- -
- 100%
- +
Wie sehr die Renaissance als eine Fortsetzung der äußeren und oberflächlichen Formen des antiken römischen Lebens gesehen werden könnte, zeigt auch das erotische Treiben höchster kirchlicher Würdenträger im 14. Jahrhundert zu Avignon81 und im Rom des 16. und 17. Jahrhunderts, bei welchem man spontan an die erotischen Zustände im alten Rom, wie sie in den Gedichten von Catull, Tibull und Properz geschildert werden, denken muss. Die starke Nähe zur Antike zeigt sich auch in der Selbstverständlichkeit, mit welcher Homosexualität und andere Sexualpraktiken im Rom der Renaissance praktiziert worden sind. Vom wissenschaftlichen Geist der Antike und der christlichen Gesinnung des Neuen Testamentes spürt man im verarmten und nur etwas über 150.000 Einwohner umfassenden Rom dieser Zeit nur wenig.82 Man gewinnt eher den Eindruck, dass die römische Renaissance wieder unmittelbar an die sexuellen Gepflogenheiten der römischen Oberschicht der Antike, in welcher Sexualität vielfach wie ein Leistungssport betrieben wurde, anknüpfte. Ich erinnere nur an den „Sexmarathon“, welchen sich Messalina, die Frau von Kaiser Claudius, ‘erfolgreich’ mit einer römischen Oberhure im 1. Jahrhundert nach Chr. lieferte, und an die „Fischlein“ von Capri, die Kinder, welche Kaiser Tiberius auf Capri sexuell missbrauchte und sie von Zeit zu Zeit entsorgte, indem er sie über die 300 Meter hohen Klippen Capris hinabwerfen ließ.83
Und auf die wenig antike Erscheinung des alten Rom hat ja im 19. Jahrhundert bereits Ferdinand Gregorovius in seinem Buch über das mittelalterliche und moderne Rom aufmerksam gemacht.
Eine wichtige chronologische und historische Zäsur stellt das Jahr 1582 dar. In diesem Jahr gestaltete Papst Gregor XIII. mit Hilfe einer päpstlichen Kommission „ohne weltliche Interessenvertreter“ den julianischen Kalender so um, „so dass der Kalender vom 4. Oktober auf den 15. Oktober 1582 sprang.“84 Es gibt aber nach Serrade seltsamerweise neben einigen nicht mehr zu klärenden Ungereimtheiten keine überlieferten Zeugnisse zu den „rechnerischen Annahmen“ dieser Kalenderreform, was übrigens auch von lllig bemängelt wurde. Im Verlauf dieser gregorianischen Kalenderreform und der nachfolgenden Synchronisierung der außereuropäischen mit der neu geschaffenen europäischen Zeitrechnung durch Scaliger (15401609) kam auch das Kunstwort „Chronologia“ auf.85 Man muss davon ausgehen, dass sich bei der Umrechnung bzw. Angleichung der verschiedenen Zeitsysteme (z.B. altgriechische Olympiadenrechnung, römische Indiktionendatierung, altjüdischer Kalender etc.) Fehler eingeschlichen haben. Seit Scaliger (1540-1609) wurde übrigens die europäische und außereuropäische Chronologie nicht mehr auf Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit überprüft. Nachträgliche Fehlerkorrekturen der modernen Chronologie würden zu einem absoluten Chaos führen. Die „Richtigkeit“ der modernen Chronologie für die Zeit vor 1582 hat also nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern ganz allgemein in der breiten Öffentlichkeit den Charakter einer unumstößlichen Gewissheit.
Die Chronologiestudien der vergangenen Jahre lieferten darüber hinaus zunehmend Argumente für die Tatsache, dass mit der konventionellen Chronologie (u. Z.) etwas nicht in Ordnung ist. Ich gehe davon aus, dass die Chronologiestudien kommender Jahre weitere Klarheit in die europäische Geschichte der Antike und des Mittelalters bringen werden.
Was meine Arbeit betrifft, kann – trotz unsicherer chronologischer Grundlagen für Antike und Mittelalter – auf jeden Fall an der Wirksamkeit der jüdischen und christlichen Ideen bis in unsere Gegenwart nicht gerüttelt werden. Das heißt aber nicht, dass die bisherige Methodik der Geschichtswissenschaft mit der Zweitrangigkeit der Archäologie gegenüber der literarischen Geschichtsforschung weiterhin haltbar ist.
In der Geschichtsforschung waren bzw. sind bis heute Archäologie, Geologie und andere Sachwissenschaften nur sekundäre Disziplinen. Es gibt ja schon seit 1986 auf Seiten der Archäologie ernst zu nehmende Vertreter wie Timothy Champion und D. Austin, welche die Dominanz der schriftlichen Überlieferung über die Archäologie ablehnen. Die Feststellungen von Champion in seinem Vortrag von 1986 auf dem World Archaeological Congress in Southampton „Medieval archaeology and the tyranny of the historical record“ zur Beziehung von (schriftbezogener) Geschichtsforschung und Archäologie sind so lapidar und bedeutsam für eine künftige historische Methodik, dass ich diese hier wörtlich festhalten möchte:
„...das Programm für die Archäologie der historischen Perioden Europas [wird] von der Geschichtsforschung und deren Vorstellung von der Vergangenheit definiert … Nicht nur werden die auf archäologischen Quellen basierenden Forschungen in der Regel gegenüber den auf schriftlicher Überlieferung beruhenden als zweitrangig angesehen, sondern auch der gesamte konzeptionelle Rahmen von Fragestellungen und Ergebnissen wird begrenzt durch die Interessen der Historiker“.86
Es muss ausdrücklich festgehalten werden, dass es, wie gesagt, keinen Bereich gibt, in welchem so viel gefälscht und manipuliert wurde wie in der Historiographie. Der neue Denkansatz – zu welchem Davidson und Landau ganz wesentlich beigesteuert haben – sollte, wie oben beschrieben, also auch dazu beitragen, dass nicht nur alte Fälschungen erkannt und eliminiert, sondern auch neue Fälschungen und Erfindungen im Bereich der Geschichte vermieden werden.
Wie notwendig eine interdisziplinäre Kooperation z. B. im Rahmen der Kunstgeschichte nicht zuletzt bei historischen Sachquellen ist, zeigen die beiden fast identischen männlichen Büsten bei Gabowitsch. Die beiden Portraits „are dated with 14 centuries in between: a Roman portrait of AD 60 and a Renaissance portrait from the year 1474”.87 Im oben erwähnten Buch von Zhabinsky (Another History of Arts, S. 157) „hundreds of examples demonstrate, that a big part of Renaissance was set in ancient times by wrong dating traditions“ (Gabowitsch). Eine solche Rückprojizierung von der Renaissance in die Antike hält Gabowitsch auch bei der sog. Laokoongruppe88 für höchst wahrscheinlich. Bei mehr interdisziplinärer Zusammenarbeit lassen sich meines Erachtens krasse Fehldatierungen weitgehend eliminieren bzw. wenigstens auf ein erträgliches Maß reduzieren. Irrtümer dieser Art sind sicher nicht auf die Kunstgeschichte beschränkt und lassen sich, wenn auch nicht so spektakulär, für andere Bereiche der Geschichte beibringen. Auch die religiöse Ideen- und die Kulturgeschichte, auf welche sich die vorliegende Thematik vor allem bezieht, sind nicht gegen Irrtümer aller Arten gefeit. Ein besonders schwieriges Kapitel stellt, was die Wurzeln Europas betrifft, die Frage der jüdischchristlichen Symbiose dar.
Christlich-jüdische Symbiose?
Bei der Beurteilung der Juden durch die christliche Umwelt muss man sich, um zu einem objektiven Urteil zu gelangen, vor Augen halten, dass die uns überlieferten antijüdischen Gesetze, Regelungen, Erlasse weltlicher und kirchlicher Obrigkeiten nicht immer mit der tatsächlichen Behandlung jüdischer Menschen übereinstimmen. Vorindustrielle Epochen sind auch dadurch charakterisiert, dass gesetzliche Regelungen und Erlasse oft nur auf dem Papier standen und nicht befolgt wurden. ‘Potemkinsche Dörfer’ gab es also nicht nur in Russland. Wenn wir die auf uns gekommenen Quellen zur jüdisch-christlichen Geschichte, welche wie gesagt nicht immer objektiv und zuverlässig sind, auswerten, dann stellt man mit Erstaunen fest, dass es durchaus Epochen in der europäischen Geschichte gab, in denen Juden von den Christen weitgehend toleriert wurden und in denen es sogar Ansätze einer christlich-jüdischen Symbiose gab. Diese Phasen der Toleranz äußerten sich auch darin, dass sowohl Juden und Jüdinnen wie die heilige Teresa von Avila zum Christentum als auch Christen – vor allem auf dem Balkan und in Iberien – zum Judentum oder Islam konvertierten.
Bei der Analyse der christlichen Toleranz im Mittelalter ist auch zu beachten, dass die tolerantia des Mittelalters nicht immer und überall dem heutigen Begriff „Toleranz“ entspricht, sondern bei vielen mittelalterlichen Autoren, wie z.B. bei Wilhelm von Tyrus (+ 1186) und dem Spanier Rodrigo Ximénes de Rada (+ 1247), auch durch humanitas, humanus, moderatio, moderatus, discretus, clementia (clemencia), patientia (pacientia), patiens (paciens) und pacificus wiedergegeben werden kann.89 Von einer echten Toleranz im Sinne einer Gleichwertigkeit und –behandlung der Juden und Moslems kann allerdings bis weit in die Neuzeit hinein keine Rede sein. Die Toleranz der vorindustriellen Gesellschaft läuft also weitestgehend auf eine Duldung der „Anderen“ hinaus. Man musste die Juden und teilweise auch die iberischen Moslems schon deswegen dulden, weil vor allem die adelige und kirchliche Führungsschicht auf sie nicht zuletzt wirtschaftlich angewiesen war. Wirklich tolerant gegen die Juden waren selbst protestantische Fürsten nicht. Nur relativ wenige von ihnen waren wie z.B. der Große Kürfürst bereit, aus rein pragmatischen Erwägungen Juden und Kalvinisten ins Land zu lassen bzw. sogar zu rufen.90 Die Einsicht in die volkswirtschaftlichen Vorteile, die sich aus den wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden ergaben, überwogen in solchen Fällen in der Regel die Bedenken gegen sie. Wenn sich die Juden wie in den Niederlanden, in Polen, seit dem Großen Kurfürsten auch in der Mark Brandenburg eher als in anderen Ländern halten konnten, dann war das also nicht unbedingt Ausdruck menschlicher Toleranz oder gar christlicher Nächstenliebe.
Als Historiker muss man sich sehr davor hüten, geschichtliche Verhältnisse nur aus der Sicht der Normen- und Rechtssphäre zu betrachten. Sowohl aus jüdischer wie auch aus christlicher Sicht zeigt der Verlauf der mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte, dass verschiedene Herrscher und Regenten sich nicht bzw. nicht immer an die Beschlüsse der Päpste, Bischöfe und anderer Potentaten hielten und Juden sogar als Hoffaktoren, Minister, Berater und Sprachlehrer, nicht zuletzt auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter, einsetzten. Auch kleinere Herrschaften wollten bzw. konnten auf solche jüdische Experten nicht verzichten. Selbst Königin Christine von Schweden (1626-1689) behielt nach ihrer Abdankung und Konversion zum Katholizismus (1655) ihren jüdischen Hoffaktor bei. Sie feierte mit „ihrem Juden“ sogar im Jahre 1667 in Hamburg die Krönung von Clemens IX. zum römischen Papst.91 Diese wenig bekannte Episode legt nahe, dass es zumindest seit dem 17. Jahrhundert eine friedliche Koexistenz von Vatikan und europäischem Judentum gegeben hat. Vor allem die europäischen Eliten wussten nicht nur das wirtschaftliche Know-how, sondern auch das intellektuelle Niveau der Juden sowie deren Vertrautheit mit dem Alten und Neuen Testament zu schätzen.
Bei der Behandlung der Juden durch die europäischen Eliten gab es allerdings eine breite Skala: Getaufte Juden, Konvertiten, wurden anders behandelt als nicht getaufte, wohlhabende anders als arme Juden. Aus den rigiden Vorschriften des „Freisinger Rechtsbuches“, welche die rechtlichen Beziehungen zwischen Juden und Christen minimierten, könnte ein Historiker, der die rechtliche Normierung der sozialen Realität gleichsetzen würde, auf die Idee kommen, dass den Juden bereits im Hohen Mittelalter jeglicher Eintritt in die ‘bessere’ christliche Gesellschaft und der soziale Aufstieg völlig unmöglich geworden war.
Dieses „Freisinger Rechtsbuch“ von 1328, das sich auf den Bayerischen Landfrieden von 1300, das Augsburger Stadtrecht (1276/1281) und vor allem auf den Schwabenspiegel stützt, enthält „hauptsächlich Vorschriften über Diebstahl, Erbrecht und die Juden“. In diesem Buch mit insgesamt 278 Artikeln werden Juden in vielen Punkten mit Christen gleichbehandelt, z.B. im Fall von Totschlag. Wichtig erscheint mir die Bestimmung, dass Juden nicht zwangskonvertiert werden durften. Allerdings waren Konvertierte voll ins bürgerliche Leben integriert und es wurde von Seiten der Christen alles getan, z.B. durch Sammlungen in Kirchen, dass der getaufte Jude wegen „leiblicher Not“ nicht mehr ins Judentum zurückfalle.92 Bestimmungen zu den Juden finden sich auch in „Des Kaisers Buch“ im oberbayerischen Landrecht von Kaiser Ludwig dem Bayern aus dem Jahre 1346. Der Art. 184a über die Juden wurde seltsamerweise später aus den Handschriften getilgt.93 Er wurde wohl als zu judenfreundlich empfunden.
Auf eine wohl positive Bewertung der jüdischen Kultur durch die christliche Umgebung deutet die erstaunliche Tatsache hin, dass auf den Wappen adeliger Familien, die unverkennbar jüdische Namen tragen, im Raum Freising im 15. Jahrhundert jüdische Symbole auftauchen. Ob man daraus den Schluss ziehen kann, dass es sich um Familien jüdischer Provenienz handelt, lässt sich nicht mehr klären, ist aber in Anbetracht der noch im 9. und 10. Jahrhundert im Raum Freising vorkommenden alttestamentlichen Namen wahrscheinlich. Das Wappen der adeligen Familie der Jud von Bruckberg „zeigt einen bärtigen Judenkopf mit dem entsprechenden spitzen Hut. Auch der Grabstein des Paulus Jud von Bruckberg von 1475 in der Bruckberger Pfarrkirche enthält das gleiche Wappen“94. Das Wappen der Familie Jud ist in stilisierter Form in Apians Wappensammlung abgebildet.95 Die schönste Darstellung bietet das Allianzwappen der Herren Jud und Radlkofer. Dieses befindet sich als Malerei auf dem Vorsatzblatt eines Psalters der Dombibliothek Freising. Diese Inkunabel ist 1477/78 gedruckt worden und befand sich im Besitz des altbayerischen Adelsgeschlechtes der Herren von Bruckberg.96 Der spitze Judenhut befindet sich hier sowohl auf dem Wappenschild als auch oberhalb der Wappenkrone. Aus dem beigefügten Text geht hervor, dass es sich um die Jud von Bruckberg handelt. Der spitze Judenhut scheint jedoch ursprünglich im Raum Freising nichts Ehrenrühriges gewesen zu sein. Denn selbst im Moosburger Graduale, „das der Dekan Johannes Perkhauser zwischen 1354 und 1360 für die Stiftskirche St. Kastulus in Moosburg zusammengestellt hat“, trägt der bärtige heilige Joseph „einen spitzen Judenhut.“97
Auf dem Grabstein in der Abb. 3 (unten) segnet Jesus vom Kreuz aus mit erhobenen Händen zwei Ritter. Der zu seiner Linken ist der Jud von Bruckberg, deutlich an seinem Wappen mit dem jüdischen Spitzhut erkennbar, der zu seiner Rechten höchst wahrscheinlich ein knieender christlicher Ritter, der keine Kopfbedeckung trägt. Auch in der nicht weit entfernten romanischen Kirche von Ainau (wohl um 1230 errichtet), heute in der Stadt Geisenfeld gelegen, zeigt das Tympanon beim Kircheneingang „die Seelen in Abrahams Schoß umgeben von Propheten und überragt von Christus als ‘Maiestas domini’“.98 Auch hier steht Jesus in der Mitte.


Abb. 1 und 2: Wappen der Jud von Bruckberg im Psalter des Nicolas (de Lyra), im unteren Bild ein Ausschnitt

Abb. 3: Grabstein mit Wappen der Jud von Bruckberg an der Außenwand der Pfarrkirche Bruckberg, Foto Sommerer Geisenfeld
Neben den Bruckbergern taucht auch das Geschlecht derer von Judmann, ein Name, der unverkennbar jüdisch klingt, seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Raum Regensburg und in Oberbayern auf.99 Der erste uns bekannte Judmann ist Gerold Judmann von Reichertshausen im Landkreis Freising. Nach Auffassung von Strzewitzek stammt Gerold nicht aus dem Geschlecht der Judmann, sondern der Sippe der Waldecker.100 Wie aber ein Waldecker zum Namen Judmann kam, ist aber nach wie vor nicht ausreichend geklärt. Gerold war sogar Bischof von Freising. Schlecht soll er jedoch sein Bistum elf Jahre lang verwaltet haben, deshalb wurde er wohl auch außerhalb des Münsters (monasterium) in der Vorhalle begraben. Nahe beim Grabstein von Gerold von Judmann befindet sich auch derjenige des Domdekans Tolkner (nach Goerge Tolknar), gestorben 1397. Auf dem oberen Teil des Tolkner’schen Grabsteins sieht man in seinem Wappen eine Katze mit einer Maus im Maul. Dabei sollen nach Sighart „früher“, also vor 1859, noch folgende Zeilen zu lesen gewesen sein:
„So wahr die Katz die Maus nit frisst / Wird je ein Jud ein wahrer Christ.“101
Diese Inschrift richtet sich nicht generell gegen die Juden, sondern wohl gegen Konrad von Tolkner. Wahrscheinlich ist die Initiative zum Anbringen dieser Inschrift unten am Tolkner’schen Grabstein von Freunden und Verwandten des gedemütigten Gerold von Judmann ausgegangen. Die obigen Verse deuten unverkennbar eine jüdische Vergangenheit bzw. Herkunft von Tolkner an. Darin sahen wohl manche Mitglieder des Freisinger Domkapitels und der Freisinger Geistlichkeit eine Schwachstelle Tolkners. Zudem war ja allgemein bekannt, dass Tolkner Gerold von Judmann 1230 in Rom verklagt und dessen Absetzung wegen der Verschleuderung von Freisinger Kirchengütern bewirkt hatte. Dem Streit zwischen Gerold Judmann mit Konrad von Tolkner lag eventuell auch ein politisches Motiv zu Grunde. Denn Gerold hatte Freising von dem judenfreundlichen Herzog Ludwig dem Bayern, dem späteren Kaiser, zu Lehen genommen und damit die politische Autonomie des Hochstifts Freising in Frage gestellt. Am 29. Juli 1230 setzte ihn dann der Papst wegen schlechter Bistumsverwaltung ab. Kaiser Ludwig bestätigte dieses päpstliche Urteil, er wollte es sich nicht noch weiter mit der Kurie verderben. Gerold starb als Canonicus am 29. März 1231.102 Sein 1,93 Meter hoher Grabstein, mit einer lateinischen Inschrift versehen, befindet sich als eine in einen Pfeiler eingemauerte rechteckige rote Marmorplatte in der Pauluskapelle des Freisinger Domes.103 Dieser Grabstein von Gerold Judmann weist keine erkennbaren jüdischen Symbole auf. Von den Judmanns hört man dann lange nichts mehr. Wie aus dem Nichts tauchten Ende des 14. Jahrhunderts die Judmanns im bayerischen Adel auf und starben wie so viele Adelsgeschlechter im 15. Jahrhundert aus.
In der Urkunde vom 12.12.1421 werden eine Reihe von Adeligen genannt, welche den Münchner Herzogen Ernst etc. versprachen, sich für eine bestimmte Zeitdauer „aller Gewaltthat zu enthalten.“104 Dazu gehörten auch die Judmanns. Ein Henricus Judmann von „Staingriff“, wohl die Hofmark Steingriff im Landgericht Schrobenhausen, wird Anfang des 15. Jahrhunderts als Domherr und späterer Dekan (Dechant) zu Freising genannt.105 Der Grabstein des 1436 Verstorbenen befindet sich im Kreuzgang des Domes zu Freising. Zu Füßen von Heinrich Judmann ist dort „das Wappen der Judmann, nämlich in einem blauen rechten Schrägbalken drei weiße Judenmützen, zu sehen.“106 Die Judmanns waren keine adelige Randerscheinung, denn Ulrich Judmann (1377 urkundlich genannt) war der Schwager des Hanns von Preysing zu Kronwinkel107, einem Geschlecht, das im Herzogtum Bayern bis zum Ende des Alten Reiches wichtige Positionen am Hofe der Wittelsbacher einnahm. Mit seinem Enkel Hanns starb das Geschlecht der Judmanns 1497 aus.
In der Geschichte Iberiens und Südfrankreichs lassen sich Beispiele für den Aufstieg von Juden in den Adel und in die hohe Geistlichkeit nachweisen. Das wohl bekannteste Beispiel ist Christoph Columbus, der als Sohn eines Juden 1451 in Genua geboren und in Spanien geadelt wurde. Der Großinquisitor Torquemada hatte eine jüdische Großmutter. In diesem Sinne kann man auch für Bayern nicht ganz ausschließen, dass die Jud von Bruckberg und die von Judmann jüdische Wurzeln haben, die allerdings weiter zurückreichen könnten als bis zum 14. Jahrhundert.

Abb. 4: Oberer Teil der Grabplatte mit Inschrift von Henricus Judmann, Foto: Herr Sommerer Geisenfeld
Eine einmalige Erscheinung in der Judenpolitik des späten Mittelalters, einer Epoche, in welcher der Antijudaismus immer mehr zunahm, ist Ludwig der Bayer, der einzige bayerische Wittelsbacher auf dem Kaiserthron im Mittelalter. Er war auch der erste, der nicht vom Papst, sondern vom römischen Volk zum Kaiser proklamiert worden war.
Unter seiner Herrschaft entstand auch das Freisinger Rechtsbuch. Thomas Heinz hat Ludwigs Beziehungen zu den Juden für so wichtig erachtet, dass er dazu das umfangreiche Kapitel „Ludwig der Bayer und die Juden“ in seine Ludwig-Biographie eingebaut hat. Heinz zeigt hier, dass der Kaiser schon zu Beginn seines politischen Auftretens nicht nur den Landesfürsten, sondern auch dem in Avignon residierenden Papst gegenüber eine unzweideutige Haltung in der Behandlung der Juden an den Tag legte. Er schritt immer wieder massiv gegen marodierende Adels- und Bauernbanden, welche die Juden vor allem in Franken, im Rheinland und im Elsass verfolgten und ermordeten, ein. In Mandaten und Erlassen forderte er die Landesfürsten auf, Leib und Gut der Juden zu schützen. Den seit dem 14. Jahrhundert immer mehr um sich greifenden Klischees der Hostienschändung, Ritualmorde an Kindern und der Brunnenvergiftung durch Juden stand er äußerst ablehnend gegenüber. Absolut heftig war sein Eingreifen, als man in München die Leiche eines männlichen christlichen Knaben entdeckte. Die sog. öffentliche Meinung erklärte diesen Todesfall, ohne dass irgendwelche Beweise vorlagen, als jüdischen Ritualmord. Den Juden drohte daraus ein ähnliches Schicksal wie 1298 in Franken, als die dortige Rindfleischbande allein in Würzburg 900 Juden gelyncht haben soll. Kaiser Ludwig war über diese Anschuldigung und das Verhalten der Münchner Bürger den Juden gegenüber so empört, dass „er es gestattet habe, die Wallfahrer [die an den sog. Tatort gezogen waren und den toten Knaben als Martyrer verehrten] auszuplündern und zu verprügeln.“ Der Kaiser soll sogar den Befehl erteilt haben, „die an der Fundstelle der Leiche errichteten Buden sowie ein Kreuz niederzureißen und die Trümmer wegzuräumen.“ Ludwigs Chronist, der ansonsten dem Kaiser sehr positiv gegenüberstand, ließ sich auf Grund dieses Vorgehens gegen die Judenfeinde zu der Aussage hinreißen, dass der Kaiser „nicht im Einklang mit dem katholischen Glauben und der Gerechtigkeit gestanden hätte.“
Auch im Elsass schritt Ludwig gegen eine antijüdische Bande vor Colmar im Frühjahr 1338 ein. Diese Bande war nahe daran, die nach Colmar geflüchteten Juden umzubringen. Am 11. März 1338 entschied auf Antrag der Herzöge von Österreich (Vetter von Ludwig) das kaiserliche Hofgericht, „daß jedermann, der die unter deren Herrschaft stehenden Juden erschlagen habe oder daran eine Mitschuld trage, den Klägern mit Leib und Gut verfallen sei.“ Am 16. Mai 1338 wies Ludwig den Herrn Gerlach von Limburg und die Stadt Limburg an, „die von den benachbarten Herren und Bauern bedrängten Juden als des Reiches Kammerknechte zu schützen und wieder in die Stadt aufzunehmen.“ Die kaiserliche Protektion reichte aber nicht immer aus, die Juden gegen marodierende antijüdische Banden zu schützen. Besonders die „Judenschläger“ unter der Führung des „König der Armleder“ trieben ihr Unwesen und „rotteten im süddeutschen Raum viele jüdische Gemeinden gänzlich aus.“ Überlebende Juden sind unter anderem auch in die Schweiz und wohl auch in die Papststadt Avignon geflüchtet. In Zürich wurde ihnen nicht nur das Gast-, sondern oft sogar das Bürgerrecht gewährt.108
Kaiser Ludwig schützte nicht nur die deutschen Juden, sondern war auch bereit, die in England und Frankreich schlecht behandelten Juden als (steuerpflichtige) Kammerknechte in Deutschland aufzunehmen, und gestattete auch den Angehörigen des niederen Adels, kleinere Gruppen von ausländischen Juden anzusiedeln. Ludwig war in einem Maße Schutzherr der Juden im Reich, dass sogar seine Gemahlin ihm vorwarf, „sich als ein Freund der Juden zu verhalten.“ Noch weiter ging sein Sohn Ludwig, Markgraf von Brandenburg, der in seinem Vater „einen Feind der christlichen Religion“ gesehen haben soll. Kaiser Ludwig, der viele Jahre lang im Machtkampf gegen die Päpste von Avignon einen schweren Stand hatte, machte sich mit seinen judenfreundlichen Maßnahmen nicht nur bei Papst und Kirche, sondern auch beim ‘christlichen’ Volk verhasst und schwächte damit seine Machtbasis.109 Diese gerechte Behandlung der Juden hat sich auch nicht gerade positiv auf die Beurteilung des Kaisers in der (bis heute fortwirkenden) nationalen Geschichtsschreibung ausgewirkt. Für die Päpste von Avignon, welche dem Exkommunizierten die Absolution verweigerten, war er der Drache der Apokalypse, sein plötzlicher Tod bei der Jagd in den Wäldern von Fürstenfeld wurde auch als Gottesgericht gedeutet. Die Geistlichkeit in München verweigerte dem Toten darum auch eine würdige feierliche Bestattung, wie sie einem Kaiser zugestanden hätte. Wir dürfen davon ausgehen, dass sich gewiss noch weitere positive Beispiele bei näherem Nachforschen auf Seiten des deutschen Adels finden ließen. Auch Bürger und Bauern waren nicht immer und überall Feinde der Juden, wie die Beispiele der Rindfleisch- und Armlederbande um 1300 herum verdeutlichen.






