Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas

- -
- 100%
- +
Juden waren in ganz Europa bis weit in die Neuzeit hinein häufig Hof- und Hausärzte höchster Kreise. Es ist nicht zu übersehen, dass trotz der rigiden Bestimmungen des Laterankonzils, der oft judenfeindlichen regionalen Rechtsbücher und des Antijudaismus der Massen die kirchlichen und weltlichen Machthaber mit den Juden vielfach recht eng zusammenarbeiteten und letztere in der Regel unter ihren besonderen Schutz stellten. Diese soziale und wirtschaftliche Symbiose äußert sich unter anderem auch darin, dass betuchte Juden, z.B. jüdische Bankiers, bis weit in die Neuzeit hinein sehr häufig in unmittelbarer Nähe der Domkirchen lebten und unter dem Schutz des Bischofs standen.
Wenig bekannt und in der europäischen Forschung kaum beachtet ist die erstaunliche Tatsache, dass die Juden mehr als in allen anderen europäischen Staaten in Italien „am relativ ruhigsten und sichersten leben konnten.“ Natürlich gab es auch in Italien und von Seiten des Vatikans Verordnungen und Erlasse, die sich gegen die Juden richteten. Auch in Italien und Rom wurden die Juden in Gettos, oft auch eine Schutzmaßnahme, eingeschlossen, „aber oft existierten diese Bestimmungen nur in der Theorie und wurden nicht oder kaum in die Praxis umgesetzt.“110 Wie wenig es berechtigt ist, von einem judenfeindlichen Vatikan zu sprechen, zeigt die Tatsache, dass immer wieder Männer jüdischer Herkunft als Päpste gewählt werden konnten. So wurde Pietro Pierleoni, der um 1090 in Rom zum Christentum konvertierte, 1116 Kardinal, 1121 päpstlicher Legat in England und Frankreich und 1130 als Anaklet II. sogar Papst.111
Wenig bekannt ist auch die Tatsache, dass neben dem Osmanischen Reich der Vatikan gegen den ausdrücklichen Rat der jüdischen Gemeinde von Rom den größten Teil der aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderts vertriebenen Juden aufnahm.112 Ein jüdisches Ghetto, „Il Ghetto“, wurde in Rom südlich des Largo Argentina auf Veranlassung von Papst Paul IV. erstaunlicherweise erst im Jahre 1555 eingerichtet. Reiseführer deuten dieses römische Ghetto (und überhaupt die jüdischen Ghettos in Europa) allzu simplifizierend als Zeichen eines seit dem späten Mittelalter wachsenden Antijudaismus und die römischen Juden als „Opfer päpstlicher Willkürherrschaft.“113 Dazu scheint auch der seit dem 15. Jahrhundert überlieferte Nacktlauf der Juden inkl. deren Verunglimpfung (sogar im Winter) durch die römische Masse gut zu passen. Es gab wohl auch in Rom unsoziale Gepflogenheiten, denen sich nicht einmal der Papst entziehen konnte. Auch in Rom war es eine ‘bewährte’ Methode, dass die Volksmasse bei gewissen Gelegenheiten ihren Zorn und Frust an den Juden als Sündenböcken ablassen durfte. Übertreibungen und Eskalationen wurden allerdings durch den Papst sanktioniert.
Die wachsenden Ressentiments gegen die Juden gingen also im Fall von Rom nicht vom Vatikan und der römischen Elite aus, sondern wohl eher von der großen Masse des Volkes. Warum hätte der Vatikan so viele vertriebene spanische Juden in Rom und im Vatikanstaat aufnehmen und willkommen heißen sollen, nur um sie dann in Ghettos zu diskriminieren? So eine Betrachtungsweise wäre fern jeglicher Logik.
Die Klimaverschlechterung des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit führte in Verbindung mit den negativen Auswirkungen des Frühkapitalismus zu erheblichen Preissteigerungen der Lebensmittel und Grundbedürfnisse114 und wohl auch zu einer massiven Verschlechterung der Einkommens- und Vermögensverteilung der breiten Volksmassen. Das frühkapitalistische Wachstum (Bergbau- und Großhandelsgesellschaften) kam ebenso wie die Globalisierung des 21. Jahrhunderts nicht einmal in Rom (von anderen Regionen ganz zu schweigen) der großen Masse des Volkes zu gute. Die wachsende „antikapitalistische Bewegung in Deutschland“115 ist ohne steigende Massenarmut nicht erklärbar. Die Masse der Menschen sah darum auch hier die Schuld bei den Juden.
Es ging aber auch anders. Im Bereich der bürgerlichen Alltagskultur finden wir z.B. seit dem 16. Jahrhundert in Franken erfreuliche Formen des Zusammenlebens und –wirkens zwischen Christen und Juden, welche vielfach den Rang von Bürgern hatten. So hatten in manchen fränkischen Orten Juden wie Christen die Pflicht zur Tag- und Nachtwache. An manchen Orten Frankens mussten sie sogar am gemeinen Rügegericht mitwirken. Die Gemeinde Forth bei Erlangen bestand aus „Juden und Christen“. Es gab sogar einen eigenen Judenschultheiß im Dorf, der die Rechte und Belange der Juden gegenüber der Obrigkeit zu vertreten und sich um den Schutz der Juden gegen Angriffe von Nichtjuden zu kümmern hatte. In größeren Fürstentümern war der Judenschutz eine Angelegenheit der Landesfürsten. Dieser Judenschutz konnte sogar wie ein Nutzungsrecht an andere Fürsten übertragen werden.116
Bei der kommunalen Rechnungslegung feierten Juden und Christen gemeinsam.117 „In Biebelried (Franken) erhielt 1556 ein Jude (sogar) das Amt des Försters.“118 Auch in einigen Gemeinden von Schwaben „hatten die Juden vollen Anteil an den Gemeindegütern und den Nutzungen.“119 Wie stark nicht nur das städtische (Fürth, Nürnberg, Würzburg etc.), sondern auch das Landjudentum in Franken die fränkische Kulturlandschaft prägte, zeigen die neueren Forschungen der Arabistin Frau Rajaa Nadler im oberfränkischen Ermreuth. Sie zeigt, dass es in Franken nicht nur Antijudaismus und Antisemitismus von Seiten der christlichen Bevölkerung gab (und auch heute noch gibt), sondern dass es immer wieder Epochen eines harmonischen und toleranten Zusammenlebens gab.120
Neben den drei fränkischen Regierungsbezirken war in Nordbayern das wittelsbachische Fürstentum Pfalz-Sulzbach ein weiteres Territorium, in welchem der Landesfürst bereits ab 1666 den Juden ein dauerndes Aufenthaltsrecht mit weitreichenden Freiheiten auch im wirtschaftlichen Bereich gewährte. So konnte sich die Stadt Sulzbach zu einem der größten Druckorte für hebräische Literatur in ganz Europa entwickeln. Es war auch ein bevorzugter Standort für lutherische, reformierte und katholische Drucker. Die Angehörigen der drei christlichen Konfessionen und die Juden konnten hier in Frieden und Wohlstand zusammenleben. Mit dem sog. Simultaneum, einem Toleranzedikt für die christlichen Konfessionen, hatte Christian August von Sulzbach bereits wenige Jahre nach dem 30jährigen Krieg neue Maßstäbe der Religionspolitik gesetzt. Unter solchen in Europa bisher nur wenig bekannten Voraussetzungen konnte sich die Sulzbacher Residenz zu einem europäischen Geisteszentrum entwickeln. Seit 1668 trug zudem das Wirken des Universalgelehrten und Literaten Christian Knorr von Rosenroth zu einer weiteren Belebung des Sulzbacher Musenhofes bei. Er „übersetzte zahlreiche Werke der Frühaufklärung ins Deutsche“ und die hebräische Kabbala ins Lateinische. Mit dem Sulzbacher Musenhof standen so bedeutende Gelehrte wie der Philosoph Leibniz und Franciscus Mercurius, der Alchemist, Kabbalist, Theosoph, Arzt, Rosenkreuzer in einer Person war, in reger Verbindung.121 Mercurius war seit 1677 Quäker und wie sein Freund Knorr von Rosenroth ein guter Kenner der hebräischen Sprache und der jüdischen Kultur. Bei der Ansammlung von so viel Geist verwundert es nicht, dass sich die hebräischen Druckereien als besonderer Ausdruck des jüdischen Kulturlebens in Sulzbach trotz der seit dem frühen 19. Jahrhundert wachsenden „Deutschtümelei“ bis 1851 in Sulzbach halten konnten.
Diese Deutschtümelei, deren „infantilen Extremismus“122 bereits Heinrich Heine verachtete, nahm erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders nach der Gründung des Deutschen Reiches, extreme Ausmaße an und schlug immer mehr in einen rassistisch geprägten Antisemitismus um. In der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution von 1848 war jedoch das Zusammenleben zwischen Christen und Juden noch nicht so stark vergiftet und in manchen Gegenden Deutschlands noch durchaus erträglich. Es gab allerdings schon vor 1848 Theaterstücke wie „Die Judenschule“ und „Unser Verkehr“ wie auch ‘historische’ Abhandlungen, in denen Juden offen verhöhnt wurden. Im „Judenspiegel“ von 1819 war die Tötung eines Juden keine Sünde und kein Verbrechen, sondern nur ein „Polizeivergehen“.123 Der latente Antijudaismus konnte jedoch bei besonderen Gelegenheiten auch vor 1848 immer wieder wie eine Pest offen ausbrechen. Selbst in einer so weltoffenen und toleranten ‘englischen’ Stadt124 wie Hamburg, in der seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert Juden und Christen – Heinrich Heine bezeichnet die Hamburger Christen als „getaufte Juden“, die Hamburger Juden als „ungetaufte Juden“ – harmonisch zusammen lebten und Geschäfte betrieben, machte in der sog. Juli-Revolution von 1830 „der Pöbel in den Straßen Jagd auf Juden oder warf ihnen die Fenster ein, wenn sie am Abend Licht zu machen wagten. Viele Häuser wurden demoliert.“ Das Haus des in Hamburg höchst beliebten Kaufmanns Salomon Heine, Onkel und Finanzier von Heinrich Heine, am Jungfernstieg „entging gerade noch einem Steinhagel“.125 Solcher Antijudaismus gewann immer mehr Raum in einer Zeit, als sich Juden in allzu leichtfertigem Verzicht auf ihre Tradition allzu schnell an die deutsche Kultur assimilierten. Juden wurden damals verhöhnt, nicht weil sie ihre jüdische Tradition pflegten, sondern weil sie als „sterile[n] Mischlinge aus Deutschtum und Judentum“ (Heine) ihre Tradition vergaßen und die allen Juden gemeinsame Tora verleugneten.126 Tora bedeutet wörtlich die von Gott ausgehende „Weisung“.
Das in manchen Regionen wie z.B. im katholischen Rheinland noch sehr harmonische Zusammenleben von Christen und Juden im sog. Vormärz äußerte sich auch im Bildungswesen. Am Düsseldorfer Lyzeum hatte z.B. Heinrich Heine (1797-1856) „viele katholische Priester, unter ihnen auch einige Jesuiten“127 als Lehrer. Hier legte Heinrich Heine den Grundstock für seine spätere Einstellung zum Katholizismus:
„Ich habe eigentlich immer eine Vorliebe für den Katholizismus gehabt, die aus meiner Jugend herstammt und mir durch die Liebenswürdigkeit katholischer Geistlicher eingeflößt ist.“
Das Verhältnis von Harry Heine und seiner Familie zum Katholizismus nahm in Düsseldorf sogar groteske Züge an. Die Familie von Heinrich Heine wohnte in Düsseldorf in einem Haus, dessen Bewohner nach altem Herkommen bei Prozessionen einen katholischen Altar vor dem Haus zu errichten und zu schmücken hatten. Vater Samson Heine „setzte seinen Stolz darein, diesen Altar so kostbar wie möglich zu machen; und der junge Harry wirkte freudig mit“128. Dort nahm er die „katholische Humanität“ als wichtigen Bestandteil seines Lebens in sich auf. Aus der Sicht der von ihm in Düsseldorf genossenen katholischen Erziehung waren für ihn „Freisinnigkeit und Katholizismus“129 keine Gegensätze. Sein offenes Bekenntnis zum Judentum war für den offiziell zum Protestantismus konvertierten Heine kein Hindernis, sich in der Kirche St. Sulpice in Paris mit seiner Crescentia Mathilde, geb. Mirat, katholisch trauen zu lassen.130 Sie konnte bei ihm ungehindert ihren Glauben praktizieren. Seine Liebe zur katholischen Mathilde war, wie es bei König Salomo heißt, „stark wie der Tod.“ Es gibt also nicht nur eine christliche Toleranz den Juden, sondern auch eine jüdische Toleranz Christen gegenüber. Heinrich Heine und seine Liebe zur katholischen Mathilde ist nur ein Beispiel unter vielen.
Die in diesem Kapitel dargestellten positiven Beispiele christlicher und jüdischer Toleranz dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Antijudaismus und -semitismus diese positiven Ansätze einer jüdisch-christlichen Symbiose immer wieder und im 19. und 20. Jahrhundert in wachsendem Maße in den Schatten stellten.
Christen und Moslems –Toleranz der Konfessionen?
Das vorchristlich-archaisch-orientalische Fundament von Christentum und Islam wird allerdings sehr deutlich in der wohl keltisch geprägten Parzivalsgeschichte des Dichters Wolfram von Eschenbach gelegt. Wolfram, vor 1200 geboren, nach 1217 gestorben und in der Deutschordenspfarrkirche von Wolframs-Eschenbach begraben (durch verschiedene Umbaumaßnahmen seit dem 17. Jahrhundert soll sein Grab verloren gegangen sein), stammt aus einer leider nur bis ins 16. Jahrhundert nachweisbaren Ministerialenfamilie. Die exakten geographischen Beschreibungen französischer Orte in seinen drei Epen Willehalm (blieb ein Fragment), Titurel und Parsifal erwecken den Eindruck, als ob er in den fränkischen Landen, deren Hauptteil ja damals Frankreich ausmachte, viel herumgekommen und dabei auch persönlich mit Moslems in Kontakt gekommen ist. Vielleicht hat der 1190 in Palästina gegründete Deutsche Ritterorden, der durch die Schenkung der Kirche „mit allen Pertinenzien“ durch Graf Boppo II. von Wertheim um 1212/1220 erstmals in Eschenbach Fuß fasste, seine Epen angeregt und sein dichterisches Schaffen unterstützt.131 Natürlich ist auch eine Unterstützung des Dichters durch den Templerorden, welcher in besonderem Maße ein westfränkischer Orden war, nicht auszuschließen. Nachweise dafür haben sich weder für die Deutschordensherren noch für die Templer erhalten.
Der fränkische Minnesänger schildert in seinem Epos „Willehalm“ auch die Auseinandersetzung zwischen den Franken und anderen Völkern, zu denen auch die iberischen Moslems gehören. Der Kampf zwischen den beiden feindlichen Brüdern Parzival und Feirefiz, der erste ein Christ, der zweite ein Moslem, steht modellhaft für die Rivalität von Christen und Muslimen im Mittelalter. Feirefiz Mutter war eine „schwarze Königin“ in Nordafrika. Parzival und Feirefiz waren die Söhne des Gahmurets von Anjou. Vorfahre von Gahmuret und Stammvater des Hauses Anjou soll ein gewisser Mazaran sein, ein semitischer Name. Noch heute ist Mazaran ein Vorort von Algier, der Hauptstadt von Algerien, Mazar eine größere Stadt in Afghanistan.

Abb. 5: Fotografie der Altstadt von Wolframs-Eschenbach durch Hermine Kaltenstadler am 12.10.2008, im Hintergrund die Pfarrkirche
Gahmurets beide Söhne hatten aber verschiedene Mütter und wuchsen nicht gemeinsam auf. Gahmuret stand in den Diensten des moslemischen Kalifen von Bagdad, im Kampf für seinen Freund und Kriegsherrn fand er auch von der Hand eines Sarazenen den Tod.132
Die erste Begegnung zwischen Parzival und Feirefiz erfolgte im Kampf und war eine feindliche. Dieses Aufeinandertreffen der beiden Halbbrüder kann ebenso wenig wie der Dienst eines christlichen Ritters für einen moslemischen Kriegsherrn ein bloßes Produkt der dichterischen Phantasie sein. Auch wenn die von Wolfram geschilderten Details Ausschmückungen des Dichters sein mögen, deuten diese Episoden darauf hin, dass es auch außerhalb des moslemischen Spaniens nicht nur feindliche Kontakte zwischen Moslems und Christen gegeben hat.133 Die Ehe zwischen dem Christen Willehalm und der hochgebildeten Arabel beweist das.134 Für die Figur des Willehalm bei Wolfram v. Eschenbach hat wohl der heilige Wilhelm, ein Graf von Toulouse (+ 812), Modell gestanden. Wilhelm der Heilige „war ein Verwandter Karls des Großen und eroberte das muslimische Barcelona, das zum Hauptort der spanischen Mark des Frankenreiches wurde.“135 Wilhelm von Aquitanien, wie er offiziell hieß, zog sich 806 in ein Kloster zurück und soll im Jahre 1066 offiziell heiliggesprochen worden sein. Karl der Große wurde dagegen wie viele andere ‘Heilige’, z.B. die „Heiligen Dreikönige“, nie heilig gesprochen.136
Der Wolfram’sche Willehalm, der „christliche Protagonist“, lernte Arabel als Kriegsgefangener in dem Lande „Arabi“ kennen, wo sie bereits mit dem heidnischen König Tybalt (der Name klingt eher germanisch) verheiratet war. Über die Liebe zu Willehalm findet sie den Weg zum Christentum und nimmt in der Taufe den Namen „Gyburc“ an:
„Willehalm besetzt Tybalts Land in der Provence und gründet dort seine Grafschaft Orange. Tybalt zieht daraufhin mit seinem Schwiegervater und einem riesigen heidnischen Heer gegen Willehalm in den Krieg. Was als Minnefehde um Gyburc beginnt, wächst sich im Verlauf der Handlung zu einem mächtigen Glaubenskrieg aus, in dem sich Gyburc mehrmals standhaft weigert, ihren neuen Glauben aufzugeben, und vehement ihre Religion und ihre Liebe zu Willehalm verteidigt.“137
Dieser Konflikt zwischen dem Christen Willehalm und dem Muslim Tybalt, dem ersten Ehemann von Arabel, spricht nicht für ein harmonisches Zusammenleben von Christen und Muslimen im frühen Mittelalter. Minnefehde und Glaubenskrieg sind in dieser Auseinandersetzung untrennbar miteinander verbunden. Die leider wenig bekannte „Toleranzrede“ der Arabel/Gyburc vor dem imaginären Fürstenrat macht deutlich, dass die Liebesgeschichte von Willehalm und Arabel entweder eine freie Erfindung des Dichters ist oder von ihm in einer sehr idealisierten die Realität überhöhenden Weise wiedergegeben wird. Historisch ist, zumindest nach Auffassung des Germanisten Werner Greub, dass der fränkische Gaufürst Willehalm zwei Schlachten gegen die Muslime in Südfrankreich mit Erfolg geschlagen hat. Ob allerdings die Arabel die oben schon erwähnte Toleranzrede vor einer Schlacht je gehalten hat und ob ihr Appell an die fränkischen Männer, „im Falle eines Sieges über die Heiden diese gnädig zu behandeln, da auch Heiden Geschöpfe Gottes seien“,138 jemals erfolgte, ist höchst unwahrscheinlich. Gerade diese wohl nicht historische Toleranzrede, in welcher eine konvertierte Christin um Schonung für die Muslime bittet, zeigt aber, dass die Idee der religiösen Toleranz im Mittelalter durchaus existierte, aber in der Zeit der „Reconquista“ und der Kreuzzüge, sowohl auf der christlichen als auch islamischen Seite, im Laufe des hohen Mittelalters immer mehr verloren ging.
Aus dieser Sicht der Dinge muss man das Happy End der feindlichen Brüder, des christlichen Parsifal und des muslimischen Feirefiz, in Wolframs Epos „Parsifal“ relativieren. Nachdem Parzival seine letzte Prüfung bestanden hatte und Mitglied der Tafelrunde von König Artus geworden war, wählte er seinen moslemischen Bruder zum Lebensgefährten im Dienste des Grals. Wie Arabel kam auch Feirefiz nicht darum herum, sich dem Christentum zuzuwenden. Verbrüderung und Konversion von Feirefiz gingen also Hand in Hand. In welcher Form diese Verbrüderung erfolgte, geht aus dem Epos von Wolfram von Eschenbach nicht hervor. Es wäre aber denkbar, dass der neue Bund zwischen den beiden Brüdern als Blutsverbrüderung geschlossen worden war. Diese Form des Lebensbundes war als prägendes Element der feudalistischen Clan-Gesellschaft ebenso wie die Blutrache auf dem Balkan und den griechischen Inseln noch bis ins 19. Jahrhundert hinein (in abgelegenen Regionen sogar noch heute) praktiziert worden.139 Blutrache und Blutsbruderschaft sind deutlich erkennbar Ausdruck einer archaischen Gesellschaft, in welcher noch heute auf dem Balkan die Ehre einen sehr hohen Stellenwert genießt.
Wolfram von Eschenbach schildert Feirefiz, den Moslem, als gleich edlen Charakter wie Parzival. „Offenkundig stellt er ihn, den Nichtchristen, ganz bewusst über die Mehrheit der christlichen Ritterschaft“140. Die Wiedervereinigung von Christentum und Islam, welche sich beide auf den Stammvater Abraham141 berufen, wird dann später auf geistig-ideeller Ebene durch den sagenhaften Priester Johannes von Jerusalem vollendet. Wolframs „König der Könige“ vereinigt „in seinem mit dem Paradies vergleichbaren Reich, in dem Christen und Muslime gleichermaßen vertreten sind, sowohl weltliche Macht als auch geistige Autorität und wird damit letztlich zum Symbol für den ‘Weltkönig’.“142 Mir scheint, dass der Dichter in dieser zentralen Botschaft der Parzivalsgeschichte mehr sah als eine zu Herzen gehende „Story“.143 Er hat wohl auch Moslems persönlich kennen gelernt und daran geglaubt, dass die Unterschiede zwischen Christen und Moslems nicht unüberwindlich waren. Diese Geschichte zeigt aber auch, dass in der Zeit des Dichters das alte vorchristliche Weltbild wohl nicht nur die christliche, sondern auch die islamische Kultur geprägt haben muss, so dass dogmatische Differenzen entweder kaum vorhanden waren oder nicht als unüberwindbar betrachtet wurden. Das verdeutlicht ja auch die Geschichte, dass nach dem Eindringen der Araber in Südspanien zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Moschee von Granada mit ausdrücklicher Erlaubnis des Sultans 20 Jahre lang von Moslems und Christen als gemeinsames Gotteshaus genutzt wurde und der Sultan, nachdem dieses für beide Konfessionen zu klein geworden war, den (wohl arianischen) Christen reichlich Kapital und Unterstützung für den Bau einer eigenen christlichen Kirche zur Verfügung stellte.144
Die beiden einstmals feindlichen Brüder Parsifal und Feirefiz, die sich zum gemeinsamen Wirken die Hände reichen, verkörpern im Epos von Wolfram von Eschenbach im Grunde nicht nur zwei unterschiedliche Religionen, sondern auch den Okzident und den Orient, also die westliche und die östliche Kultur. Diese Verbrüderung der beiden steht für die mögliche Koexistenz in Toleranz, der Krieg zwischen Willehalm und Tybalt für die Konfrontation zwischen Christentum und Islam. Wolfram schildert in seinen beiden Epen „Willehalm“ und „Parsifal“ beide Wege und steht dem Islam erstaunlich positiv gegenüber. Eine solche Einstellung war wohl im 12. Jahrhundert, als Wolfram seine Epen verfasste, schon damals nicht mehr allgemein üblich.
Es gab also wohl im Hochmittelalter ein religiös-geistiges Klima, welches ein relativ friedliches harmonisches Zusammenleben zwischen Christen, Moslems und Juden – wie am Hofe des staufischen Kaisers Friedrich II. im Königreich Sizilien – möglich gemacht hätte. Die Leitung der katholischen Kirche war allerdings an einer Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der Juden und Muslime nicht interessiert. Die Päpste machten den christlichen Herrschern, welche die Kultur der Muslime tolerierten und kriegerische Auseinandersetzungen mit ihnen vermieden, die Hölle weiß. Die freundschaftlichen Beziehungen von Kaiser Friedrich II. zum muslimischen Sultan al-Kamil und seine offen zur Schau getragene Vorliebe für arabisch-orientalische Lebensformen erschienen Papst Gregor IX. (Papst von 1227-1241) als so ungeheuerlich, dass er diesen nicht nur zweimal mit dem Kirchenbann belegte, sondern ihn öffentlich als Antichrist deklarierte.145 Sein Nachfolger Innozenz IV. (Papst 1243-1254) konnte sich rühmen, dass er „den Drachen Friedrich zu Boden streckte“.146 Weder Gregor IX. noch Innozenz IV. orientierte sich an den Prinzipien des Neuen Testamentes.
Es gab Tendenzen religiöser und geistiger Erstarrung nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei den Moslems, welche die zarten Ansätze religiöser Toleranz147, wie sie auf der iberisch-sephardischen Halbinsel für einige Jahrhunderte sichtbar geworden waren, wieder zum Ersticken brachten. Wolframs Welt- und Menschenbild war anders als die Machtpolitik des Hohen Mittelalters auch vom Islam geprägt und reichte weit über das katholische Weltbild hinaus.148 Doch diese große Idee des Mittelalters scheiterte vor allem am unseligen Machtstreben des Papsttums und einiger sog. christlicher Mächte, welche das Christentum für ihre Zwecke einspannten und missbrauchten. Der Fanatismus des römischen Papstes scheute nicht einmal davor zurück, ab 1250 alle (wirklichen und vermeintlichen) arabischen Spiele, auch das Schachspiel, zu verbieten. Dieses wohl nie wirklich durchgesetzte Verbot war vielleicht „eine Reaktion auf den Stauferkaiser Friedrich II., der nur zu interessiert war an arabischer Kunst und Wissenschaft.“149
Mit dem Antiislamismus und Antijudaismus nach innen, oft mehr Ideologie als Praxis, korrespondierte die Ablehnung der orthodoxen Christen durch die sog. westlichen Christen nach außen. Diese westliche Antiorthodoxie trieb vor allem während der Kreuzzüge besondere Blüten. So führte der 4. Kreuzzug (1202-1204) unter Leitung des venezianischen Dogen Dandolo zur Errichtung des sog. lateinischen Kaisertums im christlichorthodoxen Konstantinopel. Die Kreuzfahrer plünderten dabei die Stadt, vergewaltigten Frauen und verübten noch weitere Gewalttaten gegenüber den orthodoxen Christen. Die massiven Wirtschaftsinteressen der venezianischen Kaufleute und anderer europäischer Machte genossen höhere Priorität als christliche Ideen.
Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen stellten die Malteserritter auf Rhodos und Malta dar, welche dort den Glauben der orthodoxen Christen, zumindest nachweisbar seit dem 14. Jahrhundert, tolerierten. Der maltesische Großmeister förderte die religiöse Eigenständigkeit der Orthodoxie sogar, „ohne aber eine gewisse Kontrolle aufzugeben.“ So verwundert es nicht, dass die orthodoxen Griechen „den Malteserorden als Protektor ansahen“. Die Toleranz des Ordens ersteckte sich auf Malta und Rhodos auch auf die Gerichtsgebräuche. Die Kreuzfahrer, welche auf der Insel Zypern Fuß fassten, hielten nicht so viel von Toleranz. Zeitweise verboten die Herren von Zypern sogar die orthodoxe Kirche, was immer wieder zu Erhebungen gegen die westlichen Gewaltherrscher führte. Diese westliche Herrschaft scheint als so drückend empfunden worden zu sein, dass die Zyprioten nach der Eroberung von Zypern durch die Osmanen zunächst die osmanische Herrschaft begrüßten, „unter der sie ihre Religion wieder frei ausüben durften.“150 Anders verhielten sich die Rhodier. Diese verließen bei der Invasion der Türken mit ihrem ehemaligen Landesherrn die Insel, „obgleich sich die Eroberer verpflichtet hatten, die Religionsfreiheit zu achten.“151 Die Malteser hatten nämlich dort ein sehr humanes Strafrecht praktiziert. Der Rechtshistoriker Barz weist ausdrücklich auf die „Milde im rhodischen Strafrecht“ und auf die Tatsache hin, dass die in der gerichtlichen Praxis gefällten Urteile übrigens auch in Mitteleuropa milder waren als die in den diversen Strafgesetzen festgelegten Normen. Als Beispiel diene die Gerichtspraxis in Ingelheim am Rhein im Spätmittelalter.152