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Gerd-Klaus Kaltenbrunner
URSPRÜNGE UND PORTRÄTS
Band II
herausgegeben
von
Magdalena S. Gmehling

Umschlaggestaltung: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at
Umschlagabb. Vorderseite: Castel del Monte, Apulien
(Berthold Werner / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0; bearbeitet)
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Textnachweis: Es handelt sich bei den in diesem Buch abgedruckten Texten um ausgewählte und originalgetreu abgedruckte Essays aus Gerd-Klaus Kaltenbrunners dreibändigem Sammelwerk „Vom Geist Europas“ (Asendorf 1987, 1989, 1992). Beigegeben wurde Kaltenbrunners Porträt Jakob Böhmes aus dem ersten Band der vorangegangenen Trilogie „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ (Heroldsberg bei Nürnberg 1981).
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ISBN 978-3-99081-010-1
eISBN 978-3-99081-056-9
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© Copyright by Ares Verlag, Graz 2019
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Inhalt
Pythagoras
Himmelsmusik und Harmonie der Seelen. Idee und Wirkung eines Ordens
Sokrates
Das schöne Wagnis, den Tod vom Leben her zu verstehen
Cicero
Staatsmann, Humanist und Repräsentant altrömischer Religiosität
Vergil
Dichter des Ausharrens unter den Tränen der Dinge
Ovid
„Sogar Götter entstehn durch Gedichte …“
Apollonios von Tyana
Weisheitslehrer und Wundertäter in Wendezeit
Boethius
Der eingekerkerte Staatsmann im Zwiegespräch mit Frau Philosophie
Schota Rustaweli
Um Georgien die Ehre zu geben
Ramon Llull
Troubadour Gottes aus Mallorca und Pionier christlich-islamischer Bewegung
Meister Eckhart
Lehrer der Gelassenheit und der Entgötzung Gottes
Himmelstürmende erdverbundene Mystik Spaniens
„Man hat keinen Grund, Schwäche zu zeigen …“
Jakob Böhme
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen
Barockes Welt-Buch „Der abenteuerliche Simplicissimus“
Emanuel Swedenborg
Ein Naturforscher, der mit Engeln diskutierte
Edmund Burke
„Ein revolutionäres Buch gegen die Revolution“
Edward Gibbon
Weltgeschichte Europas zwischen Ruinen oder Wann ist Rom wirklich untergegangen?
Friedrich W. J. Schelling
Klassiker romantischer Philosophie
Clemens Brentano
Drei Begegnungen
Justinus Kerner
Geisterseher, Melancholiker und Humorist aus Schwaben
Carl Gustav Carus
Seelenforscher und Ökologe in der Nachfolge Goethes
Jean-Henri Fabre
Der Homer der Insekten
Eduard von Hartmann
Der Philosoph des Unbewußten
Alfred North Whitehead
Mathematiker, Homo religiosus und Entzifferer des Weltprozesses
Miguel de Unamuno
Baskischer Denker der Hispanität im Zeichen Don Quijotes
Pavel Florenskij
Ein russischer Leonardo da Vinci und Troubadour der Göttlichen Weisheit
René Guénon
Vermittler der Urtradition
Lucian Blaga
Seele Rumäniens und Vision des All-Lebens
Lettland als Raum der Poesie
„Was ewig ist, kann schweigen …“
Pythagoras
Himmelsmusik und Harmonie der Seelen Idee und Wirkung eines Ordens
Wetteifer aller Ichs, den Gedanken zu finden, der über der Menschheit stehen bleibt als ihr Stern.
Nietzsche
Am Ursprung der griechischen — und damit der europäischen — Philosophie stehen keine Universitäten, Kongresse und Seminare, sondern Tempelweistümer, Theophanien und mystische Bruderschaften. Thales, dem die Ansicht zugeschrieben wird, daß der Urgrund der Dinge im Wasser bestehe, hat auch gesagt, „daß alles von Göttern voll” sei. Heraklit war der Sohn eines Hohenpriesters, dem das Vorrecht zustand, sich mit königlichem Purpur kleiden zu dürfen. Seine Schrift über das Wesen der Welt hinterlegte Heraklit im Tempel der Göttin Diana zu Ephesos. Empedokles wirkte als von den orphischen Mysterien beeinflußter Sühnepriester und Seelenwanderungsprophet. Parmenides aus Elea (heute Castellamare di Veglia) in Unteritalien schildert zu Beginn seines Lehrgedichts, wie er, von „Sonnenmädchen” geleitet, auf fliegendem Rossegespann aus der Welt des Dunkels in ein Lichtreich entrückt wurde, wo die ihn die Wahrheit lehrende Göttin wohnt. Pythagoras, von der Insel Samos stammend, ließ sich in ägyptische, babylonische, iranische und, wie sich von selbst versteht, auch in griechische Mysterien einweihen. Wie Buddha, Sokrates und Jesus keine Schriften hinterlassend, übereignete er seine Lehre treuhänderisch einem ordensähnlichen Geheimbund, dessen Zentrum die griechische Pflanzstadt Kroton an der östlichen Küste Süditaliens war. Von Pythagoras ließ sich vor allem auch Platon beeinflussen. Die platonische Akademie wie die meisten späteren Philosophenschulen der Antike waren mehr als bloße Wissensvermittlungsanstalten. Sie stellen fast durchweg kultische Verbände mit eigenen Altären, Opfern und Heiligtümern dar, um einen Gott, Heros oder vergöttlichten Meister gescharte Gemeinden mit esoterischer Disziplin, Liturgie und Kalendarium. Der Streit um den Kern der nur mündlich einer eingeweihten Elite von Adepten als Geheimwissen anvertrauten Lehre Platons bewegt noch immer die Philosophiehistoriker. Die grandiose Kosmologie, die Platon in seinem dialogischen Alterswerk „Timaios” entwirft, hat in unserm Jahrhundert fortgeschrittener Naturwissenschaft wieder die Bewunderung philosophierender Physiker erregt; die namhaftesten unter ihnen sind der Brite Alfred North Whitehead und der Deutsche Werner Heisenberg.
Den Hauptteil des erdachten oder, wie ich mit guten Gründen vermute, weitgehend auf einer wirklichen Unterredung beruhenden philosophischen Gesprächs bildet der Vortrag des als Gast in Athen weilenden Pythagoreers Timaios.
Er stammt aus der von Lokrern an der Ostküste Unteritaliens gegründeten Kolonie Lokroi (heute Locri), also aus „Großgriechenland”, Magna Graecia, der Megále Hellás. Es ist dies jenes Gebiet im Süden der Apenninenhalbinsel, das von Kyme (Cumae) bei Neapel und Poseidonia (Paestum) in Lukanien bis Tarent (Taranto), und von Tarent bis Rhegion (Reggio di Calabria) und Terina (San Eufemia) reicht und auch die Insel Sikelia (Sizilien) mit den Städten Akragas (Agrigent), Syrakusai (Siracusa), Katane (Catania), Tauromenion (Taormina) und Messene (Messina) umfaßt. Es war seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert von Griechenland aus besiedelt und „kolonisiert” worden und wurde kulturgeschichtlich zum strategischen Brückenkopf hellenischen Geistes in Italien und damit zum Vermittler griechischer Mythologie, Kunst, Wissenschaft und Philosophie an die römische Welt.
In diesem jahrhundertelangen Prozeß kommt dem Pythagoreismus eine überragende Rolle zu. Ohne zu übertreiben, kann man sagen, daß am Ursprung italischer Philosophie und Naturforschung, einschließlich Mathematik und Medizin, der von Samos nach Kroton ausgewanderte Inselgrieche Pythagoras steht. Ihm folgen dann Xenophanes, Parmenides, Empedokles und eben auch der im gleichnamigen platonischen Dialog auftretende Philosoph Timaios, der den Athenern die pythagoreische Lehre vom Ursprung des Kosmos, von der Weltseele und Harmonie der Sphären vortrug. Es ist zwar heute üblich, diesen aus Lokroi stammenden Timaios für eine von Platon erfundene Figur zu halten, was ich für ungefähr ebenso sinnvoll und aufschlußreich halte wie die historisch-kritische Behauptung, daß der Sänger der Odyssee nicht Homer, der Verfasser des Johannesevangeliums nicht Johannes und der Schöpfer der Shakespeareschen Dramen nicht Shakespeare hieß. Meinetwegen mögen sie anders geheißen haben, was tut es schon zur Sache? Wenn es um Werke dieser Art geht, gilt ewig nicht die Nörgelei geistblinder Pedanten, sondern der mitternächtliche Jubel der liebeentzückten Julia:
Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,
Wie es auch hieße, würde lieblich duften;
So Romeo, wenn er auch anders hieße,
Ihm bliebe doch der köstliche Gehalt,
Der einmal sein ist, auch ohne jenes Wort.
Mag nun der Überbringer pythagoreischer Kosmologie Timaios oder anders geheißen haben, was eine drittrangige Frage ist, so steht jedenfalls fest, daß der Platonismus neben dem sokratischen und morgenländischen Element auch einen mindestens ebenso schwerwiegenden Bestandteil von Pythagoreismus enthält. Dieses drittgenannte Ingrediens hat um so mehr Gewicht, als vieles, was man als den „Orientalismus” Platons bezeichnen kann, ihm über die Schule des Pythagoras zugekommen ist oder zumindest von Quellen abstammt, aus denen auch der Stammvater des Pythagoreismus geschöpft hat.
Sowenig an der geschichtlichen Wirklichkeit der Gestalt des Pythagoras zu zweifeln ist, so dürftig sind die im Sinne moderner Historiographie zuverlässigen Nachrichten über sein Leben und seine Philosophie. Das erklärt sich daraus, daß, wie schon gesagt, Pythagoras keine Schriften verfaßt hat oder daß zumindest keine von ihm bekannt geworden sind. Wir besitzen keine einzige Zeile von seiner Hand. Wenn er Bücher geschrieben hatte, dann mußten sie jedenfalls zu den bestgehüteten und nur wenigen Auserwählten zugänglichen Schätzen seines Geheimbundes gezählt haben. Was wir über ihn und seine Lehre mit Sicherheit wissen, geht auf einige Abtrünnige zurück, dann auf vereinzelte Anekdoten in den Fragmenten anderer Vorsokratiker und schließlich auf Herodot und Platon; hinzu kommen noch etliche stark wahrscheinliche, vielleicht aber auch von ihm nicht mehr recht verstandene Nachrichten bei Aristoteles. Jamblichos’ Buch über das Leben des Pythagoras ist erst ungefähr achthundert Jahre nach dem Tode des Philosophen verfaßt worden; sein Autor hat allerdings viele ältere Quellen ausgewertet. Der sogenannte Pythagoreische Lehrsatz, demzufolge bei einem rechtwinkeligen Dreieck der Flächeninhalt des Quadrates über der Hypotenuse c gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten a und b ist (a 2 + b 2 = c 2), war schon vor ihm den Babyloniern bekannt; und zum Beweis für die Richtigkeit des Satzes fehlten Pythagoras die dafür notwendigen mathematischen Grundlagen.
Pythagoras war der Sohn des auf der Insel Samos ansässigen Goldschmiedes und Kaufherrn Mnesarchos. Ob er auf Samos oder in Tyros geboren wurde, wohin seine Mutter den Vater auf einer Geschäftsreise begleitet hatte, ist strittig. Als sein Geburtsjahr kann man 570 annehmen; manche Berechnungen lassen ihn früher (um 580), andere später (um 560) geboren sein. Doch sei dem wie immer, die jonische Insel Samos, auf der Pythagoras aufwuchs und — abgesehen von ausgedehnten Reisen nach Babylon und Ägypten — bis in seine reifen Mannesjahre blieb, zeichnete sich damals bereits durch eine hohe, teilweise schon sehr verfeinerte Kultur aus. Samier hatten an der Kolonisation in Perinthos, Amorgos und Naukratis teilgenommen, und bereits um 660 war Kolaios von Samos als erster Grieche bis zum Atlantischen Ozean vorgestoßen. Für den Wohlstand der Stadt zeugen der Ausbau des großen, von einer doppelten Säulenreihe umgebenen Tempels zu Ehren der Hera, die auf der Insel dreihundert Jahre lang in geheimer Ehe mit Zeus gelebt haben soll, die Stadtmauern, Hafenmolen und die berühmte Wasserleitung, die in einem etwa tausend Meter langen Tunnel durch den Stadtberg geführt war. Das Heraion auf Samos, das bedeutendste Heiligtum der Gemahlin des Göttervaters neben dem zu Olympia, galt als eines der sieben Weltwunder. Es besaß zahlreiche Nebenbauten, Altäre, Hallen, Badehäuser und Hunderte von kostbaren Weihegeschenken, darunter vor allem große Bronzekessel und Standbilder aus Marmor. An den Hof des reichen und luxusliebenden Tyrannen Polykrates, der von 538 (seit 532 allein) bis 522 regierte und, gestützt auf Söldner und eine starke Flotte, auch über viele Inseln und Küstenstädte Kleinasiens herrschte, kamen neben dem berühmten Arzt Demokedes die Dichter Anakreon und Ibykos.
In dieser Welt also wuchs der reiche Kaufmannssohn Pythagoras auf, der sich schon früh für religiöse und kosmogonische Fragen interessiert zu haben scheint. Er soll nämlich, so wird berichtet, sich mit achtzehn Jahren zunächst zu seinem Onkel auf die Insel Lesbos begeben haben, um dort die Unterweisung durch den von der kleinen Insel Syros stammenden Pherekydes zu genießen, der eine noch stark mythische Weltentstehungslehre darlegte, die mehr an die der Orphiker als die des Hesiod erinnert. Pherekydes hat als erster die Ansicht vertreten, daß die menschliche Seele unsterblich sei und immer wieder auf die Erde zurückkehre, um sich erneut zu verkörpern. (Cicero: Tusculanische Gespräche I 38). Diese Lehre, die damals nur in Indien ausdrücklich und systematisch formuliert war, wurde für Pythagoras von bestimmendem Einfluß. Zwei Jahre später besuchte Pythagoras in Milet auch den greisen Philosophen Thales. Auf dessen Rat hin, heißt es bei Jamblichos, sei er nach Sidon in Phönikien und dann weiter nach Ägypten gesegelt:
„In Sidon begegnete er den Nachkommen des Philosophen und Propheten Mochos und den übrigen phönikischen Hierophanten. Er ließ sich in alle Mysterien einweihen, die in Byblos, Tyros und in vielen Teilen Syriens in besonderer Weise begangen wurden.”
Bereits damals war Pythagoras mit einer ganzen Reihe von kultischen Geheimbünden in enge Verbindung getreten; ja es gelang ihm sogar, in sie als Myste aufgenommen zu werden. Doch die phönikisch-syrische Esoterik genügte ihm nicht. Sie erschien ihm bloß als Ableger viel älterer und ehrwürdigerer Geheimlehren und Mysterien, die von mächtigen Kollegien eifersüchtig bewahrt und nur wenigen Auserwählten nach langen Prüfungen zugänglich gemacht wurden: der ägyptischen Priesterweisheit, wie sie in Heliopolis, Memphis und Theben blühte. Jamblichos berichtet, zweiundzwanzig Jahre lang habe Pythagoras in engstem Umgang mit der ägyptischen Priesterschaft in Theben verbracht. Unter strengsten Bedingungen zu ihren Kulten zugelassen, sei er Stufe für Stufe in immer tiefere Geheimnisse eingeweiht worden. Als im Jahre 526 der Perserkönig Kambyses das Land der Pharaonen eroberte, wurde er, wenn wir Jamblichos glauben dürfen, mit Tausenden der angesehensten Ägypter, darunter auch zahlreichen Priestern, als Gefangener nach Babylon abgeführt. Doch kaum war er dort angekommen, gelang es dem mysteriendurstigen Griechen abermals, zu den nicht nur die Götterverehrung, sondern auch Mathematik, Musik und andere Wissenschaften pflegenden Priestern des fremden Landes Zugang zu finden. Er verkehrte dort, wie Jamblichos ausdrücklich sagt, mit den „Magiern, die an ihm dasselbe Wohlgefallen fanden wie er an ihnen.”
Diese „Magier”, mit denen er in Babylon verkehrte, bildeten eine Art Erbkaste von Priestern, vergleichbar den indischen Brahmanen und den israelitischen Leviten. Wenngleich ihre Beziehungen zur Religion Zarathustras noch immer nicht ganz geklärt sind, so steht jedenfalls fest, daß sie viele zarathustrische Riten und Gebräuche übernommen hatten und schließlich als Jünger des iranischen Propheten galten. Wie Herodot berichtet, deuteten sie Träume, prophezeiten durch Opferung weißer Rosse und sangen während der gottesdienstlichen Feiern religiöse Hymnen. Das Christentum lehnt zwar die Magie als heidnische Zauberei oder sogar als Teufelsblendwerk ab, doch im Evangelium nach Matthäus (2, 1-12) huldigen gottesfürchtige und sternkundige „Magier” (Magoi) dem vor kurzem geborenen Jesusknaben. Die im deutschen Raum meist „Heilige drei Könige” oder auch „Weise aus dem Morgenlande” genannten Besucher aus dem Osten waren Nachkommen jener Magier, von denen Pythagoras mehr als ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt Unterricht und Einweihung erhalten hatte. Trotz der stark legendenhaften Züge des Besuchs der Magier in Bethlehem, wo über dem Hause, in dem sich Maria mit dem Kinde befand, der Stern aus dem Osten stehenblieb, ist es nicht unwahrscheinlich, daß um die Zeitenwende auch die persische Priesterkaste der Magier davon gehört hatte, wie sehnsüchtig im Judentum ein Messiaskönig erwartet wurde. Es ist sogar möglich, daß sie ihn mit dem zarathustrischen Helfer (sausbyant) im Kampf zwischen Licht und Finsternis gleichsetzten und deshalb einige ihrer Mitglieder in die Fremde aufbrachen, um diesem Heilbringer zu begegnen.
Doch wie immer es um den geschichtlichen Kern des Evangelienberichts bestellt sein mag, sicher ist zumindest eines: die volkstümlichen „Heiligen drei Könige”, die seit dem neunten Jahrhundert die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar tragen, waren „Magier”, also Träger uralten Geheimwissens und Abkömmlinge jener sternkundigen Priesterkaste, die den aus Ägypten nach Persien verschleppten Griechen Pythagoras zwölf Jahre lang unterwiesen hatte. In den romanischen Sprachen ist, anders als im Deutschen, die Erinnerung an ihr Magiertum deutlich aufbewahrt. Im Italienischen heißen sie Re Maghi, im Französischen Rois Mages, im Spanischen Reyes Magos. Magier gehörten neben Engeln, Hirten und Tieren zu den allerersten Verehrern des neugeborenen Christusknaben.
Pythagoras hat also weite Reisen unternommen und in Phönikien, insbesondere aber in Ägypten und Babylon (das seit 539 zum Persischen Reich gehörte), mit religiösen Geheimbünden, Kultgemeinden und Priesterkasten intensive Beziehungen unterhalten. Mögen auch die Zeitangaben bei Jamblichos — 22 Jahre in Ägypten und 12 Jahre in Babylon — unglaubwürdig sein, so sind die Aufenthalte des Samiers in den beiden Ländern bereits durch Nachrichten aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert gut bezeugt. Der Redner Isokrates erwähnt die Ägyptenfahrt des Pythagoras; und der Pythagoreer Aristoxenos, der sich später Aristoteles anschloß, berichtet, daß Pythagoras mit Zaratos, das heißt Zarathustra (Zoroastres) zusammengekommen ist (vgl. B. L. van der Waerden: Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft. Zürich 1979). Herodot (Historien, II 123; IV 95) erwähnt, daß „einige Griechen” die altägyptischen Lehren vom Schicksal der Seele nach dem Tode übernommen hätten; daß er damit auch Pythagoras meint, kann aufgrund anderer Stellen seines eigenen Werkes (vgl. II 81) nicht bezweifelt werden.
Was aber hat Pythagoras in Ägypten und Babylon an Lehren und Kenntnissen empfangen? Jamblichos erwähnt Astronomie, Geometrie, Zahlenlehre und Musik, somit die vier typischen Wissenschaften der Pythagoreer. Doch mehr als die Unterweisung in Mathematik und Sternkunde, in welchen Disziplinen die Babylonier damals bereits weit fortgeschritten waren, betont Jamblichos das religiöse und mystagogische Element in den Studien des Meisters aus Samos. Er sagt, Pythagoras wurde in Ägypten „in alle Mysterien und Geheimkulte eingeweiht”; er genoß die „Sympathie der Priester und Propheten”; er durfte „in den allerheiligsten Gemächern” der Tempel weilen; er wurde von den Magiern genau unterrichtet „in allem, was heilig war”.
Dies sind aufschlußreiche Auskünfte, die zu der Vermutung berechtigen, daß sich Pythagoras — weit mehr als für naturwissenschaftliche Fragen — für die überlieferten Geheimlehren und das „heilige Wissen” priesterlicher Kasten und ähnlicher Kultverbände interessierte. Hier fand er so vieles, was schließlich in seine eigenen Lehren und in die Ordnung seines Bundes einging.
Zurückgekehrt nach Samos, wo der einst für so glücklich gepriesene Polykrates durch die Perser gestürzt und ans Kreuz geschlagen worden war (522 vor Christus), fühlte sich Pythagoras unter den völlig veränderten öffentlichen Verhältnissen seiner nunmehr unter iranischer Oberhoheit stehenden Inselheimat nicht mehr wohl. Wahrscheinlich litt er auch darunter, daß er mit seinen im Orient gewonnenen Lehren zu Hause nur wenig Anklang fand, als er, wie Jamblichos sagt, versuchte, „seine Unterweisung auf symbolischem Weg zu vollbringen, ganz wie er selbst in Ägypten ausgebildet worden war.” So verließ denn Pythagoras um 510 — nach anderen Berichten, darunter auch dem von Cicero (De re publica 2, 28), allerdings schon um 530, also noch unter dem Tyrannen Polykrates — wieder und diesmal endgültig sein Vaterland und fuhr über Kreta und Griechenland, wo er neben anderen Orten auch das Apollonheiligtum zu Delphi und Sparta besuchte, nach Unteritalien, wo es eine Reihe blühender Griechenstädte gab. Pythagoras war damals also entweder schon fast sechzig oder erst etwa vierzig Jahre alt, als er in der achaiischen Kolonie Kroton landete und sich dort niederließ. Kroton, das mächtigste Gemeinwesen der Magna Graecia, wurde zur Schicksalsstadt des ausgewanderten Inselgriechen. Erst hier fand er völlig den ihm wesensgemäßen Weg. Hier gelangte er dazu, all das, was er auf seinen Reisen an Lehren empfangen hatte, geistig wie politisch fruchtbar zu machen und selber vom Adepten morgenländischer Priesterweisheit zum Stifter eines eigenen staatsübergreifenden religiös-ethischen Ordens zu werden.
Als Pythagoras in Großgriechenland ankam, befanden sich zahlreiche der süditalischen Griechenstädte miteinander in Kriegszustand. Um 540 hatten die Stadtstaaten Kroton, Sybaris und Metapontion als Verbündete die kleine Stadt Siris besiegt und völlig zerstört. Anschließend griff Kroton die mit Siris verbündet gewesene Stadt Lokri an. Trotz der militärischen Übermacht der Krotoniaten gewannen die Lokrer die Schlacht. Die Niedergeschlagenheit der Besiegten war allgemein; man führte den Mißerfolg des Kriegszuges auf Zuchtlosigkeit, Verweichlichung und schlechte Führung zurück.