immer hielt er das Telefon in der Hand. Er drehte sich zu seiner Frau um. »Kristina kommt im Januar. Berit hat eben angerufen.« Seine große Freude, die er gerade noch empfunden hatte, war in Nachdenklichkeit umgeschlagen.
Andrea zog ihren Mann an sich. Sie kannte ihn jetzt seit 20 Jahren, da lebte ihre Schwiegermutter Annemarie noch, die von allen nur Annemie genannt wurde, und Schwiegervater Karl. Karsten war Andrea damals immer wie ein Einzelgänger erschienen. Mit fast 40 hatte er noch bei seinen Eltern gelebt. Durch Andrea änderte sich sein Leben, sie heirateten und waren überglücklich als Benjamin geboren wurde. Ein paar Jahre nach Benjamins Geburt war Annemie dann gestorben. Auf dem Sterbebett hatte sie Karsten das gut
gehütete Geheimnis anvertraut. Sie hatte ihrer Seele Luft gemacht, um ruhig sterben zu können, Karsten hatte es fast den Boden unter den Füßen weggerissen. Von da an war Karl für ihn nur noch »der Alte«. Geredet hatte Karsten nie wieder mit ihm, bis er starb.
Ja, und dann hatte Andrea mit Berit im Büro gesessen als diese anfing, ein Jahrgangstreffen vorzubereiten. Der Name Kristina Schmidmann ließ sie hellhörig werden. Karsten schien aus allen Wolken zu fallen, als Andrea ihrem Mann von Berits Suche nach ihrer Mitschülerin Kristina berichtete. Dann war auch der letzte Rest von dem aus ihm herausgebrochen, was er seit Annemies Tod mit sich herumtrug. Wie sehr wünschte er sich, Kristina wieder zu sehen. Nun könnte das in greifbare Nähe rücken.
Es war fast schon dunkel, da stand Berit mit ihrem Mann Daniel vor dem Grab ihrer Eltern. Sie hörte förmlich die Worte ihrer Mutter, als sie die Grabstelle vor drei Jahren, nach dem Tod ihres Gatten, erworben hatte: »Dann könnt ihr mich mal direkt neben meinem Heinrich begraben.« Zwar hatte sie den Herzinfarkt am Tag nach der Beerdigung noch gut überstanden, doch das Herz blieb angeschlagen. So war sie nur ein Jahr später ihrem geliebten Heinrich gefolgt. Da konnte auch die Liebe ihrer Familie die Lücke nicht schließen.
Berit war so froh gewesen, dass sie in diesem Jahr wieder mit ihrer Mutter ins Reine gekommen war. Längst hatte sie ihr verziehen, dass diese in ihrer Jugend die Briefe ihres Freundes unterschlagen hatte. Berit war, nachdem sie László endlich gefunden hatte, nach Ungarn gefahren und verlebte eine schöne Woche mit ihm. Doch danach war ihr klar geworden, dass man eine Jugendliebe nicht einfach zurückholen kann. Es war keine leichte Entscheidung gewesen, doch jetzt fühlte sich alles gut und richtig an. Daniel nahm Berits Hand und drückte sie sacht.
So sehr wünschte sie nun Andreas Mann, dass auch er noch seinen Frieden mit sich und der Familie finden möge.
4. Kapitel
Der Montag begann mit der üblichen Hektik. Doch während die meisten Kollegen lieber noch etwas länger Wochenende gehabt hätten, war Kristina froh, sich wieder im vertrauten Arbeitsalltag einzufinden. Der Trubel im Büro, das nervige Klingeln des Telefons, das Piepsen des Faxgerätes oder der Benachrichtigungston des Mailprogrammes, das alles hatte ihr gefehlt. Die Kollegen waren ihr in den Jahren ans Herz gewachsen. In Ermangelung einer eigenen waren sie ihre Familie geworden.
Als auch der letzte LKW, mit neuer Fracht versehen, unterwegs war, nahm Kristina ihre Kaffeetasse und ging hinüber zu Mark ins Büro.
»Ich habe dich gestern versucht zu erreichen«, begann sie ohne lange Einleitung. Wahrscheinlich hätte sie kein Wort gesagt, wenn sie es sich noch einmal überlegt hätte, was und wie sie etwas formulieren wollte. Das kannte sie schon, viel zu oft war es ihr passiert. Dann war der Moment vorbei und sie glaubte, an den ungesagten Worten ersticken zu müssen.
»Ja, ich habe es gesehen, als ich heim kam.« Mark lächelte sie an. »Aber es war wirklich zu spät, da wollte ich nicht mehr bei dir anrufen. Was gab es denn?«
»Ach nichts weiter.« Kristina winkte ab, überlegte es sich dann aber doch und fuhr fort: »Ich dachte, wir könnten gemeinsam zu Mittag essen, ich war auf dem Friedhof.«
»Na ja, auf dem Friedhof war ich auch«, erwiderte Mark. Doch noch ehe sich Kristina einen falschen Gedanken machen konnte, sprach er weiter. »Aber über 100 Kilometer entfernt, in Rostock. Mein Bruder und ich waren gemeinsam mit unserer Mutter am Grab von unserem Vater.«
Du hast es gut, dachte Kristina, sprach den Gedanken aber nicht aus, weil er ihr sofort unpassend erschien. Und doch wäre sie froh gewesen, wenigstens einen Vater auf dem Friedhof besuchen zu können.
Mark spürte, wie eine gewisse Melancholie plötzlich von seiner Kollegin ausging. Er hatte so etwas vorher nie bei ihr bemerkt, sie war immer so kühl, abgeklärt, fast gefühlsarm gewesen. Etwas musste passiert sein, was ihr Seelenleben durcheinander gebracht hatte. Sie war so anders, seit dem Tag, als sie morgens zu spät gekommen war. Nein, drängen würde er sie nicht, vielleicht kam sie doch noch von selbst auf ihn zu.
Routiniert erledigte Kristina ihre Arbeit. Manchmal hatte sie schon gedacht, dass sie funktionierte wie ein Uhrwerk. So lag dann auch pünktlich am Nachmittag der Wochenbericht für die Geschäftsleitung fertig ausgedruckt vor ihr und die Datei verließ ihr Postfach.
Als sie zum Feierabend vor die Tür trat, fröstelte sie. Der kalte Nordwind war etwas, woran sie sich einfach nicht gewöhnen konnte. Er war auch der Grund gewesen, weshalb sie sich von der Mutter hatte überzeugen lassen, ihre langen Haare abzuschneiden, obwohl sie darauf so stolz gewesen war. Wie ein winziger Funke glühte eine Erinnerung auf: Eine Hand, die ihr über das Haar strich und jemand, der zu ihr sagte, sie würde einmal allen Männern den Kopf verdrehen. So war es nicht gekommen, dachte sie, aber sie hatte ja auch keine langen Haare mehr gehabt.
Kristina war froh, als sie zuhause die Tür aufschloss und ihr der Kater schnurrend entgegen kam. Sie füllte dem Tier seinen Napf und brühte sich einen Tee auf, ehe sie den Laptop anschaltete. Sie hatte nicht viele Mailkontakte und war auch bei keinem sozialen Netzwerk angemeldet. Und eigentlich wusste sie auch nicht, warum sie damals auf dieser Seite für alte Schulfreunde gelandet war. Zumindest hatte das den Kontakt in ihre alte Heimat ermöglicht. Und prompt fand sie auch eine Mail von dieser Berit in ihrem Postfach vor. Was sie schrieb, kam Kristina zwar etwas komisch vor, aber andererseits war es auch schön zu lesen: »Hier wirst du viele alte Bekannte treffen und alle freuen sich auf dich!«
Sie überlegte, ob sie antworten sollte, konnte sich dann aber doch nicht dazu entschließen. Was hätte sie auch schreiben sollen, auf die Frage, wie es ihr ginge? Gut wäre im Moment nicht das passende Wort, schlecht aber auch nicht. Es gab so verdammt wenig zu sagen über sich. Das Wenige ließ sich dann beim persönlichen Treffen rasch in Worte fassen.
Als Kristina am nächsten Morgen erwachte, wusste sie noch, dass sie geträumt hatte, konnte aber nichts wirklich zusammen bringen. Es schien ihr, als hätte sie einen Puzzle-Karton mit 1000 Teilen vor sich und noch überhaupt keinen Anfang. Und es gab auch kein Bild, an dem sie sich orientieren konnte.
Also behielt sie das bei, was sie seit Jahren erfolgreich praktiziert hatte, sie versuchte, die Gedanken an die Vergangenheit zu ignorieren und sich der Gegenwart zu widmen. Sie strich ihrem Kater über das Fell und verabschiedete sich mit einem fröhlichen »Mach´s gut, Toni!« in Richtung Büro.
Auch wenn sie manchmal innerlich fluchte über diesen ganz normalen Wahnsinn, der sich tagtäglich im Speditionsgewerbe abspielte, so liebte sie doch ihren Beruf, der ihr nicht nur ein Auskommen sicherte, sondern auch schöne Momente bereitete. Kaum war sie in der Firma angekommen, als auch schon ihr Telefon klingelte.
»Guten Morgen, Frau Schmidmann!«, grüßte sie ihr Vorgesetzter und kam gleich darauf zum Grund seines Anrufes. »Sie denken doch daran, nachher den Tieflader loszuschicken?«
»Aber natürlich«, bestätigte Kristina die Frage. »Es ist alles in die Wege geleitet, wie man so schön sagt, alle Jahre wieder!«, fügte sie scherzhaft an. Schon in der DDR hatten sie den Weihnachtsbaum vor dem ersten Advent zum Rathausplatz transportiert. Meistens kam er aus einem der umliegenden Wälder. Doch in den letzten Jahren fanden sich immer öfter Leute, die ihren über Jahrzehnte gehegten und gepflegten Baum, der nun für den Vorgarten zu groß geworden war, der Stadt spendeten. Früher, als das Getreidelager noch zur Landwirtschaft gehörte, hatte ein Traktor das übernommen. Heute war es eine moderne Zugmaschine, die sonst im Hafen für den Containertransport eingesetzt wurde. In einer Stunde würde sich der Kollege auf den Weg machen und am Nachmittag konnte dann die Feuerwehr die Beleuchtung anbringen. Und wenn sie vielleicht am Sonntag einmal einen Bummel über den Weihnachtsmarkt machen würde, dann dachte sie daran, auch etwas zur weihnachtlichen Gestaltung der Stadt beigetragen zu haben.
Am Mittag saß Kristina wie fast täglich mit Mark zusammen. Der versuchte immer noch, das sich so seltsam veränderte Wesen seiner Kollegin zu durchschauen.
»Was meinst du«, sprach er sie deshalb an, »wir wollten doch mal wieder gemeinsam was essen gehen, was sagt dein Plan denn diese Woche?«
Kristina fühlte sich ertappt. Natürlich merkte Mark, dass sie etwas mit sich herumschleppte, sich noch mehr zurückzog als sonst. Sie mochte Mark, sehr sogar. Und vielleicht war es ja auch gar nicht so schlecht, mit jemandem zu reden.
»Du hast recht«, sagte sie dann auch zu Mark. »Wie wäre es am Freitag?«
»Ja, Freitag ist gut«, stimmte der ihr sofort zu. »Wohin wollen wir gehen?«
»Warte mal bis morgen, ich sage dir dann bescheid. Es geht ja nicht an, dass du mich immer einlädst, diesmal bin ich dran!«
»Na gut!« Mark lächelte verschmitzt. »Ich lasse mich gerne überraschen und bin gespannt.«
Auf der Heimfahrt führte Kristina ihr Weg zuerst zu ihrem favorisierten Wellnesshotel. Obwohl es nun nicht gerade in der Saison war, schien es ihr besser, für den Freitagabend einen Tisch vorzubestellen. Schließlich sollte da nichts schief gehen, jetzt, wo sie sich schon auf das gemeinsame Essen mit Mark freute. Sie spürte, wie ihr warm ums Herz wurde bei dem Gedanken.
Während sie allein mit sich und Kater Toni ihr Abendessen einnahm, überlegte sie schon, was sie am Freitag anziehen sollte. Ihre üblichen Jeans mit T-Shirt oder Pullover kamen wohl nicht infrage. Aber noch waren es ja zwei Tage, an denen sie ihre Garderobe aufbessern konnte.
Da der Fernseher ihr nicht die erhoffte Unterhaltung bot, kuschelte sie sich wieder mit dem Stubentiger und einem Buch auf die Couch. Sie liebte lesen über alles. Im Laufe der Jahre hatten sich hunderte Bücher in den Regalen angesammelt. Sie besuchte aber auch oft die Bibliothek, und seit einiger Zeit besaß sie einen EbookReader, der es ihr ermöglichte, sehr schnell online neuen
Lesestoff zu beschaffen. Nun ließ sie sich entführen in die historische Biografie, die sie später bis in ihre Träume beschäftigte und keinen Raum für ihre eigene Lebensgeschichte ließ.
Es war noch stockdunkel, als das Piepsen des Weckers sie aus den Träumen riss. Eigentlich mochte Kristina den Winter nicht besonders. Sie wusste nicht einmal, warum überhaupt. Im Sommer, da ließ sie sich von den ersten Strahlen der Sonne wecken, die in ihr nach Osten gerichtetes Schlafzimmer fielen. Die Terrasse lag nach Westen und von ihr konnte man die tollsten Sonnenuntergänge sehen, die die Ostsee zu bieten hatte. Doch in der kalten Jahreszeit erlebte sie hier kaum Licht, geschweige denn Sonne. Sie fuhr zur Arbeit, wenn es noch dunkel war und kam zurück, wenn es schon wieder dunkel war. Und die Kälte setzte ihr auch mehr zu als anderen. Welch ein Glück, dass ihr neues Auto über eine Sitzheizung verfügte, die ihr die Fahrt zur Arbeit angenehmer machte.
Auch deshalb fühlte sie sich in ihrem Büro so wohl. Der alte Speicher am Kai, in dem sich die Büroräume befanden war ein wunderbarer, alter Bau, in dem es im Sommer fast klimatisiert wirkte und der im Winter die Wärme einschloss. Da sie allein im Zimmer arbeitete, musste sie sich auch mit keinem anderen über die Temperatur einigen. Nur Mark stöhnte manchmal, wenn er zu ihr kam, welche Hitze doch bei ihr war. Hier hätten Eisblumen keine Chance gehabt. In ihrer Kindheit, da hatte es Eisblumen am Fenster gegeben, daran erinnerte sie sich plötzlich wieder. Alle ihre Erinnerungen fühlten sich irgendwie kalt an. So, als wäre es nie Sommer gewesen.
»Träumst du?« Mark war ins Büro gekommen und sah seine Kollegin nachdenklich an.
»Nein, nein«, beeilte sich Kristina zu versichern, »ich war nur in Gedanken.« Sie setzte ein demonstratives Lächeln auf und wechselte das Thema. »Am Freitag unser Essen geht klar. Ich habe im Strandhotel einen Tisch reserviert.«
Mark ging auf den Themenwechsel ein und lächelte ebenfalls. »Ich freue mich!« Und das meinte er wirklich so. Er hoffte so sehr, seine Kollegin einmal etwas aus der Reserve locken zu können. Da musste doch noch etwas unter dieser glatten Oberfläche sein, das spürte er ganz genau.
Der Tag verging für Kristina heute zu langsam. Eigentlich war sie froh, darüber, dass es nur ein halbes Dutzend Sattelzüge gab, die sie einsetzen und abrechnen musste, aber so in der Mitte der Woche floss alles ruhig dahin, die Fahrer arbeiteten den Plan ab. Sie waren ein eingespieltes Team und hatten seit Jahren feste Auftraggeber. Das brachte Ruhe in den Arbeitsalltag. Doch heute verging die Zeit einfach nicht. Sie wollte doch gleich nach Feierabend noch ins Kaufhaus fahren, um sich wenigstens eine hübsche Bluse zu kaufen. Oder vielleicht
doch ein Kleid? Nein, dann würde sich Mark nur wundern. Egal, nachher würde sich schon etwas finden.
Entsprechend motiviert fuhr Kristina dann später ins Zentrum der Stadt. Doch nicht im Kaufhaus wurde sie fündig. In einer kleinen Boutique erstand sie eine cremefarbene, langärmlige Tunika, die, obwohl sie locker geschnitten war, ihren immer noch wohlproportionierten Körper dezent zur Geltung brachte. Dazu passte die dunkle Stoffhose, die für besondere Anlässe zuhause im Schrank hing.
Da sie gleich am Markt noch im Restaurant gegessen hatte, musste sie sich heute keine Gedanken über das Abendessen machen. Es machte aber auch gar keinen Spaß, immer alleine zu essen. Kochen war sowieso nicht ihre Lieblingsbeschäftigung, und so ging sie auch an den Wochenenden oft in eine Gaststätte in der Nähe. Oder sie fuhr über die Grenze nach Polen. Dort gab es auch gutes Essen, noch dazu recht preisgünstig. Vielleicht sollte ich mal wieder rüber fahren, dachte sie so bei sich und vor ihr inneres Auge schob sich das Bild aus Mutters Schachtel. Doch erst einmal freute sie sich auf den Abend mit Mark.
Der Donnerstag verging dann ohne nennenswerte Höhen und Tiefen. Die Arbeit floss so dahin, wie vor dem Fenster der feine Nieselregen. Da war ihr der erste Schnee vor einer Woche fast noch lieber gewesen, solange es nur nicht zu kalt wurde.
Am Freitagmorgen schaltete Kristina den Rechner an und verschaffte sich, wie jeden Tag, erst einmal einen Überblich über die Standorte der Fahrzeuge. Aber so, wie sie es einschätzte, sah es sehr gut aus. Spätestens am Nachmittag sollten sich alle wieder auf dem Hof einfinden. Das klappte bei Weitem nicht an jedem Freitag. Oft wurde es Samstag früh oder sogar Mittag, ehe der Letzte eintrudelte. Ganz selten kam es auch vor, dass mal ein Fahrzeug gar nicht in Richtung Norden fahren konnte und am Wochenende dann irgendwo in Bayern stand. Das tat Kristina zwar immer etwas leid, hatten doch die meisten ihrer Kollegen eine Familie, doch es war dann nicht zu ändern. Heute aber wertete sie den Stand der Dinge als gutes Omen. Auf gar keinen Fall wollte sie heute länger im Büro bleiben oder sich von zuhause aus noch mal im Internet einloggen.
Den ganzen Tag über war da ein Kribbeln in ihrem Bauch und als sie zum Mittag Mark gegenüber saß, empfand sie eine leichte Aufregung, wie Kristina sie noch nie im Zusammensein mit Mark gespürt hatte. Haben wir jetzt so was wie ein Date, stellte sie sich irritiert die Frage. Und als sie sich mit einem lockeren »Bis nachher!« von Mark verabschiedete, da klang das gar nicht so locker, wie es klingen sollte.
Mark amüsierte sich über das Verhalten seiner Kollegin ein wenig. Da schien doch die harte Schale langsam einen Riss zu bekommen.
5. Kapitel
Mark hatte schon ein paar Minuten vor dem Strandhotel gewartet, als er Kristina um die Ecke kommen sah und ihr entgegen ging. In der Hand hielt er eine rote Rose und fühlte sich damit etwas unsicher. Schon lange hatte er kein Rendezvous mehr gehabt und er wusste auch nicht, wie Kristina darauf reagieren würde.
»Oh, ist die für mich?« Erfreut lächelte sie ihm zu.
»Die ist schön!«
»Eine schöne Rose für eine schöne Frau!« Mark küsste sie leicht auf die Wange.
»Danke!« Kristina errötete. Was war das hier? Sie fühlte sich eher wie ein Schulmädchen mit dem ersten Freund als eine gestandene Frau mit ihrem Kollegen.
Gemeinsam betraten sie das Hotel. Galant nahm Mark ihr die Jacke ab und geleitete sie, dem Kellner folgend, zum Tisch.
»Darf ich Ihnen die Blume abnehmen und ins Wasser stellen?« Der Kellner hatte inzwischen die Kerze auf dem Tisch entzündet und brachte die Rose in einer Vase zurück zum Tisch.
»Wünschen Sie einen Aperitif?« »Gerne.« Beide nickten. Während Kristina einen Campari Orange wählte, entschied sich Mark für einen Campari Soda. Der leichte Alkoholgehalt wirkte beruhigend und als sie dann in der Speisekarte blätterten, schwand Kristinas Nervosität immer mehr. Sie verzichteten auf eine Vorspeise, ließen sich aber den kleinen Gruß aus der Küche, Baguette-Scheiben mit Frischkäse, gut schmecken.